Suchttherapie 2003; 4(3): 159-162
DOI: 10.1055/s-2003-42226
Versorgung aktuell
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Möglichkeiten und Grenzen des Deutschen Kerndatensatzes (KDS) der Suchtkrankenhilfe

Potentialities and Limitations of the German Guideline for Documentation (KDS) in Treatment Facilities for Substance AbuseJens Kalke1 , Peter Raschke1 , Marcus-Sebastian Martens1
  • 1ISD C/O ZIS, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
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Jens Kalke

ISD c/o ZIS, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Martinistr. 52

20246 Hamburg

Email: KalkeJ@aol.com

Publication History

Publication Date:
22 September 2003 (online)

Table of Contents

Die Autoren betreuen Dokumentationsprojekte in der ambulanten Suchthilfe auf der Länderebene (u. a. Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen, Hessen). Vor diesem fachlichen Hintergrund sind die folgenden kritischen Bemerkungen zum Deutschen Kerndatensatz entstanden. Dabei haben wir immer wieder festgestellt, dass die Frage nach dem Für und Wider des KDS auch ein Dreh- und Angelpunkt bei der gesamten Diskussion um die Weiterentwicklung der EDV-gestützten Dokumentation ist. Was wird dokumentiert, was an andere weitergegeben, welche Daten brauchen die Förderer und welche Informationen sind notwendig, um die Effektivität der Hilfen einschätzen zu können? Eine Beschränkung der Dokumentation auf den KDS würde kein umfassendes Dokumentationssystem in Sinne einer „elektronischen Handakte” erfordern, aber ein Verzicht auf diese würde die Erkenntnismöglichkeiten mithilfe einer modernen Dokumentationsweise völlig unausgeschöpft lassen [1]. Deshalb hat der KDS nicht nur eine Bedeutung für die nationale Suchthilfestatistik, sondern auch eine hohe praktische Relevanz, was die zukünftige Weiterentwicklung und professionelle Standardisierung der EDV-gestützten Dokumentation in Deutschland insgesamt anbelangt.

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Zur Bedeutung und Verwendung des Kerndatensatzes

Mit dem Deutschen Kerndatensatz (KDS) soll eine einheitliche Dokumentation von Grundangaben über suchtkranke Personen und ihre Behandlungen in Deutschland erfolgen. Das gilt sowohl für den ambulanten als auch für den stationären Bereich. Der KDS ist eine der empirischen Grundlagen für die Erstellung der nationalen Suchthilfestatistik [2]; eine Teilmenge fließt in die europäische Drogenberichterstattung mit ein. Etwa 40-50 % aller Einrichtungen liefern Daten gemäß des KDS für die nationale Suchthilfestatistik.

Der Deutsche Kerndatensatz wurde 1998 veröffentlicht. Er wurde im Rahmen eines Konsensprozesses im Fachausschuss Statistik[1] bei der Deutschen Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (DHS) entwickelt und verabschiedet [3]. Er stellt den kleinsten gemeinsamen Nenner der verschiedenen Interessen in Deutschland dar [2]. Der KDS teilt sich in einen Datenbogen Klienten (KDS-K) und in einen Datenbogen Einrichtung (KDS-E) [3]. Im zweitgenannten werden Strukturangaben zur Einrichtung erhoben (u. a. Einrichtungstyp, Anzahl der Mitarbeiter).

Der KDS-K - um den es in diesem Beitrag ausschließlich gehen wird (er wird deshalb im Folgenden als KDS bezeichnet) - basiert vor allem auf dem EBIS-Datensatz, den es schon seit den 80er-Jahren gibt und der immer wieder fortgeschrieben wurde. Auch die Definitionen wurden aus den entsprechenden EBIS-Handbüchern übernommen. Es gibt aber auch einzelne Items, die aus anderen Datensätzen, z. B. DESTAS, stammen.Eine Teilmenge des KDS ist Grundlage der Aggregatdaten, welche die Deutsche Referenzstelle für die Europäische Beobachtungsstelle (DBDD) sammelt und an die EBDD für den Europäischen Kerndatensatz weitergibt („Treatment Demand Indicator”) [1].

Der KDS besteht aus einer Beschreibung des Status quo bei Aufnahme (u. a. Behandlungsvorgeschichte, Lebenssituation, Erwerbstätigkeit), einem Diagnoseteil (ICD-10), kurzen Angaben zur Betreuung (Art der Betreuung, Terminanzahl) und einer knappen Beschreibung des Betreuungsabschlusses sowie der Situation zum Betreuungsende (siehe Tab. [1]).

Tab. 1 Dokumentationsbereiche des Deutschen Kerndatensatzes (Klienten)
Dokumentationsbereiche
AufnahmeICD-10-DiagnosenBetreuungAbschlussSituation bei Betreuungsende
Datum BetreuungsbeginnHauptdiagnoseKontaktzahlEntlassungsdatumKonsum/Abhängigkeit
Vermittlung (woher)Diagnose SuchtArt der BetreuungArt der Beendigungberufliche Integration
Kosten-/LeistungsträgerArt des Konsumsggf. ergänzende Betreuungggf. WeitervermittlungPartnerbeziehung
gesetzliche Grundlagenjemals i. v. KonsumWohnsituation
BehandlungsvorgeschichteHäufigkeit des Konsums
Alter bei BetreuungsbeginnAlter bei Erstkonsum
Geschlechtpsychiatrische Diagnosen
Familienstandneurologische Diagnosen
Partnerbeziehungandere Diagnosen
Lebenssituation
Staatsangehörigkeit
Wohnsituation
Schulabschluss
Erwerbstätigkeit

Die verbreiteten EDV-Dokumentationssysteme (z. B. EBIS, HORIZONT, PATFAK) beinhalten zwar in ihren Dokumentationskatalogen den Kerndatensatz, gehen aber in ihren Dokumentationsmöglichkeiten weit darüber hinaus. Dies betrifft die Angaben zur Biografie, die komplexer und vollständiger dokumentiert werden können, das Festhalten der erbrachten Leistungen und den Verlauf der Behandlung. Darüber hinaus sind einige Systeme so funktionalisiert worden, dass sie als Arbeitsinstrument in der Alltagspraxis eingesetzt werden können und tendenziell die Handakte ersetzen. Insofern besteht häufig eine Diskrepanz in der einrichtungsbezogenen Dokumentation und dem Umfang weitervermittelter Daten. Ginge es nur um den KDS, so könnten diese Informationen in Form einfacher Tabellen dokumentiert werden, insbesondere dann, wenn nur aggregierte Daten weitergegeben werden sollen.

Das Bemühen um einheitliche Datensätze auf der nationalen und europäischen Ebene ist positiv zu bewerten. Gemessen an den unterschiedlichen Interessen der Fachverbände und der föderalen Vielfalt bei den Hilfesystemen kann es schon als Erfolg angesehen werden, dass es überhaupt gelungen ist, sich auf einen nationalen Datensatz zu verständigen, der darüber hinaus auch europäische Erfordernisse berücksichtigt. Mit dem KDS können Grundaussagen zur Situation behandelter Suchtkranker getroffen, Veränderungen der Klientel über die Jahre hinweg abgebildet und Daten für Vergleiche (z. B. West- und Ostdeutschland, Staaten der EU) zur Verfügung gestellt werden. Damit sind die nicht zu unterschätzenden Möglichkeiten des KDS kurz beschrieben. Von daher sollten auch regionale und länderspezifische Datensätze immer die Kategorien des KDS mit berücksichtigen. Es ist in diesem Zusammenhang ebenfalls zu begrüßen, wenn länderbezogene Dokumentationen - wie beispielsweise in Nordrhein-Westfalen - den KDS als Ausgangspunkt einer weiter zu entwickelnden Suchthilfeberichterstattung nehmen.

Auch wenn in diesem Beitrag Ausführungen zu den Grenzen des KDS im Vordergrund stehen, sollte mit den vorangegangenen Feststellungen deutlich auf die mit dem KDS verbundenen positiven Möglichkeiten hingewiesen werden, damit die folgenden Hinweise und Verbesserungsvorschläge nicht als eine Kritik der Bemühungen für ein übergreifendes und einheitliches Dokumentationsverfahren missverstanden werden. Diese Bestrebungen gilt es nachdrücklich zu unterstützen. Gerade deshalb erscheint es wichtig, aus fachlich-wissenschaftlicher Sicht auf die Defizite des KDS hinzuweisen. Diese liegen: (a) in der Verkürzung der Dokumentationskataloge, (b) in der Dominanz einer psychiatrisch-stationären Diagnostik, (c) in der Abtrennung der Leistungsdokumentation, (d) in dem Verzicht chronologischer Dokumentation bei chronisch Erkrankten, (e) in der mangelnden Trennung von Behandlungsfällen und Klienten in der Jahresstatistik und (f) in der Ausblendung spezifischer Klientengruppen. Darüber hinaus finden summarische, aber dennoch wichtige Dienstleistungen und wichtige Indikatoren für die Drogenproblematik keine Berücksichtigung: Spritzentausch und andere niedrigschwellige Versorgungsangebote für Drogenabhängige.

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Wichtigste Überarbeitungsbereiche des Kerndatensatzes

Es sei noch einmal darauf hingewiesen, dass sich die folgenden Ausführungen ausschließlich auf den klientenbezogenen Kerndatensatz (KDS-K) und auf den ambulanten Bereich beziehen.

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Dokumentation des Konsums ausschließlich über den ICD-10

Mit dem KDS kann das Konsumverhalten (Hauptdroge) der Klienten[2] ausschließlich über den ICD-10 erfasst werden. Der ICD ist ein international anerkanntes Diagnoseschema zur Klassifikation somatischer und psychischer Störungen, für dessen Anwendung es spezielle Handbücher gibt [4]. Nur Personen, die über eine entsprechende psychologische oder psychiatrische Ausbildung verfügen oder speziell für den ICD-10 geschult worden sind, sollten mit diesem diagnostischen Instrument arbeiten. Es sind aber in der ambulanten Sucht- und Drogenhilfe viele Sozialarbeiter und Sozialpädagogen tätig, die eben über keine speziellen Kenntnisse des ICD-10 verfügen und auch nicht speziell geschult wurden, psychiatrische Diagnosen erstellen zu können. Von daher ist zu vermuten, dass es leicht zu Fehldiagnosen kommt bzw. der ICD-10 eher als Klassifikationsinstrument des Konsumverhaltens verwendet wird und nicht als eine ärztlich relevante Diagnose. So könnte es beispielsweise sein, dass bei Jugendlichen die ICD-Diagnose „abhängig” oder „schädlicher Gebrauch” von Cannabis kodiert wird, weil sie beim Kiffen in der Schule erwischt und zur örtlichen Suchtberatung geschickt worden sind. Dabei sollen diese Diagnosen - nach dem KDS-Manual - nur vergeben werden, wenn eine ernsthafte psychische oder körperliche Störung oder sogar eine Substanzabhängigkeit vorliegt. Danach ist selbst eine akute Intoxikation allein aber noch kein Beweis für eine gesundheitliche Schädigung [3]. Eine Abhängigkeitsdiagnose sollte nur gestellt werden, wenn ein zwanghaftes Verhalten bzw. eine verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Substanzkonsums und/oder ein körperliches Entzugssyndrom vorliegen. Dieses kleine Beispiel soll aufzeigen, wie riskant es ist, wenn durch die Dokumentationsvorschrift erzwungen wird, dass ein professionelles Diagnoseinstrument von nicht Professionellen angewendet werden muss. Der KDS dokumentiert das aktuelle Konsumverhalten allein über den ICD-10 und berücksichtigt auch nur solche Einrichtungen, in denen dies praktiziert wird. Dies stellt auch die Validität der entsprechenden Suchthilfestatistik infrage, da unsicher ist - in Abhängigkeit vom jeweils unbekannten Qualifikationsniveau der Dokumentierenden -, ob es sich um eine psychiatrische Diagnose oder um die bloße Klassifikation aktuellen Konsumverhaltens handelt. Für einen Teil der Mitarbeiter der Suchthilfe ist aus den genannten Gründen der ICD-10 ein nicht optimales Erfassungsinstrument. Der ICD-10 sollte zwar Bestandteil des KDS für die professionellen Anwender bleiben, daneben sollte es jedoch eine zusätzliche Möglichkeit zur Erfassung des Substanzkonsums der Klienten geben, z. B. die Hauptdroge unter Einbeziehung der 30-Tages-Prävalenz.[3]

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Es fehlen wichtige Kategorien und Items im Biografiebereich

Der KDS legt einen Schwerpunkt auf die Darstellung der Lebenssituation der Klienten. Aber selbst diese kann nicht vollständig abgebildet werden. Es fehlen einerseits bestimmte Kategorien gänzlich und andererseits bestehen Lücken innerhalb des kategorialen Systems des KDS. Beispielsweise können Anzahl und Wohnsituation der Kinder nicht erfasst werden. Auch bei der Darstellung der Behandlungsvorgeschichte fehlen Kategorien wie die „ambulante Suchtberatung” oder die „suchtbezogene Selbsthilfe”. Ebenso kann nicht kodiert werden, ob jemand vollzeit- oder teilzeitbeschäftigt ist oder nur einen Gelegenheitsjob hat. Schließlich können Berufsausbildung und Schuldensituation der Klienten nicht abgebildet werden. All dies sind Informationen, die für eine Beschreibung der Lebenssituation der Klienten unerlässlich sind und eine praktische Relevanz für die tägliche Arbeit der Mitarbeiter besitzen. Mit dem KDS können deshalb nur eingeschränkte Aussagen zur Lebenssituation der Klienten getroffen werden. Viele Landesdatensätze weisen deshalb zusätzliche biografische Kategorien und Items auf (z. B. der Hessische Kerndatensatz). Andererseits gibt es im KDS auch sich überlappende Kategorien, wie z. B. Familienstand, Lebenssituation und Partnerbeziehung, die auch sinnvoll in einer Rubrik zusammengefasst werden können. Eine Überarbeitung des KDS ist deshalb nicht automatisch gleichzusetzen mit einer Aufblähung des Datensatzes.

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Keine chronologische Dokumentation möglich

Der KDS beschränkt sich auf eine Eingangsdiagnostik und auf eine Darstellung der Situation bei Betreuungsende. Veränderungen in der Lebenssituation der Klienten während des Behandlungsverlaufs können nur unzureichend oder gar nicht abgebildet werden. Beispielsweise kann eine Veränderung der Konsummuster oder der Erwerbstätigkeit während der laufenden Betreuung nicht dokumentiert werden, wenn am Ende der Betreuung wieder der Status quo ante vorherrschend ist. Die fehlende chronologische Dokumentation bezieht sich aber nicht nur auf die Phase während der Betreuung, sondern auch auf die Zeit vor der Betreuung. Mit einer historisch-chronologischen Dokumentation können beispielsweise die „Suchtkarriere” oder die Entwicklung der Erwerbssituation abgebildet werden und damit wichtige Hinweise für die spezifischen Handlungsbedarfe der unterschiedlichen Klientengruppen gewonnen werden. Der KDS ist nicht in der Lage, für solche Analysen empirische Daten zu liefern.

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Nachgefragte Leistungen werden nicht erfasst

Die von den Klienten nachgefragten und in Anspruch genommenen Leistungen (z. B. Beratung oder Therapie) werden mit dem KDS überhaupt nicht erfasst. Auf der Grundlage des KDS kann deshalb auch keine differenzierte Analyse des Nutzungsverhaltens der Klienten durchgeführt werden. Gerade aus der Sicht des Suchtkrankenhilfesystems sind die Informationen über die Frequenz und zeitliche Nutzungsdauer der Inanspruchnahme von Hilfen sehr wichtig [5]. So signalisieren steigende Klientenzahlen bei abnehmender Frequenz und Intensität etwas anderes als gleichbleibende Klientenzahlen bei zunehmender Frequenz und Intensität. Im ersten Fall wäre zu überprüfen, warum die Nachfrage zu-, die Nutzung aber abnimmt, im zweiten Falle kann sich die Frage nach Kapazitätsengpässen aufgrund eines intensiven Inanspruchnahmeverhaltens der betreuten Klienten stellen. Anzahl der Klienten, Nachfrageverhalten und Betreuungsintensität stehen in einem engen Zusammenhang mit den Kapazitätserfordernissen. Die Anzahl der Klienten für sich genommen gibt darüber keine Auskunft. Dieses kleine Beispiel soll zeigen, dass es sowohl im Interesse der KlientInnen als auch des Suchthilfesystems insgesamt liegt, Genaueres - epidemiologisch wie auch in der zeitlichen Entwicklung - über die Nutzung der Hilfen in Erfahrung zu bringen. Dieses liefert den Einrichtungen/Trägern zumindest Hinweise, inwieweit das aktuelle Hilfesystem und seine konzeptionelle Ausgestaltung den Bedürfnissen ihrer Klientel entspricht. Dies ist wichtig für beide Seiten und auch für die fördernden Institutionen. Ein Kerndatensatz sollte deshalb zumindest die zentralen Tätigkeitstypen (Beratung, Therapie etc.) der Suchtkrankenhilfe und die Dauer ihrer Inanspruchnahme durch die Klienten enthalten.

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Es werden nur Betreuungsfälle erfasst

Der KDS erfasst nicht die Klienten (in anonymisierter Form), sondern zählt die Betreuungsfälle. Die Fälle können nicht einzelnen Personen zugeordnet werden. Bei den in der nationalen Suchthilfestatistik präsentierten Angaben kann deshalb nicht gesagt werden, wie viele Personen sich hinter den Betreuungsfällen (die dort als Klienten bezeichnet werden) verbergen. Wie häufig beginnen die gleichen Klienten eine neue Betreuung? Die Antwort darauf kann mit dem KDS nicht geliefert werden. Darüber hinaus sind auch keine differenzierteren und vertiefenden Analysen möglich, solange der Logik aggregierter Fallerfassung (qua Einrichtung) gefolgt wird.

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Es werden keine Angehörigen erfasst

Der KDS differenziert nicht zwischen Konsumenten und Angehörigen. Angaben über Angehörige, die beraten und betreut worden sind, werden nicht gesondert betrachtet. Damit bleibt ein nicht unwichtiger Teil der Arbeit der Sucht- und Drogenhilfe außen vor oder wird im schlimmsten Fall falsch kategorisiert. Auswertungen aus dem Bundesland Schleswig-Holstein zeigen, dass es sich bei ungefähr 13 % aller Klienten um Angehörige handelt [6].

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Ausblick

In der vorliegenden Form ist der Kerndatensatz überarbeitungsbedürftig. Zumindest für den ambulanten Bereich müssten bestimmte Bereiche - z. B. die Dokumentation des Konsums - dringend optimiert werden. Man merkt es dem KDS an, dass er nicht historisch-stringent aus der Praxis gewachsen ist, sondern einen politischen Kompromiss darstellt, der zudem eher von einem stationären Verständnis geprägt ist. Die jetzige Begrenztheit des Deutschen Kerndatensatzes wird auch daran deutlich, dass selbst die nationale Suchthilfestatistik, die vom IFT jährlich erstellt wird, in weiten Teilen nicht nur auf der Grundlage des KDS, sondern auf der Basis eines erweiterten Datensatzes, dem Bundesdatensatz (EBIS-Kern) erfolgt. Und auch länderspezifische Datensätze - wie der Hessische Kerndatensatz oder die Hamburger Basisdatendokumentation (Bado) - enthalten viele zusätzliche Items und gehen sogar noch über EBIS hinaus.

Da sich der KDS selbst nur als ein Mindestdatensatz versteht [3], sollte er nicht im alleinigen Zentrum um die Weiterentwicklung der Dokumentation auf der Länder- oder Trägerebene stehen. Dass der KDS miterfasst wird, ist eine Selbstverständlichkeit, um die Anschlussfähigkeit an den europäischen Minimalkonsens halten zu können. Für eine nationale Berichterstattung, die die Möglichkeiten moderner Dokumentation zu nutzen weiß, ist er inhaltlich, funktional und strategisch äußerst revisionsbedürftig. Auch für das externe und interne Qualitätsmanagement oder für eine zielorientierte landes- oder trägerspezifische Planung sind Daten erforderlich, die mit solchen modernen Dokumentationssystemen leicht verfügbar sind. Viele Auswertungen, die eine hohe Praxisrelevanz besitzen, sind nur möglich, wenn die richtigen Informationen zu den Klienten, erbrachten Tätigkeiten und Behandlungsverläufen erfasst werden. Das betrifft beispielsweise Analysen zum Inanspruchnahmeverhalten der Klientel. Diesen Sachverhalt verdeutlicht Tab. [2], die die Auswertungsmöglichkeiten des deutschen Kerndatensatzes im Vergleich zum schleswig-holsteinischen Katalog demonstriert.

Aus all den genannten Gründen sollte der Deutsche Kerndatensatz, nachdem nun einige Jahre wichtige praktische Erfahrungen mit ihm gesammelt werden konnten, modifiziert und weiterentwickelt werden. Das bedeutet nicht, um dies abschließend noch einmal hervorzuheben, dass es darum geht, den einzelnen Mitarbeiter mit einem wachsenden Dokumentationsberg zu belasten - in der alltäglichen Arbeit wird dokumentiert, was professionelle Standards erfordern und Einrichtungen und Kostenträger wie selbstverständlich anfordern -, sondern es geht darum, die richtigen, praxisrelevanten Kategorien im deutschen Kerndatensatz zu verankern und sie einer angemessenen Auswertung der praktizierten Suchthilfe zugänglich zu machen. Schließlich haben die Betroffenen einen Anspruch darauf, durch die Möglichkeiten moderner Dokumentation die Qualität der Hilfe weiterentwickelt wird.

Tab. 2 Auswertungsmöglichkeiten von „Kerndatensatz” und „Katalog Schleswig-Holstein” im Vergleich
KerndatensatzKatalog
Schleswig-Holstein
Beschreibung Klienteljaja, umfassender
Beschreibung Tätigkeitenstark eingeschränktja
Analysen Inanspruchnahmeneinja
Wirkungsanalysenneinja
Interventionsanalysenneinja
Verlaufsanalysenstark eingeschränktja
Netzwerkanalysenneinja
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Literatur

  • 1 Kalke J. Elektronische Dokumentationssysteme für die Sucht- und Drogenhilfe. Böllinger L, Stöver H Drogenpraxis, Drogenrecht, Drogenpolitik Frankfurt a. M.,; 2002: 328-336
  • 2 Welsch K. Suchthilfestatistik 2001 für Deutschland.  Sucht. 2002;  48 (Sonderheft 1/2002)
  • 3 Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren .Deutscher Kerndatensatz zur Dokumentation im Bereich der Suchtkrankenhilfe. Definitionen und Erläuterungen zum Gebrauch. Hamm,; 2000
  • 4 Diling H, Mombour W, Schmidt M H. Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V. Bern/Göttingen/Toronto/Seattle; Verlag Hans Huber, 1993
  • 5 Raschke P, Kalke J, Martens M S. Moderne Dokumentation in der ambulanten Suchtkrankenhilfe. Analysen der Inanspruchnahme, Band II Kiel; Ministerium für Soziales, Gesundheit und Verbraucherschutz des Landes Schleswig-Holstein, 2002
  • 6 Kalke J, Martens M S, Schütze C. et al .Moderne Dokumentation in der ambulanten Suchtkrankenhilfe. Die Lebenssituation der Klientinnen und Klienten in Stadt und Land, Band III. Kiel; Miniterium für Soziales, Gesundheit und Verbraucherschutz des Landes Schleswig-Holstein, 2003

1 Im Fachausschuss Statistik der DHS sitzen u. a. Vertreter der Wohlfahrtsverbände, der Suchtkrankenhilfe, der Bundesländer und der Forschung.

2 In diesem Beitrag wird der besseren Lesbarkeit zuliebe nur die männliche Bezeichnung genannt. Der Begriff „Klienten” schließt die Klientinnen selbstverständlich mit ein.

3 Im KDS besteht zwar auch die Möglichkeit, die Konsumfrequenz zu erfassen, diese ist jedoch verbunden mit der Diagnosestellung. Darüber hinaus wird dort mit einer sehr groben, undifferenzierten Skalierung gearbeitet, z. B. gibt es das Item „im letzten Monat nicht konsumiert/gelegentlicher Konsum”.

Jens Kalke

ISD c/o ZIS, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Martinistr. 52

20246 Hamburg

Email: KalkeJ@aol.com

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Literatur

  • 1 Kalke J. Elektronische Dokumentationssysteme für die Sucht- und Drogenhilfe. Böllinger L, Stöver H Drogenpraxis, Drogenrecht, Drogenpolitik Frankfurt a. M.,; 2002: 328-336
  • 2 Welsch K. Suchthilfestatistik 2001 für Deutschland.  Sucht. 2002;  48 (Sonderheft 1/2002)
  • 3 Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren .Deutscher Kerndatensatz zur Dokumentation im Bereich der Suchtkrankenhilfe. Definitionen und Erläuterungen zum Gebrauch. Hamm,; 2000
  • 4 Diling H, Mombour W, Schmidt M H. Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V. Bern/Göttingen/Toronto/Seattle; Verlag Hans Huber, 1993
  • 5 Raschke P, Kalke J, Martens M S. Moderne Dokumentation in der ambulanten Suchtkrankenhilfe. Analysen der Inanspruchnahme, Band II Kiel; Ministerium für Soziales, Gesundheit und Verbraucherschutz des Landes Schleswig-Holstein, 2002
  • 6 Kalke J, Martens M S, Schütze C. et al .Moderne Dokumentation in der ambulanten Suchtkrankenhilfe. Die Lebenssituation der Klientinnen und Klienten in Stadt und Land, Band III. Kiel; Miniterium für Soziales, Gesundheit und Verbraucherschutz des Landes Schleswig-Holstein, 2003

1 Im Fachausschuss Statistik der DHS sitzen u. a. Vertreter der Wohlfahrtsverbände, der Suchtkrankenhilfe, der Bundesländer und der Forschung.

2 In diesem Beitrag wird der besseren Lesbarkeit zuliebe nur die männliche Bezeichnung genannt. Der Begriff „Klienten” schließt die Klientinnen selbstverständlich mit ein.

3 Im KDS besteht zwar auch die Möglichkeit, die Konsumfrequenz zu erfassen, diese ist jedoch verbunden mit der Diagnosestellung. Darüber hinaus wird dort mit einer sehr groben, undifferenzierten Skalierung gearbeitet, z. B. gibt es das Item „im letzten Monat nicht konsumiert/gelegentlicher Konsum”.

Jens Kalke

ISD c/o ZIS, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

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