Erfahrungsheilkunde 2003; 52(10): 650-659
DOI: 10.1055/s-2003-43096
100 Jahre

Karl F. Haug Verlag, in: MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG

Spiritualität und Wissenschaft

Zum Verständnis (und zur Überwindung) eines TabusHarald Walach
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Publication Date:
23 October 2003 (online)

Eine populäre Vorstellung von Wissenschaft und ihrem Fortschreiten, die auf den französischen Positivisten Comte zurückgeht und im Grunde vom neueren Positivismus des Wiener Kreises wiederholt wurde, geht so: Bevor die moderne Wissenschaft auftrat, herrschte eine etwas undurchschaubare Mischung von Religion, Aberglaube und Protowissenschaft. Im Grunde war dies ein Zeitalter des magischen Weltbildes. Dieses wurde abgelöst durch eine Zeit der ersten wissenschaftlichen Bemühungen, in der beides, Wissenschaft und Glaube oder Religion, nebeneinander bestand. Erst im reiferen Stadium der Wissenschaft ist für Religion und Ähnliches keinerlei Platz mehr im Betrieb der rationalen Auseinandersetzung mit der Welt. Möglicherweise kann man in den kulturellen Schöpfungen noch Raum für solche Dinge finden, etwa für den Glauben an das Überrationale, an das Transzendente oder gar einen persönlichen Gott, aber sicher nicht innerhalb der Wissenschaft. Wissenschaft und Spiritualität, Wissenschaft und Religion scheinen einander ausschließende Begriffe zu sein, mindestens dann, wenn man Wissenschaft in einem engeren Sinne verwendet und vor allem die Konnotation der Naturwissenschaft im Kopf hat.

An dieser weit verbreiteten Sicht der Dinge haben auch neuere wissenschaftstheoretische Entwicklungen bislang kaum etwas geändert. Selbst Popper, der alle positivistischen Strömungen heftig bekämpfte, teilte die Abneigung seiner Wiener Kollegen gegen metaphysische Spekulationen. Diese Abneigung hat in seinem Gefolge fast die gesamte moderne Sozialwissenschaft unkritisch übernommen, die Popper bis heute zu ihrem methodischen Apostel gemacht hat. Feyerabend, der Popper und den Positivismus überwinden wollte, hielt immerhin zugute, dass jedes Weltmodell in etwa gleich berechtigt und gleich rational oder irrational sei und der pragmatische Erfolg bestimme, welche Wissenschaft am besten sei. Allerdings hat sich diese antidoktrinäre Haltung kaum durchgesetzt, allenfalls in Kreisen konstruktivistischer Forscher, die aber sicher nicht den Hauptstrom der Naturwissenschaft bestimmen. Modernere Formen der wissenschaftstheoretischen Reflexion würden zumindest die Trennung zwischen Religion und Wissenschaft, oder zwischen Spiritualität und Rationalität, aufrechterhalten, wenn schon nicht explizit, dann sicherlich implizit. Insofern scheint die Themenstellung „Wissenschaft und Spiritualität” schon von Anfang an missglückt zu sein und von einem falschen Begriffsverständnis auszugehen. Kaum ein rational denkender Zeitgenosse, der bei dieser Gegenüberstellung wohl nicht den Kopf schütteln würde. Woher kommt diese Vorstellung, dass Wissenschaft und Religion oder Spiritualität nichts miteinander gemein haben können? Schon die Tatsache, dass eine gemeinsame Thematisierung dieser beiden Bereiche problematisch erscheint, erweckt den Verdacht, dass wir es hier mit einem Tabu zu tun haben, und zwar mit einem, das insofern mächtig ist, als es tief verwurzelte Konsensgestalten unserer modernen oder postmodernen Kultur anrührt und in Zweifel zieht. Bevor wir uns fragen können, ob und inwiefern es möglicherweise berechtigt ist, die Kopula „und” in unserem Titel „Wissenschaft und Spiritualität” zu verwenden, ist vermutlich zweierlei hilfreich:

Zum einen sollten wir eine Begriffsklärung durchführen und die Begriffe, mindestens vorläufig, definieren (vergessen wir dabei nicht die Erkenntnis des Aristoteles: eine zufriedenstellende Definition steht am Ende, nicht am Anfang des Erkenntnisprozesses). Zum anderen sollten wir versuchen, die Historie zu verstehen, um die gegenwärtige Problematik besser zu sehen.

Literatur

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  • 03 Bohr N. Atomphysik und menschliche Erkenntnis. Braunschweig; Vieweg 1958
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  • 06 Jung C G. Aion: Beiträge zur Symbolik des Selbst. Gesammelte Werke. Olten; Walter 1996
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  • 08 Kohls N, Kress G, Walach H. Das Transpersonale Erfahrungen Inventar - Revision, psychometrische Eigenschaften. In: Belschner W, Walach H & Hofmann L (Eds.): Transpersonale Forschung. Jahresband 3 des Deutschen Kollegiums für Transpersonale Psychologie. Oldenburg; BIS Verlag 2003
  • 09 Reich K H. Relations- und kontextbezogenes (komplementaristisches) Denken. Theorie, empirische Befunde, Anwendung. In: Belschner W, Galuska J, Walach H & Zundel E (Eds.): Transpersonale Forschung im Kontext. Oldenberg; BIS 2002: 11-39
  • 10 Römer H. Annäherung an das Nichtmessbare?. Wolfgang Pauli (1900-1958) Philosophisches Jahrbuch 2002 109: 354-364
  • 11 Walach H. Notitia experimentalis Dei - Erfahrungserkenntnis Gottes. Studien zu Hugo de Balmas Text „Viae Sion lugent” und deutsche Übersetzung. Salzburg; Institut für Anglistik und Amerikanistik der Universität Salzburg 1994
  • 12 Walach H. Bausteine für ein spirituelles Welt- und Menschenbild.  Transpersonale Psychologie und Psychotherapie. 2001;  7 (2) 63-77
  • 13 Walach H. Auf dem Weg zur ganzen Gesundheit (Editorial).  Forschende Komplementärmedizin und Klassische Naturheilkunde. 2003;  10 5-6
  • 14 Walach H, Römer H. Complementarity is a useful concept for consciousness studies. A reminder.  Neuroendocrinology Letters. 2000;  21 221-232

Korrespondenzadresse

Harald Walach

Universitätsklinikum Freiburg
Samueli Institute - European Office
Institut für Umweltmedizin und Krankenhaushygiene

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79106 Freiburg

Email: walach@ukl.uni-freiburg.de