Im Internetportal des Deutschen Ärzteblatts vom 12.05.2003[1] wurde ein Bericht über die Meta-Analyse von Leucht et al. (Lancet 2003; 361: 1581-1589)[2] bezüglich eines Vergleichs von Neuroleptika der neueren Generation zu niedrigpotenten konventionellen Neuroleptika veröffentlicht. Unter der Überschrift „Atypische Antipsychotika: Zweifel an besserer Verträglichkeit” wurde berichtet, dass in der Untersuchung alleine für Clozapin eine stärkere Wirkung gefunden worden sei und dass eine überlegene Wirkung und bessere Verträglichkeit der atypischen Antipsychotika hinsichtlich der EPS-Problematik nicht erwiesen sei.
Die niedrigpotenten Neuroleptika seien somit eine kostengünstige Alternative zu den neueren Medikamenten.
Eine kritische Analyse der Ärzteblattmeldung und des Originalartikels ergibt folgendes Resultat: Die Schlussfolgerungen der Autoren des Originalartikels auf die mangelnde Überlegenheit atypischer Neuroleptika können als relativ weitgehend betrachtet werden. Die Wiedergabe im Deutschen Ärzteblatt (DÄB) ist darüber hinaus unklar und überinterpretierend. So findet im DÄB eine verwirrende Vermischung der Begriffe „ältere Neuroleptika”, „niedrig dosierte” und „niedrig potente Neuroleptika” statt. Die Ärzteblatt-Aussage, dass nur für Clozapin eine stärkere Wirkung gefunden wurde, ist so nicht korrekt. Vielmehr konnte in der Untersuchung nur für Clozapin als einziger Substanz eine gleichzeitige Überlegenheit sowohl hinsichtlich Wirksamkeit als auch EPS-Rate festgestellt werden. Bezüglich EPS kommen die Autoren in der Tat zu dem Schluss, dass neuere Atypika im Vergleich mit niedrigpotenten Neuroleptika nach aktueller Studienlage nicht überlegen sind - solange letztere im Dosisbereich bis zu 600 mg/die Chlorpromazinäquivalente gegeben werden. In höheren Dosierungen verschwindet dieser Effekt. Bezüglich der Wirksamkeit stellen die Autoren hingegen für die Gruppe der Atypika gegenüber den niedrigpotenten Neuroleptika eine moderat stärkere Wirksamkeit fest. Diese potenziellen Vorteile sollten nach Autorenmeinung daher ein Faktor in klinischen Entscheidungssituationen zugunsten der Atypika sein.
Im Einzelnen wurden für Olanzapin vier Studien ausgewertet, in denen eine stärkere Wirksamkeit der Substanz bei nur grenzwertig signifikanter Überlegenheit hinsichtlich der EPS-Rate (p = 0,07) festgestellt wurde, wobei wichtig zu erwähnen ist, dass dabei auch eine Studie berücksichtigt wurde, in der alle Chlorpromazinpatienten prophylaktisch Benzatropin erhielten. Für Quetiapin wurde eine Studie gefunden, in der ein Vergleich gegen Chlorpromazin bis zu maximaler Dosierung von 384 mg/die gezogen wurde (an anderer Stelle der Arbeit wird von einer antipsychotischen Wirkung von Chlorpromazin erst ab 300 mg/die ausgegangen). In diesem Dosisbereich konnte eine stärkere Wirksamkeit von Quetiapin bei gleicher Verträglichkeit gefunden werden. Für Risperidon konnten in einer kleinen Studie (n = 42) im Vergleich gegen niedrigdosiertes Methotrimeprazine (mittl. Dos.: 100 mg/die; max. 150 mg/die) keine signifikanten Verträglichkeitsunterschiede bei stärkerer Risperidon-Wirksamkeit gefunden werden. Für Amisulprid wurden eine (n = 30), für Zotepin fünf und für Remoxipride vier Untersuchungen gefunden, in denen ohne nähere Angaben keine outcome-Unterschiede festgestellt wurden.
Aus diesen Angaben wird eine sehr unsichere Datenlage ersichtlich. Wie die Autoren selbst anmerken, wäre der Vorteil von Olanzapin noch eindeutiger bei Weglassen der Benzatropinprohylaxe ausgefallen und es damit zu einem signifikanten Ergebnis gekommen. Ob es sich bei den berücksichtigten Quetiapin- und Risperidonstudien um geeignete Vergleiche handelt, bleibt angesichts der niedrigen Typika-Dosen und fehlenden Atypika-Dosisangaben dahingestellt. Dasselbe gilt bei einer kleinen Fallzahl für die Amisulpridstudie sowie bei mangelnden Angaben für drei von fünf Zotepinstudien.
Als wesentliches Ergebnis der Untersuchung von Leucht et al. ergibt sich somit, dass
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die Studienlage bezüglich des Vergleichs Atypika - niedrigpotente Neuroleptika unzureichend ist
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sich - mit Einschränkungen - ältere niedrigpotente Neuroleptika im Dosisbereich bis 600 mg Chlorpromazinäquivalente von Atypika nicht hinsichtlich der EPS-Rate unterscheiden.
Jedoch sind, wie bereits auch die Autoren anmerken, die zur Verfügung stehenden Studien entweder zu alt (Publikationszeitraum 1974-2000), sodass teilweise noch keine standardisierten Wirksamkeitsparameter erhoben wurden, oder es wurden zu kurze Zeiträume gewählt (nur eine Studie über ein Jahr, zwei über 12 Wochen, der Rest kürzer), um daraus definitive Rückschlüsse auf die Über- oder Unterlegenheit von Atypika zu ziehen. Darüber hinaus wird auch darauf verwiesen , dass der optimale antipsychotisch wirksame Dosisbereich von Chlorpromazin in der Literatur unterschiedlich eingeschätzt wird mit Angaben von 375-940 mg/die. Die möglicherweise gleich gute Verträglichkeit ist aber nur relevant, wenn auch die Wirksamkeit in diesem Bereich vergleichbar ist.
Zu dem Schluss, dass die Datenlage zur Beurteilung der Überlegenheit atypischer Neuroleptika unzureichend ist, kommt im Übrigen auch die Task Force der WPA in ihrem Update vom März 2003 (Kupfer DJ, Sartorius N, editors. The Usefulness and Use of Second-Generation Antipsychotic Medications - an Update. Current Opinion in Psychiatry 2003; 16 (Suppl.1): 7-21). Es bleibt also festzuhalten, dass entgegen dem suggestiven Titel im Ärzteblatt keine verlässliche Datenbasis existiert, aufgrund derer eine Bevorzugung von niedrigpotenten Neuroleptika gegenüber Atypika begründet werden könnte. Der Autor Leucht votiert bezüglich der Wirksamkeit sogar eher für die Atypika.