psychoneuro 2003; 29(11): 535-537
DOI: 10.1055/s-2003-44522
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Integrierte Versorgung: Was ist das? Wie funktioniert das?

Jürgen Fritze1
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Korrespondenzadresse:

Prof. Dr. med. Jürgen Fritze

Asternweg 65

50259 Pulheim

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Publication Date:
20 November 2003 (online)

Table of Contents

Mit dem Gesundheitsreformgesetz 2000 wurde die sog. Integrierte Versorgung eingeführt. Damit wurde angestrebt, die Abschottung zwischen den Versorgungssektoren (ambulant, stationär, Rehabilitation) zu überwinden. Das ist immer dann besonders wünschenswert, wenn im Krankheitsverlauf Leistungen aus allen drei Sektoren medizinisch notwendig sind. Das gilt in zunehmendem Maße, je mehr der Krankheitsverlauf zur Chronifizierung oder Rezidiven neigt. Damit sind psychische Krankheiten für die Integrierte Versorgung grundsätzlich prädestiniert.

Politisches Hauptziel war und ist, mit Integrierter Versorgung die Wirtschaftlichkeit zu erhöhen, d.h. Ausgaben der Krankenkassen zu senken oder zumindest künftige Ausgabensteigerungen zu mindern. Darüber hinaus erhofft man sich durch bessere Koordination der Behandlungskomponenten auch bessere Behandlungsqualität, am Ende also bessere Behandlungsergebnisse.

Tatsächlich ist von der gesetzlichen Möglichkeit so gut wie kein Gebrauch gemacht worden. Die Gründe werden in der Komplexität der gesetzlichen Vorgaben gesehen. Gründe liegen aber auch darin, dass die Krankenhäuser in solchen Verträgen Erweiterungen ihrer ambulanten Behandlungsmöglichkeiten erreichen wollen, was mit den Interessen der nur ambulant tätigen Berufsgruppen kollidiert. Vermutlich bestehen aber auch grundlegende Bedenken aller potenziellen Vertragspartner, einerseits ökonomische Verantwortung an integrierte Versorgungsnetze abzugeben, dies auch vor dem Hintergrund, dass bisher solche Netze im Rahmen von Modellvorhaben (§63 SGB V) oder Strukturverträgen (§ 73a SGB V) ökonomisch wenig erfolgreich waren. Andererseits bestehen aber wohl auch Bedenken, solche ökonomische Verantwortung zu übernehmen. Dabei wären die Risiken aufseiten der niedergelassenen Ärzte gering, indem die Teilnahme an Integrierter Versorgung die weitere vertragsärztliche Tätigkeit nicht ausschließt. Schließlich hat die Realisierung der Integrierten Versorgung durch die Einführung erster Disease-Management-Programme (DMP), die grundsätzlich ebenfalls zu Integration durch Überwindung der Sektorgrenzen führen sollen, wenn auch auf jeweils eine einzelne Hauptkrankheit fokussiert, an Kraft verloren.

Die Verträge mussten mit der zwischen den Spitzenverbänden der gesetzlichen Krankenkassen und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung zu schließenden Rahmenvereinbarung (§ 140d SGB V) in Einklang stehen. War die jeweilige Kassenärztliche Vereinigung nicht Vertragspartner, so konnte sie dem Vertrag widersprechen, wenn auch nur insoweit, wie er nicht mit der Rahmenvereinbarung übereinstimmte. Die Vorschriften zur Vergütung (§ 140c) ließen verschiedene Optionen offen, ermöglichten aber die Übernahme der gesamten Budgetverantwortung durch die Vertragspartner oder auch von Teilbereichen (kombinierte Budgets). Die Gesamtvergütungen waren im Interesse der Beitragsstabilität um die Vergütungsanteile der Integrierten Versorgung zu bereinigen (§ 140f).

Der Einbezug von Hausärzten war verpflichtend; welche weiteren Fachgruppen zu beteiligen waren, blieb optional. Die Versicherten konnten sich freiwillig einschreiben. Sie verpflichteten sich, die Steuerungsfunktion des Hausarztes (Gatekeeper) als primärer Anlaufstelle zu akzeptieren. Der Versicherte hatte dem Datenaustausch zwischen den Vertragspartnern zuzustimmen. Dem Versicherten konnte als Satzungsleistung ein Bonus gewährt werden, sofern die Integrierte Versorgung Einsparungen ermöglichte.

Die am 27.10.2000 zur Vermeidung der Ersatzvornahme geschlossene Rahmenvereinbarung nach § 140d SGB V geht über den Inhalt des Gesetzes nur insofern hinaus, als sie einen (komplizierten) mathematischen Algorithmus zur Bereinigung der ärztlichen Gesamtvergütungen (§ 16 der Rahmenvereinbarung) festlegt. Ansonsten blieben die vom Gesetz vorgegebenen Optionen offen. Die (fakultative, § 140e) Rahmenvereinbarung zwischen den Spitzenverbänden der Krankenkassen und der Deutschen Krankenhausgesellschaft zur Regelung des stationären Sektors kam erst am 17.12.2001 zustande und beschränkt sich im Wesentlichen auf Wiederholungen des Gesetzestextes.

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GKV-Modernisierungsgesetz

Im zum 01.01.2004 in Kraft tretenden GKV-Modernisierungsgesetz hat die Politik - im Wege einer großen Koalition - einen neuen Anlauf genommen, das Konzept Integrierter Versorgung zu vitalisieren. Das Verfahren wird vereinfacht. Insbesondere wird die Initiative allein der einzelnen Krankenkasse übertragen. Die bisherige Zulassung oder Ermächtigung zur vertragsärztlichen Versorgung wird nicht vorausgesetzt. Rahmenvereinbarungen der Bundesebene fallen ebenso weg wie Einspruchsrechte der kassenärztlichen Vereinigung. Das schließt selbstverständlich nicht aus, dass sich mehrere oder gar alle Krankenkassen einer Region als Einkäufer zusammentun (und dadurch ihre Marktmacht erhöhen und den Wettbewerb mindern), was im Interesse des Machtausgleichs zwangsläufig dazu führen wird, dass sich auf Anbieterseite ebenfalls Koalitionen bilden werden, also auch kassenärztliche Vereinigungen und Konsortien von Krankenhäusern, womöglich auch Landeskrankenhausgesellschaften ins Spiel kommen.

Gemäß §140a SGB V neuen Rechts „können die Krankenkassen Verträge über eine verschiedene Leistungssektoren übergreifende Versorgung der Versicherten oder eine interdisziplinär-fachübergreifende Versorgung mit den in § 140b Abs. 1 genannten Vertragspartnern abschließen. Soweit die Versorgung der Versicherten nach diesen Verträgen durchgeführt wird, ist der Sicherstellungsauftrag nach § 75 Abs. 1 eingeschränkt.” Unter den Vertragspartnern nach §140b sind die kassenärztlichen Vereinigungen zwar nicht mehr explizit genannt, aber implizit enthalten. Gemäß amtlicher Begründung ist politisch aber gewollt, die Versorgung auf einzelvertraglicher Grundlage und nicht im Rahmen eines kollektivvertraglich vereinbarten Normensystems durchzuführen. Ausdrücklich werden in §140b ambulante und stationäre Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen genannt. Mitwirken können auch Apotheken einschließlich Versandapotheken. Es gilt der nunmehr vom sog. Gemeinsamen Bundesausschuss nach §91 SGB V zu definierende Leistungskatalog, d.h. darüber hinausgehende Leistungen dürfen nicht erbracht werden.

Gemäß §140b Absatz 4 „gilt der Grundsatz der Beitragssatzstabilität nach § 71 Abs. 1 für Verträge, die bis zum 31. Dezember 2006 abgeschlossen werden, nicht.” Gemäß §140d neu „hat jede Krankenkasse zur Förderung der Integrierten Versorgung in den Jahren 2004 bis 2006 jeweils Mittel bis zu 1 vom Hundert von der nach § 85 Abs. 2 an die Kassenärztliche Vereinigung zu entrichtenden Gesamtvergütung sowie von den Rechnungen der einzelnen Krankenhäuser für voll- und teilstationäre Versorgung einzubehalten.” Dieser Betrag kann auf ca. € 700 Mio. jährlich geschätzt werden (laut amtlicher Begründung auf der Basis des Jahres 2002 € 660 Mio.). Wenn der Leistungerbringer, z.B. Vertragsarzt oder Krankenhaus, an einer integrierten Versorgunsgform mitwirkt, kann er die 1 %ige Einbuße ausgleichen und darüber hinausgehende Erlöse erzielen. Übersteigt der Ressourcenverbrauch durch Integrierte Versorgung das eine Prozent, so sind die Gesamtvergütungen für die vertragsärztliche Versorgung morbiditätsadjustiert zu bereinigen, d.h. diese Gesamtvergütungen verringern sich weiter. Nicht an der Integrierten Versorgung mitwirkende Vertragsärzte werden also mit Honorareinbußen belegt. Das ist allerdings schiedsstellenfähig. Zu bereinigen sind auch die Arzneimittelbudgets mit Rückwirkung auf die arztgruppenspezifischen Richtgrößen. Werden andererseits die Mittel nicht vollständig von integrierten Versorgungsformen verbraucht, sind sie anteilig an die kassenärztlichen Vereinigungen bzw. die Krankenhäuser auszuzahlen.

Die Teilnahme der Versicherten bleibt freiwillig, wenn auch für ein Jahr bindend. Die datenschutzrechtlichen Voraussetzungen (s.o.) bleiben bestehen. Für Versicherte, die an einer Integrierten Versorgung nach § 140a (oder anderen, z.B. Hausarzt-zentrierten Versorgungsformen) teilnehmen, kann „die Krankenkasse gemäß §65a SGB V in ihrer Satzung für die Dauer der Teilnahme Zuzahlungen (§60 SGB V), die nach diesem Gesetz zu leisten sind, ermäßigen. Sie kann in ihrer Satzung die Beiträge mit Ausnahme der nicht vom Mitglied zu tragenden Anteile und der Beitragszuschüsse nach § 106 des Sechsten Buches sowie § 257 Abs. 1 Satz 1 für diese Versicherten ermäßigen”. Integrierte Versorgungsformen haben alle auch sonst geltenden (und im neuen Recht verschärften) Anforderungen an die Qualitätssicherung zu erfüllen.

Das wesentliche Interesse der Krankenkassen an Integrierter Versorgung liegt primär darin, Ausgaben zu senken. Es soll den Krankenkassen aber nicht abgesprochen werden, dass ihnen auch an der mutmaßlich zu erreichenden Verbesserung der Ergebnisqualität zu Gunsten der Versicherten gelegen ist. Da der stationäre Sektor mit rund 35 % der Leistungsausgaben der Krankenkassen den größten Kostenblock darstellt, bietet sich hier das größte Einsparpotenzial. Ziel der Krankenkasse ist also, Krankenhausaufenthalte zu vermeiden und zu verkürzen. Spezielles Ziel ist auch, die Ausgaben für Arzneimittel (rund 16 % der Leistungsausgaben) zu senken. Die Senkung der Ausgaben für ärztliche Behandlung (rund 17 %) wäre zweifellos auch willkommen. Wie können diese Ziele erreicht werden? Grundsätzlich, indem einzelvertraglich Entgelte vereinbart werden, die unter den derzeitigen Entgelten liegen. Das lässt sich am ehesten erreichen, indem Entgelte für Leistungskomplexe vereinbart werden, die ambulante und stationäre Leistungen umfassen. Das Morbiditätsrisiko würde also partiell auf Krankenhaus und ambulant tätige Leistungserbringer, am besten auch Rehabilitationseinrichtungen, verteilt.

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Zu integrierende Leistungserbringer

Damit wären auch die Rentenversicherer als Träger der medizinischen Rehabilitation, soweit die Erwerbsfähigkeit gefährdet ist, und der beruflichen Rehabilitation in die Vertragsverhandlungen einzubeziehen; das dürfte schwierig sein. Darüber hinaus kämen bei psychisch Kranken in besonderem Maße die Träger der Sozialhilfe ins Spiel bezüglich der Wiedereingliederungshilfen. Als Kostenträger für Kranken(haus)behandlung werden die Sozialhilfeverwaltungen im neuen Recht von den Krankenkassen vertreten, denen sie die Kosten zu erstatten haben. Auch die Arbeitsverwaltung einzubeziehen, was eigentlich für die berufliche Reintegration wäre, einzubeziehen, dürfte eine Illusion sein. Bedeutsam und vermutlich erreichbar wäre, die komplementären Dienste (z.B. Einrichtungen des betreuten Wohnens) in - am ehesten separaten - Verträgen einzubinden. Das wäre insbesondere wichtig, um „Wartezeiten” im Krankenhaus zu vermeiden.

Aufseiten der sog. Leistungserbringer besteht selbstverständlich das Interesse, trotz im Vergleich zum Ist geringerer Erlössumme aus den im Leistungskomplex zusammengefassten Einzelleistungen das Ergebnis (den Gewinn) zu erhöhen. Das kann nur gelingen, wenn eigene Kosten vermindert werden - in der Versorgung psychischer Krankheiten sind das überwiegend (im Krankenhaus rund 80 %) Personalkosten. Das wäre die von der Politik angestrebte Effizienzsteigerung. Sie ist erreichbar, wenn weniger Personalzeit einer höheren Zahl von Patienten gewidmet wird, also Zeiten für andere Aufgaben eingespart werden. Außerdem könnten Einsparungen zulasten Dritter, also z.B. bei Arzneimitteln, dem eigenen Ergebnis gutgeschrieben werden. Das alles verlangt eine optimierte Koordination der Behandlungsabläufe und die Fokussierung (Beschränkung) auf tatsächlich therapierelevante (Evidenz-basierte), kosteneffektive Interventionen. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass auf weniger relevante Leistungen verzichtet wird.

Zu den zu integrierenden Leistungserbringern gehören grundsätzlich selbstverständlich alle im multimodalen Behandlungskonzept mitwirkenden Berufsgruppen (also z.B. auch Ergotherapeuten, Physiotherapeuten, Sozialpädagogen, u.a.m.). Hausärzte sind nicht zwingend einzubeziehen. Dies läge aber vermutlich im Interesse der Kostenträger und wäre vermutlich auch insofern sinnvoll, als rund 70 % der von Depressionen, Angstkrankheiten und Demenzen Betroffenen primär und auch langfristig hausärztlich versorgt werden und die Krankenhauseinweisungen überwiegend durch Hausärzte erfolgen.

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Entgeldgestaltung

Welche Entgeltformen schlussendlich vereinbart werden, ist eine Detailfrage. Je umfassender die Leistungskomplexe in einem Entgelt zusammengefasst werden (und selbstverständlich je knapper dieses Entgelt bemessen wird), desto mehr wird das Morbiditätsrisiko auf die Seite der sog. Leistungserbringer verlagert. Im Extrem ist ein sektorübergreifendes, d.h. kombiniertes Budget für alle psychisch kranken Versicherten einer (oder mehrerer) Krankenkasse denkbar. Hier wäre das Morbiditätsrisiko vollständig der Seite der Leistungserbringer übertragen. Wie diese es dann unter einander aufteilen, bliebe binnenvertraglichen Regelungen vorbehalten. Das andere Extrem wäre, dass die Krankenkasse mit jedem Leistungserbringer individuelle Vergütungsvereinbarungen trifft (ob sie sich dazu bereitfinden wird?), diese aber verpflichtend an bestimmte Abläufe koppelt. Hier wären auch erfolgsabhängige „Gewinnbeteiligungen” der Leistungserbringer denkbar. Zwischen beiden Extremen gibt es eine Vielzahl von Varianten, deren ökonomische Auswirkungen auf beiden Seiten abgeschätzt werden müssen.

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Neue Geschäftsfelder erschließen

Wenn das größte Einsparpotenzial (zumindest aus Kostenträgersicht) im Krankenhaus liegt, kann das einerseits nur Personalabbau bedeuten, der dem Krankenhaus kaum willkommen sein wird, oder andererseits, neue Geschäftsfelder zu erschließen, in denen das vorhandene, aber nicht mehr auszulastende Personal tätig wird. Als ein neues Geschäftsfeld bietet sich die Rehabilitation - sei es ambulant oder stationär - an. Die Rehabilitation bietet sich auch deshalb an, weil unter dem auch künftigen Druck der Kostenträger (über den Medizinischen Dienst) auf die Verweildauern (speziell in Einrichtungen für Psychiatrie und Psychotherapie bzw. Psychosomatik, nicht im durch das DRG-System geregelten somatischen Bereich) traditionell im psychiatrischen Krankenhaus erbrachte Rehabilitation kaum noch zu gewährleisten sein wird. Die Rehabilitation wäre insbesondere attraktiv, wenn sie berufliche Rehabilitation zulasten der Rentenversicherung einschließt. Die Kostenträger werden hier aber kaum damit einverstanden sein, dass der Krankenhausträger selbst rehabilitativ tätig wird. Ausgründungen von Rehabilitationseinrichtungen steht aber grundsätzlich nichts im Wege.

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Wettbewerbsfolgen

Aus systemischer Perspektive geht das Kalkül am Ende aber nur auf, wenn es Verlierer gibt. Vom Gesetz vorgesehene Verlierer sind diejenigen Vertragsärzte und Krankenhäuser, die nicht an integrierten Versorgungsformen mitwirken. Je erfolgreicher die Integrierte Versorgung sein wird, desto mehr Geld wird der traditionellen Regelversorgung entzogen. Zu den Verlierern zu gehören, kann am Ende bedeuten, aus dem Kreis der Leistungserbringer auszuscheiden. Auch das ist politisch - und zwar parteiübergreifend - gewollt, seien davon Krankenhausabteilungen oder ganze Krankenhäuser oder Vertragsärzte betroffen. Das nennt sich „solidarischer Wettbewerb” (eigentlich ein Widerspruch in sich).

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50259 Pulheim

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