Medizinische Informationssysteme halten zunehmend Einzug in den klinischen Alltag
und leisten einen wesentlichen Beitrag zur effektiven und transparenten Versorgung
im Krankenhaus. Eingeleitet wurde diese Entwicklung Mitte der 80er Jahre mit der Bundespflegesatzverordnung
und der damit einhergehenden Notwendigkeit der Diagnosendokumentation. Seither haben
mehrere Gesetzeswellen bis hin zur Einführung der so genannten „diagnosis related
groups” (DRGs), die eine detaillierte Dokumentation von Diagnosen und Leistungen erfordern,
die Anforderungen an diese Informationssysteme aber auch an den dokumentierenden Arzt
kontinuierlich erhöht.
Leider stand bei der Implementierung dieser Informationssysteme die Unterstützung
der Dokumentation für die Verwaltung - also für Abrechnung und Kostenrechnung - im
Vordergrund der Überlegungen. Umfassende medizinische Informationssysteme sollten
aber durch darüber hinaus gehende Funktionen ein hilfreiches Werkzeug in der Hand
des klinisch tätigen Arztes sein und auch den klinischen Versorgungs- und Entscheidungsprozess
unterstützen.
Die digitale Krankenakte
Die Vielfalt der verschiedenen Definitionen zur digitalen („elektronischen”) Krankenakte
in der einschlägigen Literatur zeigt, wie schwer es ist, diesen weit gefassten Begriff
tatsächlich zu operationalisieren und ihm Leben einzuhauchen [5]
[7]
[14]. Laut der einfachsten Definition ist eine digitale Akte „die vollständig auf digitalen
Speichermedien abgelegte Sammlung der medizinischen Informationen zu einem Patienten
sowie die zugehörige Interaktions- und Präsentationskomponete” [9]. Prinzipiell ist damit eine Speicherung aller Dokumente in gescannter Form - wie
es zum Beispiel gängige Dokumentenmanagementsysteme möglich machen - schon eine digitale
Krankenakte [Abb. 1]. Bei Waegemann, der fünf Stufen zum „Electronic Health Record” beschreibt, entspricht
dies der zweiten Stufe, dem „computerized medical record” [17].
Dokumentenorientierte Informationssysteme
An dieser Definition orientieren sich dokumentenorientierte medizinische Informationssysteme.
Sie stellen architektonisch das einzelne Dokument in den Mittelpunkt und erlauben
es, die vielfältigen medizinischen Dokumente elektronisch zu erfassen, abzulegen und
wiederzufinden. Die Interaktions- und Präsentationskomponente dieser so realisierten
digitalen Akten orientiert sich zumeist an den bekannten Ordnerstrukturen eines allseits
präsenten Betriebssystems [Abb. 1]. Das konkrete Arbeiten mit diesen Akten ist gekennzeichnet durch eine Vielzahl von
Navigations- und Suchvorgängen, um eine bestimmte Information bzw. ein Dokument zu
finden. Fraglich bleibt bei diesem Lösungsansatz der gewinnbringende Nutzen, denn
dieser beschränkt sich hier auf den Zugriff auf Vorhandenes.
Wird jedoch eine weiter gehende handlungsorientierte Unterstützung durch den Einsatz
der Informationstechnologie erwartet, reicht eine solche Definition bzw. Implementierung
der digitalen Krankenakte nicht mehr aus. Dazu ist es nötig, so genannte Metadaten
zu Dokumenten (z.B. Art des Dokuments; medizinische Prozedur, die damit dokumentiert
wird) ergänzend zu erfassen und zu speichern. Auch inhaltliche Einzelangaben bestimmter
Dokumente gehören in diesen Bereich.
Ein einfaches Beispiel soll dies verdeutlichen: Die Speicherung verschiedener gescannter
Formulare zur Bartheleinstufung erlaubt es, diese zwar wieder abzurufen, sie ermöglicht
aber weder die automatische Berechnung des Summenscores, noch eine grafische Verlaufsdarstellung
der einzelnen Einstufungen oder des Gesamtscores. Denn auf die Werte aus dem gescannten
Dokument kann nicht zurückgegriffen werden. Eine weitere Verarbeitung oder eine andere
Präsentation der Daten ist also nicht möglich!
Die vorangehende Definition muss demnach eine Erweiterung im folgenden Sinne erfahren:
„Die digitale Patientenakte ist die vollständig auf digitalen Speichermedien abgelegte
Sammlung der medizinischen Informationen zu einem Patienten in einer für die Erfüllung
der Primärziele und der nachgeordneten Verwendungszwecke einer Krankenakte ausreichend
strukturierten und formalisierten Form sowie die zugehörigen Interaktions- und Präsentationskomponente(n)”
[9].
Prozessorientierte Informationssysteme
Im Fokus der prozessorientierten Informationssysteme steht daher der Behandlungsprozess
mit seinen einzelnen Handlungen und den diesen zugeordneten Dokumenten, Diagnosen
und Ereignissen [Abb. 2]. Dreht man diesen zeitorientierten Prozess um 90 Grad, so erhält man eine zeitverlaufsorientierte
(elektronische) Darstellung des Behandlungsprozesses im Informationssystem [Abb. 3]. Werden den einzelnen Handlungen nun die zugehörigen Dokumente - wie zum Beispiel
Formulare, Bilder oder Videos - zugeordnet, erschließen sich die Dokumente und die
Inhalte der Akte zeitlich und inhaltlich kontextuell über den Prozess.
Über die semantisch benannten und innerhalb einer Versorgungseinrichtung standardisierten
Handlungsbegriffe (Maßnahmen, Prozeduren) lässt sich die so vorliegende Krankenakte
nach beliebigen Kriterien filtern und ordnen: So ist beispielsweise ein Überblick
zu allen durchgeführten Röntgenuntersuchungen, allen EKGs oder bestimmten konkreten
Maßnahmen möglich, aber auch alle Maßnahmen bezogen auf eine bestimmte Diagnose sind
nachzuvollziehen.
Das konkrete Arbeiten mit diesen Akten ist gekennzeichnet durch
-
eine geringe Navigationstiefe - wodurch man sehr schnell und gezielt zu bestimmten
Informationen gelangt
-
eine hohe semantische Transparenz
-
vielfältige Filter- und Sortierkriterien.
So bieten medizinische prozessorientierte Informationssysteme die Möglichkeit, Behandlungsprozesse
retrospektiv sowohl medizinisch für das Qualitätsmanagement als auch ökonomisch für
die Prozesskosten- und Deckungsbeitragsrechnung auszuwerten. Vor allem ermöglichen
sie aber auch eine Behandlung - z.B. mittels definierter Pfade oder Leitlinien - prospektiv
zu planen und zu überwachen. Daher ist die Prozessorientierung dieser Systeme das
Paradigma der Zukunft, die Voraussetzung für den Einsatz klinischer Pfade und die
Implementierung eines (auch einrichtungsübergreifenden) Case-Managements.
Damit ist die digitale Krankenakte Teil und Basis klinischer Informationssysteme.
Darüber hinaus macht sie aber auch die Erfassung und die Verwaltung von Einzelinformationen
sowie Funktionalitäten möglich, die über den statischen Aspekt einer digitalen Krankenakte
- Erfassen, Archivieren und Wiederfinden von Patientenakten und -dokumenten - weit
hinausgehen.
Handlungsunterstützende Bausteine
Die entscheidende Frage auf Basis der vorangehenden Definition ist also: Welche Primärziele
und nachgeordneten Verwendungszwecke bilden die Intentionen für den Einsatz einer
digitalen Krankenakte? Drängt man einmal die verwaltungsorientierten Zielsetzungen
in den Hintergrund, so sind die vorrangigen Aufgaben klinischer Informationssysteme:
-
die Unterstützung des ärztlichen Handelns
-
die Unterstützung des pflegerischen Handelns
-
die Unterstützung des Qualitätsmanagements
-
die Unterstützung der medizinischen und administrativen Betriebsführung.
Unabhängig von der medizinischen Fachrichtung gibt es verschiedene Lösungsbausteine,
wie klinische Informationssysteme diese Ziele umsetzen können.
Basisdokumentation, „Disease Staging” und Assessments
Die Vielzahl der in konventionellen Papierakten abgelegten Dokumente erlaubt keinen
raschen und effizienten Überblick zum aktuellen Zustand des Patienten oder zur epikritischen
Bewertung des - auch fallübergreifenden - Verlaufes. Dies ist aber wichtig, um strategische
und taktische ärztliche Entscheidungen im Kontext einer Vielzahl von Variablen fällen
zu können. Ein wesentliches Ziel klinischer Informationssysteme ist daher die effektive
und übersichtliche Breitstellung aktueller medizinischer Informationen zu einem Patienten
[3].
Schon früh wurde vor diesem Hintergrund das Konzept der klinischen Basisdokumentation
vorgestellt [12], grundsätzliche Überlegungen gehen bis in die 30er Jahre zurück. Das Konzept hat
aber aufgrund der nur aufwändigen Umsetzbarkeit auf Basis der Papierdokumentation
- im Wesentlichen durch die doppelte Dokumentation von Diagnosen, Risikofaktoren usw.
in den Detaildokumenten und auf einem gesonderten Basisdokumentationsbogen - nie breite
Anwendung gefunden.
Erst elektronische Verfahren machen es heute möglich, einmal erfasste medizinische
Angaben flexibel für verschiedenste Zwecke zusammenzustellen. Quasi „auf Knopfdruck”
sind so die aktuellen Diagnosen, die aktuellen Probleme wie Risiken und Handicaps,
die aktuellen Anordnungen und deren Durchführungsstatus sowie zum Beispiel ein fachspezifisches
Assessment oder spezielle Scores rasch zu überblicken [Abb. 4].
Denkbar ist es auch, die aktuelle Medikation mit aufzunehmen. Zusätzlich wäre zum
Beispiel denkbar, dass sich einzelne Assessmenteinstufungen bzw. Scores durch in anderen
Dokumentationsfunktionen der Akte eingetragene Werte selbst aktualisieren [10]. Als Lösungsbaustein steht so quasi ein patientenbezogenes ärztliches „Informationscockpit”
zur Verfügung, das medizinisches Handeln durch eine hohe, effektive und zeitnahe Informationstransparenz
unterstützt und von dem aus auf weitere Detailinformationen und Dokumente bzw. neue
Anordnungen verzweigt werden kann.
Problemorientiertes Krankenblatt
Weltweit große Resonanz erfuhr das Konzept des problemorientierten Krankenblattes,
das Larry Weed erstmals 1969 vorstellte [4]
[18]: „Das Krankenblatt braucht nicht bloß eine statische proforma-Ablage von medizinischen
Beobachtungen und Tätigkeitsnachweisen zu sein, die in sinnloser Anordnung nach ihren
Quellen - Arzt, Schwester, Labor oder Röntgenabteilung - angelegt ist, anstatt mit
Bezug auf die zugrunde liegenden Probleme. Es kann problemorientiert sein und damit
zu einem dynamischen, strukturierten, kreativen Instrument werden, das eine umfassende
und hochspezialisierte medizinische Versorgung ermöglicht.”
Grundidee ist die Orientierung bzw. die Ergänzung der Dokumentation und des ärztlichen
Vorgehens an den spezifischen Problemen des Patienten. Auch dieses Konzept ließ sich
aufgrund der vielen doppelten Schreibarbeit mit reinen papierbasierten Akten jedoch
nicht konsequent umsetzen. Integriert in klinische Informationssysteme kann aber ein
solcher Baustein sehr wohl zu einem wertvollen Instrument werden, in dem problembezogene
Maßnahmen, Ziele, Verlaufsnotizen und Problemzusammenhänge dokumentiert werden können
und Anordnungen in Bezug auf Einträge aus der Problemliste erfolgen [Abb. 5].
Behandlungsmanagement und klinische Pfade
Ärztliches und pflegerisches Handeln ist gekennzeichnet durch die patientenorientierte
problem- bzw. diagnosebezogene Strategie sowie durch situationsspezifische Einzelinterventionen
bzw. -maßnahmen. Welche Leistungen sind jedoch zur differenzialdiagnostischen Abklärung
notwendig - gegebenenfalls auch in welcher Reihenfolge? Welche Maßnahmen im Zeitverlauf
sind bei einer Therapie gegebenenfalls mehrfach anzuwenden? Welchen klinischen Kernprozess
führen wir generell bei Diagnose „x” immer durch?
Neben einem Handlungsprozess vor epidemiologischem Hintergrund und gesichertem Faktenwissen
evidenzbasierter Vorgehensbeschreibungen im Rahmen von Leitlinien stehen viele Kliniken
heute vor der Einführung klinischer Pfade. Diese sind im Gegensatz zu den Leitlinien
vereinfachte, meist lineare multidisziplinäre Handlungsstränge, die sich auf ein definiertes
Problem beziehen (z.B. eine Operation oder eine bestimmte Diagnose). Sie beschreiben,
welche Handlungen am ersten Tag, am zweiten Tag usw. durchzuführen sind [6].
Ein Behandlungsmanagement kann auf der Basis prozessorientierter Informationssysteme
ganz wesentlich unterstützt werden [8]: So können vordefinierte klinische Pfade elektronisch abgelegt werden [Abb. 7] - beispielsweise über entsprechende Definitionsbildschirme [Abb. 6] oder grafische Editoren [11]. Diese wiederum können bei Bedarf nach einer patientenbezogenen Individualisierung
- wie das Streichen oder Hinzufügen verschiedener Maßnahmen oder das Ändern von zeitlichen
Distanzen oder Frequenzen - direkt zur Abarbeitung bzw. Dokumentation in die digitale
Krankenakte übernommen werden [Abb. 7].
Benachrichtigungs- und Erinnerungsfunktionen
Ein weiterer hilfreicher Baustein, der heute in kommerzieller Software aber nur selten
zu finden ist, sind die Benachrichtigungs- und Erinnerungsfunktionen („message” und
„reminder”) in klinischen Systemen [1]. Definierte Eingaben oder Änderungen der Daten sind die Basis, auf deren Grundlage
automatisiert elektronische Nachrichten an bestimmte Personen oder Gruppen verschickt
werden, die an der Behandlung der Patienten beteiligt sind. Die Komplexität reicht
hier von einfachen administrativen oder organisatorischen Benachrichtigungen bis hin
zu wissensbasierten Remindern.
Ein einfaches Beispiel: Ein Arzt in MedAktIS - einem an der Fachhochschule Dortmund
als Lehrexponat entwickelten klinischen Informationssystem - ändert den geplanten
Entlassungstag. Daraufhin benachrichtigt das System automatisch jene Therapeuten (z.B.
Logopäden, Physiotherapeuten) auf elektronischem Weg, bei denen der Patient regelmäßig
zur Therapie ist. Gleichzeitig werden die Therapietermine im elektronischen Kalender
der Therapeuten entsprechend bis zum neuen Entlassungstag verlängert (oder gekürzt).
Zusätzlich erhält die zentrale Patientenaufnahme eine entsprechende eMail.
Ein weiteres Anwendungsbeispiel ist die automatische Benachrichtigung des behandelnden
Arztes, wenn sich bestimmte Laborwerte normalisiert haben. Dieser kann dann gegebenenfalls
die Medikation ändern. Möglich wäre aber auch die Meldung über neu eingetroffene Untersuchungsergebnisse
oder eine Änderung des Zustands des Patienten auf Basis definierter Scores. All dies
kann per elektronischer Post geschehen. Heute besteht zudem die Option, die Nachricht
per SMS („short message service”) an Handys bzw. PDAs („personal digital assistants”)
oder in geeigneter Weise an den Piepser zu übermitteln.
Literaturdatenbanken und Wissensbasen
In den vergangenen Jahren können wir auf wichtige Informationsquellen der Medizin
immer häufiger öffentlich und schnell zugreifen - entweder über das Internet oder
über einschlägige Informationsdienste. Damit entstand die Möglichkeit, aus klinischen
Informationssystemen heraus kontextsensitiv - also unter Einbezug der konkreten klinischen
Situation eines bestimmten Patienten - individuelle Fragestellungen abzufragen [2]
[13].
Auch hier ein einfaches Beispiel: In der Basisdokumentation bzw. dem Informationsbildschirm
in Abbildung 4 zu einem aktuellen Fall sind die aktuellen Diagnosen links oben übersichtlich
aufgelistet. Durch einen Klick mit der rechten Maustaste auf eine Diagnose erscheint
ein Kontextmenü, mit dem es möglich ist, mit dieser Diagnose beispielsweise eine Recherche
in MEDLINE zu starten [Abb. 8]. Dabei wird im Hintergrund für die Abfrage auch der zugeordnete ICD-Code - oder
besser wenn eine entsprechende Transformationstabelle im klinischen System zum MESH
(„medical subject headings”) hinterlegt ist, der MESH-Code - für die Abfrage verwendet.
Weitere Anwendungen dieser Funktion, zum Beispiel zur Aktivierung diagnose- und patientenbezogener
Nachrichtendienste, sind denkbar.
Entscheidungsunterstützende Funktionen
Abzugrenzen von all diesen Ansätzen, die im Wesentlichen vorhandene Informationen
organisieren, kontextsensitiv auffinden und sachgerecht präsentieren sind wissensbasierte
entscheidungsunterstützende Funktionen. Hier wendet das Informationssystem auf Basis
einer hinterlegten Wissensbank selbstständig eben dieses „Wissen” an und gelangt zu
Schlussfolgerungen oder Entscheidungsvorschlägen. So vielfältig und hoffnungsfroh
die ersten Ansätze und Einschätzungen Mitte der 80er Jahre hierzu waren, so ernüchternd
waren die tatsächlich erzielten Ergebnisse.
Bislang hat es die kombinatorische Explosion des Problemraumes in der Medizin nicht
möglich gemacht, umfassende Diagnostikexpertensysteme zu implementieren. Der Arzt
bleibt als handelnder Experte Souverän seines Berufsfeldes. Nur in sehr isolierten
Betrachtungsbereichen wie der Labordiagnostik, der Auswertung von Signalen oder Bildern
sowie der Berechnung von Wahrscheinlichkeiten für die Prognose können wir heute von
Computern expertenähnliche intelligente Leistungen erwarten. Insofern hat sich der
Forschungsschwerpunkt des „medical knowledge enigneerings” von der Entwicklung „klassischer”
Expertensysteme zum Aufbau wissensbasierter Systeme verlagert [15], deren Ziel es ist, dem Benutzer formal modelliertes und damit algorithmisch auffindbares
und anwendbares Wissen schnell und kontextsensitiv zur Verfügung zu stellen.