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DOI: 10.1055/s-2003-44545
Muss man jedes Cholesteatom operieren?
Is Surgery Necessary in Every Case of Cholesteatoma?Publication History
Publication Date:
21 November 2003 (online)
Die dem Rundtischgespräch zugrundeliegende Frage lässt selbstverständlich keine einfache Antwort zu. Sie betrifft weniger die „klaren Fälle” mit dem klinischen Vollbild der Erkrankung als vielmehr jene Grenzfälle, Vorstadien, Frühstadien, bei denen Fragen der Cholesteatomdefinition relevant werden. Aber auch bei den „klaren Fällen” kann im Einzelfall die Frage der akuten Operationsindikation bzw. der Terminplanung oder Patientenführung Schwierigkeiten bereiten, etwa bei gleichzeitig schlechtem Allgemeinzustand des Patienten, letzthörendem Ohr oder - gut auf lokale Maßnahmen ansprechenden Befunden.
Die Rundtischteilnehmer gaben jeweils kurze Statements zu Grundlagen, diagnostischen Maßnahmen, zur Therapie und zur Patientenführung ab.
So ging Herr Sudhoff auf die Cholesteatomdefinition bzw. ätiologische und pathogenetische Fragen ein. Demnach muss jede Anwesenheit von verhornendem Plattenepithel in den Mittelohrräumen als Cholesteatom gewertet werden. Durch dessen weitere Ausbreitung kommt es zu den bekannten Destruktionen der angrenzenden knöchernen Strukturen mit zum Teil lebensbedrohlichen Komplikationsmöglichkeiten. Es handelt sich um eine Ansammlung verhornender, zwiebelschalenartig geordneter Epidermismassen, deren epithelialer Anteil als Cholesteatommatrix bezeichnet wird. Das subepitheliale Bindegewebe, Perimatrix, weist in der Regel eine chronisch inflammatorische Reaktion auf. Erworbene Cholesteatome entstehen in der Regel durch das Einwachsen von Plattenepithel durch einen primären Defekt oder aus nicht mehr selbstreinigenden Retraktionstaschen. Der Entstehungsmechanismus der erworbenen Cholesteatome ist trotz neuer Erkenntnisse nicht in allen Fällen eindeutig geklärt. Unstrittig ist, dass ein Teil der Cholesteatome aufgrund von Tubenventilationsstörungen aus sich vergrößernden, vorwiegend nach epitympanal vorwachsenden Retraktionstaschen entsteht. In Abhängigkeit von inneren (z. B. Otitis media) oder äußeren Entzündungsreizen (z. B. Otitis externa, Ansammlungen von Detritus) kommt es zur Freisetzung von Wachstumsfaktoren und Zytokinen. So lange die Möglichkeit eines Selbstreinigungsmechanismus gegeben ist und das Keratin desquamiert wird, scheint ein papilläres Tiefenwachstum der basalen Keratinozyten der Retraktionstasche nicht induziert zu werden. Bei nicht mehr gegebener Selbstreinigung der Tasche ist dagegen von einer Progredienz des entzündlichen Prozesses auszugehen mit Tiefenwachstum und cholesteatomtypischer Osteolyse angrenzender Strukturen und damit verbundenen Komplikationen.
Fragen zur Klinik, Diagnostik und Therapie wurden schwerpunktmäßig von den Herren Hoppe, Fischer und Tolsdorff dargestellt. Dabei hob Hoppe hervor, dass in der Regel klinisches Erscheinungsbild und ohrmikroskopischer Befund weitaus größere Bedeutung haben als beispielsweise bildgebende Verfahren. So sei eine Röntgenaufnahme nach Schüller in den meisten Fällen ausreichend, ein hochauflösendes Felsenbein-CT nicht obligat. Letztere sollte, wie die weitere Diskussion zeigte, Sonderfällen oder Komplikationen vorbehalten bleiben. Die Frage nach der routinemäßigen Notwendigkeit einer Röntgenaufnahme nach Schüller wurde insofern bejaht, als dass damit nicht nur Aussagen über Ausdehnung des Cholesteatomwachstums und damit verbundener knöcherner Destruktionen möglich sind, sondern auch ganz wesentliche Hinweise zur Planung („offenes”/„geschlossenes” Operationsverfahren) gemacht werden können.
Hoppe wies aufgrund einer Würzburger Untersuchung an 1864 primären Cholesteatomen darauf hin, dass in 5 - 6 % der Fälle mit einer unter der Operation zu beobachtenden Fistel zum Bogengangssystem bzw. (seltener) zur Schnecke gerechnet werden müsse, auch wenn präoperativ kein Fistelsymptom nachweisbar gewesen sei.
Aus der Sicht des Belegarztes betonte Tolsdorff die Notwendigkeit hals-nasen-ohrenfachärztlicher Kompetenz in der Cholesteatombeurteilung, gerade in der Frage der Operationsindikation bzw. der Terminplanung. Binokulares Untersuchungs- bzw. Operationsmikroskop, Endoskope zur Ausspiegelung versteckter Taschen seien für die Diagnostik ebenso unverzichtbar wie ein spezielles Instrumentarium mit Absaugmöglichkeiten, Küretten, Zängelchen etc. für die adäquaten Behandlungsmöglichkeiten. Am Mikroskop oder Endoskop angeschlossene Videokameras mit digitalen Speicherungsmöglichkeiten erleichterten die zeitliche Beurteilung des Krankheitsverlaufes bzw. auch die Einbeziehung des Patienten bzw. dessen operative Aufklärung. Die präoperativen lokalen pflegerischen Maßnahmen umfassen die Säuberung des Ohres mit Absaugen, Abtragen von Granulationen oder Keratin mit Zängelchen und Blakesly, Ausspülen mit H2O2, evtl. „Trockenlegung” mit Fön, Auspinseln mit Fuchsin, Jodoform-Gaze-Streifeneinlagen sowie Betaisodona-Auspinselungen (kontraindiziert bei offener Pauke und/oder Jodallergie). Bei laufendem Ohr, vor allem bei Komplikationen und „letztem Ohr” sollte eine möglichst dem Keimspektrum (Abstrich!) angepasste parenterale, ggf. auch lokale Antibiotikatherapie erfolgen.
Bezüglich der generellen chirurgischen Vorgehensweisen erläuterte Fischer Unterschiede zwischen offener und geschlossener Operationstechnik, wobei Letztere dann vorliegt, wenn die hintere Gehörgangswand erhalten oder rekonstruiert ist und sich hinter dieser zumindest ein belüftetes Antrum befindet. Dies führt zu einer annähernd normal tiefen Pauke mit einer guten Schwingungsfähigkeit der erhaltenen oder rekonstruierten Gehörknöchelchenkette. Kleinere Cholesteatome des Antrums oder des Epitympanons können bei geringer Pneumatisation über eine Attico-Antrotomie über den Gehörgang unter Verfolgung des Cholesteatoms operiert werden. Bei nur gering eingeschränkter Pneumatisation ist die Anlage eines Antrumbohrloches zur Abschätzung der Ausdehnung des Cholesteatoms hilfreich. Bei ausgedehnter Pneumatisation, ausreichender Tubenfunktion und kleinerem Cholesteatom kann ein antero-posteriorer Zugang gewählt werden, unter Einbeziehung einer posterioren Tympanotomie. Hingegen sollte bei kleinem, gering pneumatisiertem Mastoid oder vorverlagertem Sinus, bei großen Cholesteatomen sowie behinderter Tubenfunktion primär an die Anlage einer offenen Mastoidhöhle gedacht werden. Hier ist es wichtig, eine möglichst kleine, selbstreinigende Höhle zu erzielen. Fischer ging ferner auf die Möglichkeit einer - meist im zweiten Operationsschritt durchgeführten - Höhlenverkleinerung ein sowie auf Maßnahmen zur Kettenrekonstruktion. Derzeit ist in Essen das Verhältnis offener/geschlossenen Operationstechnik 50 : 50.
Zur eigentlichen Fragestellung, ob tatsächlich jedes Cholesteatom operiert werden müsse, kann nach den Ausführungen der Rundtischteilnehmer bzw. der Diskussion Folgendes gesagt werden: Die Abgrenzung zwischen einer übersichtlichen, einer unübersichtlichen Retraktionstasche bzw. einem Cholesteatom ist fließend. Nur bei trockenen, absolut überschaubaren Prozessen ohne „Aktivitätszeichen” und regelmäßiger Kontrollierbarkeit des Patienten kann ein Abwarten zulässig sein. Voraussetzung ist allerdings die Beurteilung durch einen erfahrenen Ohroperateur sowie die Aufklärung des Patienten über mögliche Komplikationen bei einer Exazerbation. In diesem Zusammenhang brachte Tolsdorff den Begriff des „ausgebrannten Cholesteatoms” in die Diskussion, d. h. die Situation, in der das Cholesteatom selbst durch Knochenabbau eine „spontane” offene Höhle geschaffen hat, die dadurch wieder einer Beurteilung bzw. Pflege zugänglich wird. Solche Fälle sind seltene Ausnahmen, sie dürfen keineswegs erwartet werden.
Multimorbide Patienten mit deutlich erhöhtem Narkose- bzw. Operationsrisiko können in Einzelfällen bei regelmäßiger Reinigung und Entfernung von Detritus über längere Zeit klinisch beobachtet werden. Bei einem „letzthörendem Ohr” ist eine individuelle Entscheidung notwendig, vor einer Operation sollte jedoch die Möglichkeit einer evtl. CI-Versorgung des ertaubten Ohres überprüft werden. Selbstverständlich sollte ein solcher Fall von einem otochirurgisch sehr Erfahrenen operiert werden.
Bei alten Radikalhöhlen mit anhaltenden Entzündungsschüben ist gleichfalls der Rat zur Revision zu geben, da die Ursache erfahrungsgemäß häufig kleine, nicht einsehbare Cholesteatom„nester” sind.
Generell hat sich nichts an der Anschauung geändert, dass Cholesteatome ernste, potenziell lebensbedrohliche Erkrankungen darstellen, deren erste Therapieoption die Operation ist. Ein sofortiger chirurgischer Eingriff ist indiziert beim Auftreten von Komplikationen (Schwindel, Fazialisparese, Abfall der Innenohrfunktion, zentralen Komplikationen).
Die oben geschilderten Fälle, bei denen unter ständiger Beobachtung zugewartet oder gar eine Operation umgangen werden kann, sind als seltene Ausnahmen anzusehen. Es sollte hierbei immer beachtet werden, dass ein Zuwarten zu einer fortschreitenden Destruktion der Gehörknöchelchenkette führen kann und somit das audiologische Ergebnis der Tympanoplastik durch den späteren Operationszeitpunkt negativ beeinflusst wird.
Prof. Hans W. Pau
Klinik und Poliklinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Kopf- und Halschirurgie ·
Doberaner Straße 137 · 18055 Rostock
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