PiD - Psychotherapie im Dialog 2004; 5(1): 1-2
DOI: 10.1055/s-2003-814809
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Anorexie

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Publication Date:
12 March 2004 (online)

„Du hungerst noch immer?” fragte der Aufseher, „wann wirst du denn endlich aufhören?”
„Verzeiht mir alle” flüsterte der Hungerkünstler; nur der Aufseher, der das Ohr ans Gitter hielt, verstand ihn.
„Gewiss”, sagte der Aufseher und legte den Finger an die Stirn, um damit den Zustand des Hungerkünstlers dem Personal anzudeuten, „wir verzeihen dir.”
„Immerfort wollte ich, dass ihr mein Hungern bewundert”, sagte der Hungerkünstler.
„Wir bewundern es auch”, sagte der Aufseher entgegenkommend.
„Ihr sollt es aber nicht bewundern”, sagte der Hungerkünstler.
„Nun, dann bewundern wir es also nicht”, sagte der Aufseher, „warum sollen wir es denn nicht bewundern?”
„Weil ich hungern muss, ich kann nicht anders”, sagte der Hungerkünstler.
„Da sieh mal einer”, sagte der Aufseher, „warum kannst du nicht anders?”
„Weil ich”, sagte der Hungerkünstler, hob das Köpfchen ein wenig und sprach mit wie zum Kuss gespitzten Lippen gerade in das Ohr des Aufsehers hinein, damit nichts verloren ginge, „weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt, hätte ich sie gefunden, glaube mir, ich hätte kein Aufsehen gemacht und mich vollgegessen wie du und alle.”
Das waren die letzten Worte, aber noch in seinen gebrochenen Augen war die feste, wenn auch nicht mehr stolze Überzeugung, dass er weiterhungre. (Franz Kafka, 1924, Ein Hungerkünstler)

Diese Beschreibung wurde im Jahr 1924 unter dem Titel „Ein Hungerkünstler” von Franz Kafka veröffentlicht. Er hat das Bild der Magersucht treffend erfasst, auch wenn es sich hier, ganz untypisch, offensichtlich um einen Mann handelt.

Wie aus den verschiedenen Beiträgen dieses Heftes zu entnehmen sein wird, handelt es sich bei der Anorexia nervosa um ein hoch akutes, ausschließlich psychisch bedingtes Krankheitsgeschehen, das ohne Behandlung in einem hohen Prozentsatz sogar zum Tode führen kann. Das Leitsymptom, eben der kontinuierliche, unbezwingbare Drang abzunehmen, mit welchen Mitteln auch immer, führt typischerweise zu einem erbitterten Widerstand gegen jeglichen ausgeübten Druck von anderen Personen, doch zuzunehmen. Die Abmagerung wird nicht wahrgenommen, und es besteht die oft wahnhaft anmutende Vorstellung, trotz des schon bestehenden Untergewichtes zu dick zu sein.

Vielmehr aber noch: „Immerfort wollte ich, dass Ihr mein Hungern bewundert”, lässt Kafka seinen Hungerkünstler sagen. Magersüchtige wollen für die Leistung, den Hunger unter großen Strapazen überwunden zu haben, auch bewundert werden. Diese Leistung ist für jeden sichtbar, anders als bei der „heimlichen Schwester” der Magersucht, der Bulimie (siehe PiD 2, 2001).

Die narzisstische Thematik im Selbstbild der Patientinnen findet in der Gestaltungstherapie während einer Behandlung häufig Ausdruck in dem Bild einer Blume. Das Titelbild dieses Heftes, eine Tulpe ohne Wurzel und ohne Nahrungszufuhr, stammt von einer Patientin. Es stellt ihr inneres Idealbild von Vollkommenheit in völliger Unabhängigkeit und Autonomie dar. Scheinbar ohne (Trieb-)Bedürfnisse lebt sie im Glauben an die eigene Autarkie, indem sie die Abhängigkeit von der eigenen Triebnatur und insbesondere von den sie versorgenden Personen verleugnet. Aus dieser Perspektive kann jedes Hilfsangebot zu einer Gefahr für die magersüchtigen Menschen werden, die entschieden abgewehrt werden muss.

Damit haben wir schon sehr zentrale Themen zum Verständnis der Magersucht und für ihre Behandlung angesprochen, sie werden in diesem Heft aus verschiedenen therapeutischen Perspektiven heraus beleuchtet.

Taucht diese Erkrankung auf, ist ihre Wirkung meist immens. Auf die „Hungerkrankheit” - so wird sie gerne von Jugendlichen genannt - wird in der Nachbarschaft oder in dem Klassenverband mit Abstand reagiert. Ängstlichkeit entsteht, sobald einmal das Essverhalten der jungen Tochter in der normalen Pubertätsaskese sich verändert, oder wenn nach der Lektüre von einschlägigen Frauenzeitschriften plötzlich der Sinn nach Diät steht, auch wenn eine Gewichtsabnahme nicht notwendig ist. Wird es womöglich wie bei dem Suppenkasper enden?

Schon in der Kinderstube wurden wir vor den Gefahren der Magersucht gewarnt, wenn wir uns dem Ernährungsreglement unserer Eltern entziehen wollten. Dem Nervenarzt Hoffmann, dem Verfasser des Struwwelpeters, soll übrigens bei dem „Suppenkasper” eine magersüchtige Klavierlehrerin Modell gestanden haben, die glaubte, sich durch Essen und Faulsein versündigt zu haben.

Die Nahrungsverweigerung im Fasten hat für unseren Kulturkreis eine besondere Bedeutung. Fasten dient als asketische Haltung der Reinigung von Schuld und Sünde; Heilfasten wird angeordnet, um den Körper von Schmutz und Krankheit zu befreien, viele Heilpraktiker leben davon; Hungerstreik dient der Durchsetzung politischer Ziele.

Auch in der Literatur findet sich eine intensive Beschäftigung mit der Thematik der Nahrungsverweigerung, neben den genannten von Franz Kafka etwa die Gestalt der Otilie in Goethes Wahlverwandtschaften oder die Hauptfigur in dem autobiografischen Fragment „Haus der verrückten Kinder” von Valerie Valere.

Dieser kleine Exkurs zeigt, dass die Magersucht nicht lediglich eine durch ein absonderliches Verhalten ausgelöste und sich dann körperlich manifestierende Krankheit ist. Das Krankheitsgeschehen hat über das körperliche Erscheinungsbild hinaus weit reichende psychologische, soziale und soziokulturelle Dimensionen, die für das Verständnis dieser Krankheit ebenso beachtet werden müssen wie die körperlichen Erscheinungsformen. Zu solchen Fragen und Aspekten möchte dieses Heft einen Beitrag leisten, auch wenn wir nur einen kleinen Teil der Fragen beantworten können.

Zuletzt noch eine Anmerkung zu epidemiologischen Daten zur Magersucht. Muss diese Erkrankung den gleich zu Beunruhigung führen? Aus unserer Sicht schon:

Man schätzt eine Häufigkeit der Magersucht von knapp 1 % bei Frauen (die Prävalenzraten liegen zwischen 0,35 und 1,1 %, in Risikogruppen, z. B. bei Tänzerinnen und Modells, 7 %) während der Adoleszenz, die Mortalität dieser Patientengruppe ist mit bis zu 18 % sehr hoch. Zum Vergleich liegt das lebenslange Risiko der Erwachsenenbevölkerung, an einer Schizophrenie zu erkranken, ebenfalls bei etwa 1 %, das Risiko an einem Suizid zu sterben, liegt mit 1 - 2 % etwas höher.

Beunruhigend ist es auch, wenn man über die Magersucht hinaus die anderen Essstörungen mitbetrachtet, denn dann steigt das Risiko für junge Frauen, daran zu erkranken, ganz beträchtlich.

Beunruhigend sollte zudem für unsere Gesundheitspolitik sein, dass Magersucht wie Bulimie nahezu ausschließlich Krankheiten junger Frauen und Mädchen sind, und dass zumindest die Bulimie in den Ländern der westlichen industrialisierten Zivilisation im Vormarsch zu sein scheint. Die Magersucht - wie die Bulimie auch - ist eine sehr schwere, zudem häufige Erkrankung junger Menschen mit enorm weit reichenden körperlichen und psychosozialen Folgen. Unsere Gesellschaft muss sich darüber Gedanken machen, wie diesen jungen Menschen zukünftig besser geholfen werden kann, wozu dieses Heft in Fortsetzung des Heftes zur Bulimie einen Beitrag leisten möchte.

Wolfgang Senf

Arist von Schlippe

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