Suchttherapie 2004; 5(1): 16-20
DOI: 10.1055/s-2004-812944
Schwerpunktthema
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Was, wie erreichen und warum? Welche Paradigmen steuern die Suchttherapie der Zukunft?

Treatment Goals and Pathways to them.What are the Future Paradigms in Addiction Treatment?M. Krausz1
  • 1Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung der Universität Hamburg (ZIS), c/o Zentrum für Psychosoziale Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie im UKE, Hamburg
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M. Krausz

Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung der Universität Hamburg (ZIS), c/o Zentrum für Psychosoziale Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie im UKE

Martinistr. 52

20246 Hamburg

Email: krausz@uke.uni-hamburg.de

Publication History

Publication Date:
21 September 2005 (online)

Table of Contents #

Zusammenfassung

Systeme, auch wenn sie eigene Besonderheiten und Gesetze ­haben, realisieren sich über ihre Teile. Diese sind in therapeu­tischen Systemen, wie Suchttherapiesystemen, einzelnen Teams oder bei Therapeuten zu finden. Sie sind die Träger von Behandlungsphilosophien, Werten und Paradigmen, die auf vielfältige Art und Weise zustande kommen und wirken.

Die Entwicklung des Suchthilfesystems international ist geprägt durch das „Abstinenzparadigma”, das Therapieziele, Strukturen und Interventionsstrategien stark beeinflusst hat, ohne dass es Gegenstand der Debatte im Hilfesystem ist. Die veränderten Rahmenbedingungen des Suchthilfesystems, neue Interventionsmöglichkeiten und die stärkere Einbeziehung der subjektiven Seite der Betroffenen erfordert eine Diskussion darum, als Grundlage einer Neuausrichtung.

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Abstract

Systems, though ruled by their peculiar requirements, are effective through their component parts. In the case of therapeutic systems such as addiction treatment the component parts are the individual teams or therapists. They represent treatment philosophies, values and paradigms that are achieved and made effective in many ways. The development of addiction services is internationally characterised by the abstinence paradigm, which has strongly influenced treatment goals and intervention strategies without itself being questioned. The changed framework of addiction support systems, new intervention approaches and a greater integration of the patients’ subjective point of view ­requires reconsideration of the basic principles of addiction treatment.

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Anforderungen und Paradigmen

Der Begriff Paradigma stammt aus der griechischen Philosophie, erstmals geprägt von Aristoteles, und umschreibt so etwas wie „Modell”. Er wird in der Wissenschaft an verschiedenen Stellen benutzt im Sinne eines konstituierenden Prinzips, synonym mit Modell und Theorie.

Kuhn [1], einer der wichtigen Wissenschaftstheoretiker, versteht unter Paradigma u. a. das Vorverständnis des Wissenschaftlers über seinen Gegenstandsbereich, d. h. in diesem sind nicht nur Regeln, Entscheidungskriterien und Methoden enthalten, sondern auch die schwerer zu operationalisierenden Vorannahmen, Vorlieben und Interessen, Ziele und Wünsche [2]. Wegen dieser interpretativen Valenz und Vielschichtigkeit des Begriffs ist er meiner Meinung nach auch für Anwendungsbereiche wie die Psychiatrie, Psychologie oder Suchttherapie am besten geeignet, um eine klinisch relevante Orientierung zu debattieren und die generelle Subjektivität der Orientierung abzubilden.

Wesentlich für die bisher gesellschaftlich dominierenden Paradigmen in der Suchttherapie ist die statische Trennung von einem sozialen Konsum psychotroper Substanzen einerseits und schädlichem Konsum als Beginn der schrägen Ebene in die Abhängigkeit andererseits.

Folgerichtig ist die Abstinenz als Gegenpol das konstitutive Element von Suchttherapie, zumindest als Zielprojektion. Wie sehr dies kulturell überformt bzw. definiert ist, zeigen die unterschiedlichen Toleranzschwellen gegenüber unterschiedlichen Substanzen in unterschiedlichen Kulturen [3].

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Die subjektive Seite der Therapie - was treibt die Therapeuten? Paradigmen und Prinzipien in der Behandlung heute

Systeme, auch wenn sie eigene Besonderheiten und Gesetze haben, realisieren sich über ihre Teile. Diese sind in therapeutischen Systemen, wie Suchttherapiesystemen, einzelnen Teams oder Therapeuten. Sie sind die Träger von Behandlungsphilosophien [4] [5], Werten und Paradigmen, die auf vielfältige Art und Weise zustande kommen und wirken. Vereinfachend könnte man die wichtigsten Aspekte zur Bedeutung der therapeutischen Subjekte bei der Realisierung therapeutischer Paradigmen wie folgt zusammenfassen:

  1. eigenständige Akteure

    Therapeutische Teams und einzelne Therapeuten sind eine eigenständige Ebene des Behandlungssystems mit spezifischen Regeln. Von ihnen können auch in gewissem Rahmen Innovationen bzw. Veränderungen gegen den Trend ausgehen, die Paradigmen wie das Abstinenzparadigma oder das Krankheitsparadigma relativieren. Dies ist in der Suchttherapie an wichtigen Punkten der Fall gewesen. So haben sich über Jahre z. B. Hausärzte im rechtlichen Graubereich bewegt, indem sie bereit waren, z. B. Heroinabhängige mit Kodein ersatzweise zu behandeln, als es keine andere Form legaler Substitution gab. Sie haben so wesentlich zur Veränderung der Haltung zur Substitution Heroinabhängiger beigetragen. Insbesondere der überzeugende Erfolg von Interventionen ist manchmal in der Lage, „eherne Regeln” eines bestehenden Systems zu überwinden. Diejenigen Therapeuten, die dies versuchen, sind die wahren Pioniere der Entwicklung. Die Wissenschaft vollzieht diese Erfahrungen in der Regel nur nach und entscheidet mit über Etablierung oder Marginalisierung. Umgekehrt sind sie auch die Träger aller Prinzipien. In der konkreten Behandlungsindikation, der Aufnahme in eine Behandlung, der Art der Durchführung u. a. realisieren sich implizit als gegeben vorausgesetzte Grundsätze, z. B. der Abstinenzwunsch als Behandlungsvoraussetzung oder die Unvereinbarkeit von Rehabilita­tionsmaßnahmen und Substitution.

  2. Paradigmen und Ausbildung

    Der wichtigste Ort der therapeutischen Prägung und somit der Vermittlung von Grundsätzen ist zum einen die beruf­liche und zum anderen die therapeutische Aus- und Weiterbildung. Beide sind in den psychosozialen Berufen sehr aufwändig und erfordern emotionales, zeitliches und finanzielles Engagement weit über das Ausmaß normaler Berufsausbildungen hinaus. Psychotherapieausbildung ist klassischerweise keine evidenzbasierte Wissensvermittlung, sondern die Schulung einer „Weltsicht” [6].

  3. Paradigmen und Existenzsicherung

    Das Suchthilfesystem ist in Finanzierung und Setting stark an Interventionsformen und Ideologien ausgerichtet. Besonders wird das aus dem Spannungsverhältnis von Substitu­tion und so genannten „Abstinenz”-orientierten Therapien. In diesem Fall macht sich die klinische Grundorientierung unabhängig vom Wohl des Patienten und hat ihren Wert in der Rechtfertigung von Ressourcen. Bis heute fürchten insbesondere etablierte Einrichtungen die Schaffung neuer, teilweise alternativer Angebote.

  4. Paradigmen und Politik: Das Abstinenzparadigma - Kind der Prohibition

    Die Wechselwirkung zwischen Politik, Kultur und Behandlungssystem ist am Beispiel der Suchttherapie besonders eindrucksvoll zu studieren. Die Prohibition war zuallererst eine politische Weichenstellung, die dann weit reichende Folgen auch auf den Charakter der verschiedenen Hilfesysteme hatte. Nachdem z. B. Heroin in den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts eines der erfolgreichsten Medikamente der Firma Bayer mit über 30 Indikationen war, ist es seit der internationalen Suchtmittelkonventionen geradezu der Inbegriff eines Suchtmittels. Während der soziale Konsum von Opiaten in Südostasien über Jahrtausende bekannt ist, scheint dies in der Welt von heute kaum vorstellbar. Unabhängig von der letztendlichen Position wird deutlich, dass die Definition von Krankheit und Gesundheit sowie die Gestaltung des Behandlungssystems gesellschaftlichen Konventionen folgt und sich die medizinische Wissenschaft in diesen zu bewegen hat.

  5. Paradigmen, Krankheitskonzept und Klassifikation

    Erstaunlicherweise gilt das auch für die Definition der einzelnen Störungen und der ihnen im ICD zugeordneten Leitsymptome [7]. Gerade bei psychischen Störungen spielen Konventionen zum Krankheitskonzept und zur Definition solcher Syndrome, wie „schädlicher Konsum” und „Kontrollverlust”, die entscheidende Rolle, zumal sie hochgradig kontextabhängig sind.

  6. Ausgangspunkt - der Standort im Behandlungssystem

    Das Suchthilfesystem ist in verschiedene Segmente aufgeteilt [8]: Die Allgemeinmedizin, die stationäre Entwöhnung, die Entgiftung, Beratungsstellen und Psychiatrie u. a., die, ausgehend von ihrem Terrain, therapeutische Strategien und Modelle hochrechnen. Eine gemeinsame Konvention, die patienten- und ergebnisorientiert Indikationen differenziert und gemeinsame Kriterien festlegt, gibt es nur sehr begrenzt. Der eigene Platz bestimmt die eigene Sicht von dem eigenen Therapieangebot und anderen.

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Vorschläge für die Diskussion: Paradigmen und Prinzipien der Suchtbehandlung von morgen

Teilweise hat die Diskussion über die Suchtbehandlung von morgen und die sie steuernden Prinzipien schon begonnen. Durch den ökonomischen Druck werden Ausstattung und Behandlungszeiten infrage gestellt, durch schwere somatische Folgekrankheiten entsteht Handlungsdruck genauso wie durch den wissenschaftlichen Beleg der Effektivität neuer Interventionen (kontrolliertes Trinken, motivierende Gesprächsführung, Buprenorphin-Substitution u. a.). Es ist wichtig, dass insbesondere die direkt Betroffenen aus ihrer Perspektive in die Debatte eingreifen und die Überwindung z. B. des klassischen „Abstinenzparadigmas” mitgestalten. Dafür einige Vorschläge für die Diskussion der Umgestaltung von innen:

  1. Zur Integration der beteiligten Systeme

    Nach wie vor ist das Suchthilfesystem organisatorisch wie ökonomisch fragmentiert. Die Aufteilung der Suchttherapie in getrennte Systeme hat aus Sicht der Patienten - wie aus Sicht der Ressourcenökonomie - keinen Sinn. Aber wie wäre es möglich, dieses Strukturdilemma zu überwinden?

    • Über Ziele?

      Die Diskussion über Therapieziele hat am meisten mit der Verständigung über Behandlungsparadigmen zu tun [9]. Die Weltgesundheitsorganisation hat entscheidend zu einer differenzierten Sicht beigetragen, indem sie die Realität in vier Ebenen von Behandlungszielen abbildete: von der Überlebenshilfe und „Harm Reduction” bis zur Gesundheitsförderung und Abstinenz.
      Aber wie könnten Ziele strukturell verbinden? Ein erster Schritt dieser Diskussion wäre die Herstellung eines Konsenses über die therapeutische Berechtigung der bestehenden Segmente des Systems. Die Ziele sind wichtig, weil sie entscheiden, welches Gewicht die subjektiven Bedürfnisse der Patienten haben.

    • Über Verbindung der Systeme?

      Die Entwicklung übergreifender Ziele setzt eine systematische und strukturell verankerte Verbindung und Kommunikation voraus. Diese ist im Moment eher die Ausnahme und auf Notfälle beschränkt. Normalerweise muss sich der Patient in unserem vielfach fragmentierten System zurechtfinden oder er wird an andere Stellen verwiesen ohne viel Einfluss auf den Gang der Dinge. Die bessere Integration und Steuerung ist eine Kernfrage, die auch materiell unterstützt werden muss. Modelle dazu, wie das Case-Management oder das Hausarztmodell in der Medizin, müssen systematisch evaluiert werden.

    • Über Finanzierung?

      Die wirkungsvollste Steuerung erfolgt über die Finanzierung. Seit langem ist z. B. eine Poolfinanzierung in der Diskussion, in die die beteiligten Kostenträger einzahlen und die dann nach inhaltlichen Kriterien (z. B. Case-Management) die unterschiedlichen Maßnahmen trägt.

    • Über Gesundheitspolitik?

      Das so genannte Hausarztmodell ist letztendlich eine ­politische Entscheidung. Es ist bei einem so großen und sozialmedizinisch bedeutsamen Teil des Gesundheitswesens eine politische Aufgabe, Vorgaben zu formulieren und Strukturen festzulegen. Das jetzige System genügt den Anforderungen der Zukunft nicht.

    • Über die Patienten?

      Patienten können auch eine wirkungsvolle Klammer darstellen, je besser sie über die Interventionsmöglichkeiten und das System aufgeklärt sind. Sie sind das „gemeinsame Objekt” des Hilfesystems. Durch entsprechende Stärkung ihrer Rechte und umfassende Information werden sie zumindest teilweise zu Akteuren in der Behandlungsorganisation.

  2. Differenzierung der Indikation - Differenzierung der Ziele

    Mit der Zunahme von Interventionsmöglichkeiten und auf der Grundlage einer in vielen Studien nachgewiesenen Multimorbidität wird sich in den nächsten Jahren viel schärfer die Frage der differenziellen Indikation für unterschiedliche therapeutische Strategien stellen. Es geht nicht mehr nur um das Erreichen von Abstinenz, sondern im Sinne der WHO-Zielhierarchien um ein profundes Sicherstellen von Risikominimierung, gesundheitlicher Stabilisierung und darüber hinausgehender Behandlung psychischer Störung und körperlicher Erkrankungen im Rahmen einer Abstinenz.

    Für diese differenzielle Indikationsstellung ist ein enormer Forschungsaufwand notwendig, für den in Europa erst eine Infrastruktur aufgebaut werden muss. Aber um auch die knapper werdenden Ressourcen effektiv im Sinne von ra­tionalisierten Zielen einsetzen zu können, muss untersucht werden, welche Patienten von welchen Interventionen am meisten profitieren. Ein gutes Beispiel dafür ist die Substitutionsbehandlung.

    Dazu gehört natürlich auch ein höherer Stellenwert von systematischer, standardisierter Diagnostik, die in den meisten Suchthilfeeinrichtungen unterentwickelt ist. Bei dieser ­Diagnostik geht es sowohl um die Deskription der Konsummuster und des Konsumverhaltens als auch um die genaue Einordnung von psychischen Störungen oder konsumkorrelierten, körperlichen Erkrankungen. Wie soll es sonst auch bei der Überprüfung der therapeutischen Effektivität möglich sein, Veränderungen zu messen? Wie soll es möglich sein, differenzielle Therapieplanung und Therapieerfolgskontrolle zu machen ohne verlaufsorientierte und zielorientierte Diagnostik?

  3. Ambulantisierung der Versorgung

    Betrachtet man die Gesamtversorgung Suchtkranker, so ­setzen die meisten Interventionen sehr spät im Verlauf ein. Das gesamte therapeutische System beschäftigt sich überwiegend mit dem Management von Komplikationen und Spätfolgen. Bezüglich des suchttherapeutischen Angebots im engeren Sinne hat es zwar in den letzten Jahren eine Verschiebung im Sinne der Verstärkung ambulanter Angebote und der Einführung einiger Tageskliniken gegeben. Gemessen am Ressourcenaufwand ist aber der stationäre Anteil an der Versorgung in vielerlei Hinsicht noch der größte [8]. Bis vor kurzer Zeit war die Substitutionsbehandlung ein Ausschlussgrund für die Kostenträger der Rentenversicherung für die Aufnahme Drogenabhängiger in stationäre Psychotherapie oder Rehabilitationsprogramme.

    Wahrscheinlich - schon aus ökonomischen Gründen - wird die Neudefinition des Behandlungsanteils stationärer Suchttherapie in den nächsten Jahren erfolgen. Das ist aber gerade für langfristige ambulante Therapien, wo es einen engen Zusammenhang zwischen effektiver kurzfristiger stationärer Krisenintervention zur Entgiftung gibt, von hoher Bedeutung. Es ist nicht einfach ambulant gleichbedeutend mit gut und stationär gleich ineffektiv, was neuere Studien von Thomas McLellan im letzten Jahr gezeigt haben. Trotzdem wird es eine intensive Diskussion um die Behandlungssettings in den nächsten Jahren geben und der unsinnige Streit um die Einrichtung von Tageskliniken sowie deren Finanzierung wird hoffentlich immer mehr als Anachronismus erscheinen.

    Ambulantisierung muss aber auch heißen, die kontinuier­liche und frühzeitige suchtmedizinische Grundversorgung im Rahmen des hausärztlichen Betreuungsangebots neu zu organisieren und mit anderen Angeboten der Suchthilfe zu verbinden. Das ist in diesem Rahmen sicher die sozialmedizinisch und suchtmedizinisch bedeutsamste Aufgabe.

    Bei diesen Prozessen müssen die Institutionen und Vertreter der ambulanten Suchttherapie und Suchtmedizin eine aktive und gestalterische Rolle übernehmen und sich auf die Prozesse der systematischen Evaluation, Qualitätssicherung und Therapieforschung einlassen. Wie in anderen Bereichen in der Medizin ist die bessere Vernetzung der verschiedenen Behandlungssettings durch Integration einzelner Träger die beste Möglichkeit zur Überwindung des Grabens zwischen stationärer und ambulanter Versorgung!

  4. Neudefinition der stationären Suchttherapie

    Als andere Seite des Prozesses muss der Beitrag im stationären und teilstationären Bereich neu definiert werden, orientiert an den differenziellen Bedürfnissen der Betroffenen. Am Anfang dieser Diskussion steht die Frage, welchen ­Beitrag die Psychiatrie, die Allgemeinmedizin und die klassische Suchtkrankenhilfe mit Entwöhnungsbehandlung ­leisten sollen. Was ist das zukünftige Ziel stationärer Behandlungen? Weder der Abbau von Behandlungsressourcen im stationären Bereich noch die reine Kürzung von Behandlungszeiten haben irgendeinen Sinn für die Betroffenen. Die Mittel in diesem Bereich sind dringend nötig für eine qualifizierte Suchttherapie, die aber im Sinne einer effektiveren Breitenwirkung neuer innovativer, integrierter Therapieangebote nutzbar gemacht werden müssen. In diesem Prozess werden die Träger der stationären Suchtkrankenhilfe sowie der Allgemeinmedizin entweder einen gestalterischen Prozess einschließlich verschiedener Modellvorhaben in Gang setzen oder simpel erheblich an Kapazitäten verlieren.

    Geht man von einem langfristig chronischen Prozess aus, wo zu einem früheren Zeitpunkt effektiv interveniert werden soll, so stellen sich auch Fragen der Rehabilitation, der Krisenintervention und der Rückfallintervention in einem ganz anderen Zusammenhang dar. Sowohl die Interventionsstrategien als auch die Behandlungssettings und Therapieziele sind in dem jetzigen System weit gehend orientiert an der Logik akuter und in solcher Form auch begrenzter „Krankheitsbilder”, die den Prozess der Sucht nicht angemessen abbilden!

  5. Standardisierung und Qualitätssicherung

    Die Dokumentation ist in vielen Bereichen der Medizin oder der Psychologie so schwach entwickelt, dass sie kaum eine Vergleichbarkeit oder Prozesskontrolle zulässt. In den letzten Jahren hat es in einigen Bereichen der Bundesrepublik zumindest das Bemühen um die Einführung von Dokumentationsstandards und klinisch begleitenden Dokumenta­tionssystemen gegeben, die aber alle noch in einem Anfangsstadium laufen.

    Über Qualitätssicherung wird im Wesentlichen mehr diskutiert und hier spielt auch der Bereich der Suchtkrankenhilfe eine aktive Rolle. Trotzdem ist das Ausmaß an Standardisierung verbunden mit klaren Erfolgserwartungen und Erfolgsmessung, Qualitätssicherung auf allen Ebenen eher schwach entwickelt. Ein hervorragendes Beispiel, wie es anders gehen kann, ist der Bereich der stationären Rehabilita­tion, in dem sehr erfolgreich ein mehrteiliges System der Qualitätssicherung eingeführt wurde. Wenn man nicht nur einfach der Ökonomie die Steuerung überlässt, gibt es gar keine Alternative zur verstärkten Prozessdokumentation, Qualitätssicherung und auch Standardisierung von Abläufen auf der Grundlage systematischer Therapieformen.

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Die subjektive Seite der Sucht - Therapie und ihre Konsumenten

In der Behandlung psychischer Erkrankungen ist die Frage des Krankheitskonzeptes, der Hilfsbedürftigkeit, der Behinderung und ihrer Bewertung und der wünschenswerten Hilfe eine zent­rale Frage. Gerade im Falle der Abhängigkeit von psychotropen Substanzen ist die Definition des Problems und des Veränderungsbedarfs im Verlauf der Sucht wechselnd, ambivalent und kontrovers, intrapsychisch, wie auch zwischen Patienten, Angehörigen und Therapeuten. Das drückt sich auch in der unbegründeten Skepsis von Betroffenen wie Professionellen gegenüber den Möglichkeiten und Ergebnissen der Suchttherapie aus. ­Sowohl die Substitution als auch die stationäre Entwöhnung bei Alkohol und Drogenpatienten haben ein hohes Maß an Standardisierung und Qualität und können daher ihre Erfolge gut dokumentieren.

Wahrscheinlich gibt es auch in keinem Bereich so viele Notfallbehandlungen und ungeplante Interventionen - und andererseits so viele Behandlungsabbrüche gerade in der frühen Phase einer Behandlung wie in der Suchttherapie.

Das hat sicher sowohl systemische als auch subjektbezogene Gründe. Das Hilfesystem ist nach wie vor hochschwellig und nicht in der Lage, auf die Möglichkeiten und Bedürfnisse von Abhängigen außerhalb der Suchthilfe angemessen einzugehen. Aber, um dies zu verbessern und früher wirkungsvoll zu intervenieren, muss man die Schwierigkeiten der Nutzer besser verstehen. Der Oberbegriff „Motivation” war der Schlüsselbegriff über eine Entwicklungsphase des Hilfesystems, manchmal sogar ein gegen die Patienten gerichteter Kampfbegriff. Aber wie stellt sich der Prozess aus Patientensicht dar, welche Aspekte gilt es zu berücksichtigen?

  • Sucht als Lebensweise

    Der schädliche Konsum und die Abhängigkeit von psychotropen Substanzen sind keine isolierten Verhaltensweisen, sondern vielfältiger Ausdruck einer individuellen, wie übergreifenden Lebensweise und Kultur. Die Mittrinker oder die Szene sind Ausdruck des einzigen sozialen Kontextes, den viele Betroffene haben und den sie nicht verlieren wollen.

  • Funktionalität - Selbstmedikation

    Neben den sozialen Verstärkern hat der Konsum oft essenzielle selbst- und befindlichkeitsteuernde Momente. Dies ist in der Selbstmedikationshypothese gut abgebildet. Was wird den Patienten alternativ geboten, um auf diese Wirkungen verzichten zu können?

  • Ambivalenz und Scham

    Psychische Krankheit ist generell mit Stigma belegt. Sucht wird in besonderem Maße in großen Teilen unserer Bevölkerung als schuldhaftes Versagen gesehen. Die Betroffenen sehen umgekehrt ihre „Unfähigkeit” zur Selbstkontrolle mit Scham und können erst spät über die negativen Folgen kommunizieren. Lange Zeit scheinen die Negativeffekte auch durch die Funktionalität des Konsums kompensiert, die soziale Gemeinschaft, die psychotropen Effekte manchmal auch den Genuss. Das trägt zu der großen Ambivalenz vieler Süchtiger gegenüber Therapie und deren Konsequenzen bei. Sie brauchen Zeit, um sich zu Veränderungen durchzuringen, lange Jahre der Ambivalenz, in denen Therapie helfen kann, eine entsprechende Richtung zu finden.

  • Unwissen

    Das Wissen über Sucht, ihre Risiken und ihre Behandlungsmöglichkeiten ist gering. Eindeutige Hinweise werden nicht in diesem Zusammenhang gesehen. Prävention findet in Relation zur Masse der Betroffenen in der Bevölkerung nicht statt. Aber auch Wissen ist ein Zugang zur Verhaltensänderung.

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Wie, was erreichen und warum? Die systemische und die individuelle Antwort

Die Antworten auf die Fragen nach der Organisation von Suchtkrankenhilfe und der Standardinterventionen fallen zurzeit in Deutschland wie auch international nicht einheitlich aus. Deutlich wird, dass ein größerer Teil der Professionellen wie auch der Gesundheits- und Fachpolitiker das herkömmliche Abstinenzparadigma für unangemessen hält. Damit ist die Debatte um das „Wie” und das „Was” der Suchtkrankenhilfe eröffnet. Ich plädiere dafür, sie auf der Basis des „Warum” zu führen und nicht auf der des Althergebrachten.

Zur Frage des „Wie” habe ich oben Vorschläge gemacht. Wichtig ist, dass sich diese Debatte und die Entscheidungen, die daraus folgen sollten, die Betroffenen zu Eigen machen.

Die Möglichkeiten einer differenzierten Behandlung sind in den letzten Jahren größer geworden, aber angemessene Interventionen brauchen ein angemessenes Setting. Der größte Teil der ­Abhängigen (95 %) wird in nicht darauf spezialisierten Einrichtungen versorgt [8]. Insbesondere im Bereich der legalen Subs­tanzen erreichen sehr wirkungsvolle Therapien nicht die Klienten.

Der Ausgangspunkt für eine Veränderung des Systems - wie auch der einzelnen Einrichtungen - ist das „Warum”. Es kann gar nicht ernst genug genommen werden. Wenn wir uns subs­tanzübergreifend darauf einigen, dass unser allgemeines Ziel ist, dem Patienten durch unsere Interventionen zu einem Stück mehr Autonomie auf seinem gewählten Weg zu verhelfen, haben wir zumindest einen Ausgangspunkt für den weiteren Weg.

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Literatur

  • 1 Kuhn T S. Die Struktur der wissenschaftlichen Revolutionen. Suhrkamp Frankfurt; 1974
  • 2 Stangl W. Das neue Paradigma der Psychologie. Vieweg & Sohn Braunschweig; 1989
  • 3 Franzkowiak P. Alltäglicher Genußmittelkonsum und medizinische Risikodefinition - Eine kultursoziologische Kritik an epidemiolo­gischen und gesundheitserzieherischen Konzepten zum sozial integ­rierten Zigarettenrauchen und Alkoholkonsum. Göttingen; 1985
  • 4 Krausz M. Behandlungsphilosophie als Basis integrativer Schizo­phrenietherapien. Schizophrenie. D. Naber. Thieme Stuttgart; 2003
  • 5 Krausz M. Nichts ist so beständig wie der Wandel, Kompendium Sucht. Krausz M, Haasen C Thieme Stuttgart/New York; 2004: 153-156
  • 6 Grawe K, Donati R, Bernauer T. Psychotherapie im Wandel - Von der Konfession zur Profession. Hogrefe Göttingen; 1994
  • 7 Dilling H, Mombour W, Schmidt M H. Internationale Klassifikation psychischer Störungen: ICD 10, Kapitel F, Klinisch-diagnostische Leitlinien. Huber Bern; 1993
  • 8 Wienberg G. Die vergessene Mehrheit. Psychiatrie Verlag Bonn; 2002
  • 9 Kleinemeier E. Ziele der Suchttherapie. Krausz M, Haasen C Thieme Stuttgart/New York; Kompendium Sucht 2004: 35-38

M. Krausz

Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung der Universität Hamburg (ZIS), c/o Zentrum für Psychosoziale Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie im UKE

Martinistr. 52

20246 Hamburg

Email: krausz@uke.uni-hamburg.de

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Literatur

  • 1 Kuhn T S. Die Struktur der wissenschaftlichen Revolutionen. Suhrkamp Frankfurt; 1974
  • 2 Stangl W. Das neue Paradigma der Psychologie. Vieweg & Sohn Braunschweig; 1989
  • 3 Franzkowiak P. Alltäglicher Genußmittelkonsum und medizinische Risikodefinition - Eine kultursoziologische Kritik an epidemiolo­gischen und gesundheitserzieherischen Konzepten zum sozial integ­rierten Zigarettenrauchen und Alkoholkonsum. Göttingen; 1985
  • 4 Krausz M. Behandlungsphilosophie als Basis integrativer Schizo­phrenietherapien. Schizophrenie. D. Naber. Thieme Stuttgart; 2003
  • 5 Krausz M. Nichts ist so beständig wie der Wandel, Kompendium Sucht. Krausz M, Haasen C Thieme Stuttgart/New York; 2004: 153-156
  • 6 Grawe K, Donati R, Bernauer T. Psychotherapie im Wandel - Von der Konfession zur Profession. Hogrefe Göttingen; 1994
  • 7 Dilling H, Mombour W, Schmidt M H. Internationale Klassifikation psychischer Störungen: ICD 10, Kapitel F, Klinisch-diagnostische Leitlinien. Huber Bern; 1993
  • 8 Wienberg G. Die vergessene Mehrheit. Psychiatrie Verlag Bonn; 2002
  • 9 Kleinemeier E. Ziele der Suchttherapie. Krausz M, Haasen C Thieme Stuttgart/New York; Kompendium Sucht 2004: 35-38

M. Krausz

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