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DOI: 10.1055/s-2004-813202
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
Komorbidität
Ein Therapieangebot für Patienten mit dem Schwerpunkt Sucht und Angst am Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf - Ein FallbeispielComorbidityA Treatment Offer for Patients Suffering from Addiction and Anxiety Disorder at the University Hospital Hamburg Eppendorf - A Case Report
Dipl. Psych. Brigitte Gemeinhardt
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf, 5. Stock
Martinistr. 52
20246 Hamburg
Phone: ++49/040/4 28 03 32 29
Email: gemeinha@uke.uni-hamburg.de
Publication History
Publication Date:
24 May 2004 (online)
- Das therapeutische Angebot
- Symptomatik
- Familienbiographie und Anamnese
- Behandlungsverlauf
- Diskussion
- Literatur
Das therapeutische Angebot
Basierend auf einem systemisch lösungsfokussierten Therapieverständnis kombiniert mit verhaltenstherapeutischen Elementen liegt der zentrale Schwerpunkt der Therapie komorbider Sucht und Angststörungen TASK in der Bearbeitung der individuellen Ziele jedes einzelnen Patienten, die im Vorfeld und auch im Laufe der Therapie besprochen werden und als Leitlinie für die Behandlung dienen. Das Erkennen, Akzeptieren und Ausbauen eigener Kompetenzen und die Übernahme der Selbstverantwortung für die eigene Lebensführung sind zentrale Aufgaben im Therapieprozess.
Die Verknüpfung der beiden Symptome Sucht und Angst und deren Funktionalität im Leben und in der Beziehungsausgestaltung des Patienten sind zentraler Bestandteil der Arbeit.
Inhaltlich bedeutet dies, dass die Bearbeitung individueller Problemsituationen und der formulierten Ziele in einem Zusammenspiel besteht aus
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der Betrachtung konkreter Erfahrungen in bestimmten, mit dieser Problematik in Zusammenhang stehenden Lebenssituationen,
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der Einübung und Reflektion konkreter Erfahrungen, die die Patienten besonders in der Behandlungsphase in verschiedenen Bereichen des alltäglichen Miteinanders machen,
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der Bewusstwerdung ihrer intrapsychischen und interaktionellen Möglichkeiten, die sie - auch zusammen mit ihren Beziehungs- und Kommunikationspartnern - ausbilden und einsetzen können, um nicht funktionierende, aber eben sehr vertraute Lösungs- und diese Bewältigungsmuster deutlich werden zu lassen und durch ein gesundheitsförderndes, selbstbestimmtes gesundes Muster ersetzen zu können.
Das zentrale therapeutische Element ist die Arbeit in Gruppen. Der systemisch lösungsfokussierte Ansatz liegt der therapeutischen Arbeit hier zugrunde. An den familiären Systemen der Patienten wird in der Gruppe und in Einzelgesprächen mit Hilfe verschiedener Interventionen gearbeitet. Das soziale Kompetenztraining, eine Angstgruppe und Konfrontationsübungen sind wichtige Elemente der Verhaltenstherapie, die den therapeutischen Prozess unterstützen. Zudem finden physiotherapeutische, ergotherapeutische und Angebote in Konzentrativer Bewegungstherapie statt. Nach dem stationären Aufenthalt kann über eine angemessene Zeit das engmaschige Gruppenprogramm weiterhin ambulant besucht werden. Hier ist der Austausch der „Therapieanfänger” und der „Erfahrenen” ein wichtiges Element auch in der Gewinnung des Zutrauens in die Kraft eigener Ressourcen. Eine 1-mal wöchentlich stattfindende Nachsorgegruppe kann als nächster Schritt besucht werden. Wünschenswert und erklärtes Ziel der Behandlung ist der nachfolgende Besuch einer stationären oder ambulanten Reha-Maßnahme.
#Symptomatik
Die 45-jährige Patientin kommt nach einer stationären Behandlung auf der Abteilung für Innere Medizin wegen eines akuten Leber- und Nierenversagens aufgrund einer seit Jahren bestehenden Alkoholabhängigkeit auf die Suchtstation zum qualifizierten Alkoholentzug. Schnell wird dabei deutlich, dass sie zudem eine massive Angststörung aufweist. Die „Kombination” dieser beiden Symptomatiken hat sich in den letzten Monaten massiv zugespitzt. Die häusliche, familiäre und soziale Situation ist seit langem eskaliert; sie war nicht mehr in der Lage, die Aufgaben des alltäglichen Lebens zu bewältigen. Nach einer dreiwöchigen qualifizierten Entzugsbehandlung entschließt sie sich, an einem mehrwöchigen stationären Programm zur Behandlung der komorbiden Symptomatik teilzunehmen. Diagnosen bei Aufnahme: Alkoholabhängigkeit ICD 10 F10.2, Agoraphobie mit Panik ICD 10: F40.01, Spezifische Phobie ICD 10: F40.2.
#Familienbiographie und Anamnese
Zur Verdeutlichung familiärer Themen und der Position der Patientin im familiären Kontext erstellen wir ein Genogramm [1]. Dieses verdeutlicht ihre Position im familiären Geschehen. Die Patientin ist das einzige Kind zweier Akademiker, deren Beziehung durch die Dominanz der Mutter und eine strenge, konservative Lebensführung bestimmt ist. Die Tochter wird zu einem frühen Zeitpunkt funktionalisiert, erhält den innerlichen und auch von der Mutter immer wieder ausgesprochenen Auftrag, für deren Lebensglück unmittelbar verantwortlich zu sein. Hier wiederholt sich ein Muster, das die Mutter bereits aus ihrer Ursprungsfamilie kennt. Zur Ehe mit einem langjährigen Freund wird sie nach bereits erfolgter Trennung von ihrer Mutter gedrängt, als sie schwanger ist. In der Ehe werden zwei weitere Kinder geboren. Sie selbst bricht ihr Studium ab, während ihr Mann nach dem Studium eine steile Karriere beginnt. Die eheliche Beziehung ist bestimmt durch gegenseitige Demütigungen. So muss die Patientin über alle Anschaffungen Rechenschaft ablegen, hat keinen eigenen Zugriff auf die Familienkonten. Sie selbst hat immer wieder Außenbeziehungen. Die Patientin gibt an, seit der Geburt der jüngsten Tochter vor 9 Jahren ihren Alkoholkonsum gesteigert zu haben. Lange Zeit trinke sie nun auch täglich. Panikattacken, agoraphobische Phänomene und andere diffuse Angstsymptome kennt sie seit Jahren. Die gesamte Familie und besonders die Kinder, deren Erziehungsverantwortung sie bis zum Schluss praktisch selbstständig getragen hat, sind massiv von dieser Dynamik beeinträchtigt In den letzten zwei Jahren hat sie auch tagsüber viel Alkohol konsumiert und konnte das Haus nur unter Alkoholeinfluss verlassen. Ihre Kinder mussten sie zu vielen Gelegenheiten begleiten; sie erlebten eine massive Beziehungsunsicherheit im Umgang mit der Mutter.
#Therapieziele und Behandlungsschritte
Am ersten Wochenende ihres Aufenthaltes bekam die Patientin die Aufgabe, ein Bild zu ihrem Lebenslauf zu malen, in dem sie auch die Geschichte ihrer Sucht und ihrer Angsterkrankung integrieren sollte. Dieses Bild stellte sie in einer Gruppensitzung vor, so dass die anderen Gruppenmitglieder und die Therapeuten einen Einblick in ihre Biographie bekamen. In der dritten Gruppensitzung wurden ihre Ziele in der Therapie bearbeitet. Sie benennt drei Hauptziele:
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Klärung ihrer familiären bzw. Beziehungssituation;
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Kennen lernen, Einschätzen und neuer Umgang mit ihren Ängsten;
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Klärung der Ambivalenz bezüglich ihrer Alkoholabhängigkeit - will oder kann sie ganz aus dem Konsum aussteigen oder möchte sie versuchen, kontrolliert zu trinken?
Nachdem die Ziele für alle einsehbar notiert wurden, wird mit ihr eine Imagination in Richtung des Zielzustandes durchgeführt, wir stellen die Wunderfrage [2]. Folgende Instruktion geht einer solchen Intervention voraus:
Nehmen Sie einmal an, heute Abend, nachdem Sie ins Bett gegangen und eingeschlafen sind, geschieht ein Wunder! Das Wunder besteht darin, dass das Problem oder die Probleme, mit denen Sie kämpfen, gelöst sind! Genau das! Da Sie aber schlafen, wissen Sie nicht, dass ein Wunder geschehen ist. Sie verschlafen einfach das Ganze. Wenn Sie dann morgen Früh aufwachen, was wäre eines der ersten Dinge, die Ihnen auffallen würden, die anders wären und die Ihnen sagen würden, dass das Wunder geschehen und Ihr Problem gelöst ist?
Diese wird kombiniert mit der Fragetechnik des zirkulären Fragens [3]: Bei dieser Intervention besteht die Möglichkeit, den Zielzustand an konkreten Verhaltensmustern zu phantasieren und auch zu sehen, welche Ideen sie zu den Wahrnehmungen der einzelnen Familienmitglieder hat. So benennt sie z. B. bei der Frage danach, woran ihre jüngste Tochter eine Veränderung wahrnimmt, dass sie ihre Funktion als Mutter wieder aufnimmt und nüchtern und allein zu einem Elternabend ihrer Tochter gehen kann. Weiterhin fragen wir sie, welche Teile des Zielzustandes der drei Ziele sie jetzt bereits erreicht habe und an welchem Punkt sie jeweils steht. Diese Fragen werden mit Hilfe der Skalenarbeit ergänzt und - im Einzelfall modifiziert - folgendermaßen gestellt:
Stellen Sie sich vor, es wäre der Tag nach dem Wunder. Das heißt, das Problem, das Sie hierher gebracht hat, ist gelöst.
Auf einer Skala von 1 - 10 wäre das 10.
Und 1 wäre für die Situation, als es am schlimmsten war, bevor Sie hier aufgenommen wurden.
Auf dieser Skala von 1 - 10:
Wo sind Sie heute?
Wie haben Sie es geschafft, an diesen Punkt auf der Skala zu kommen?
Woran würden Sie merken, dass Sie sich einen Punkt weiter bewegen?
Wo möchten Sie stehen, wenn diese Therapie erfolgreich beendet ist?
Die Patientin ordnet sich gleich zu Beginn der Therapie mit einer Fünf ein. Hier wird dann weiter gefragt, was sie bisher dafür getan habe, welche Ressourcen sie bereits eingesetzt habe und wie ihre familiäre Situation zu diesem Zeitpunkt aussieht. Was haben die Familienmitglieder bereits an Veränderung wahrgenommen? Durch diese Art der Befragung wird der Patientin die Möglichkeit gegeben zu reflektieren, dass sie in der Erarbeitung all dieser Ziele nicht mehr am Anfang steht, sondern dass sie bereits jetzt Ressourcen besitzt, die es zu erkennen und verstärkt einzusetzen gilt. Sie wird zudem gefragt, an welchem Punkt der Skala sie sich bei Entlassung befinden möchte. Sie gibt eine Einstufung von 8,5. Diese hat sie bereits nach wenigen Wochen und einigen Schwankungen auf der Skala das erste Mal erreicht und arbeitet dann an der Manifestation, indem sie neu Gelerntes und reaktivierte Ressourcen gezielt einsetzt und dabei die Unterstützung der Gruppe sucht.
#Behandlungsverlauf
Zu Beginn der Behandlung kommt der Ehemann zu einem Angehörigengespräch und beklagt sich über die Alkoholabhängigkeit seiner Frau. Er habe keinen größeren Wunsch, als dass sie es endlich schaffe, mit dem Trinken aufzuhören und ihre Rolle als Hausfrau und Mutter auszufüllen. Im Laufe des therapeutischen Prozesses gelingt es der Patientin, die Zusammenhänge zu erkennen, in welchen Situationen sie Alkohol oder die Angstsymptomatik zur Beziehungsregulation in ihrer Familie und auch speziell ihrem Mann gegenüber eingesetzt hat. Die Frage nach der Funktionalität der Symptomatik im familiären System wird u. a. mit Hilfe des Familienbrettes, einem von Ludewig und Mitarbeitern [4] entwickelten Aufstellungsverfahren, bearbeitet. Sie beginnt ihr Verhalten zu verändern, tritt bei ihren häuslichen Besuchen im Rahmen von Belastungserprobungen am Wochenende gegenüber ihrem Mann und auch gegenüber ihren Kindern selbstsicherer auf. Ihr Ehemann fühlt sich immer mehr in den Hintergrund gedrängt, wirft ihr vor, dass sie wohl an einem Aggressionstraining teilnehmen würde und beginnt abwertend von der Therapie zu reden Jetzt lässt er des Öfteren offene Wein- oder Sektflaschen in der Wohnung stehen. Sie selbst äußert die Befürchtung, dass er die Veränderung jetzt eher missbillige und sich den „alten Zustand” zurückwünsche. Dies verletzt die Patientin sehr, ist aber aus einem systemischen Blickwinkel eine verständliche Reaktion des Mannes auf die veränderte Situation. Seine Frau definiert für sich die Hierarchieebenen neu und wünscht sich, von ihm wieder ernst genommen zu werden. Angebote für gemeinsame Gespräche, die von Anbeginn des Klinikaufenthaltes bestehen und diese Entwicklung begleiten könnten, lehnt er ab.
Die Angstsymptomatik der Patientin verbessert sich im Laufe des Aufenthaltes massiv, die angebotenen Expositionsübungen zur Angstbewältigung kann sie gut für sich nutzen.
Die Patientin verbleibt neun Wochen in unserer stationären Behandlung, schließt drei Wochen ambulant an und besucht seit einigen Wochen die Nachsorgegruppe. Zusätzlich nimmt sie einen ambulanten Einzeltermin in der Woche wahr. In den nächsten Wochen hat sie einen Termin für eine stationäre Reha-Maßnahme in einer Suchtklinik zur weiteren Stabilisierung. Im Laufe der ambulanten Weiterbehandlung wird sie dreimal rückfällig, kann diese Rückfälle aber selbst stoppen, in der Therapie thematisieren und dies als weiteres Element der Stabilisierung nutzen.
#Diskussion
Das geschilderte Fallbeispiel macht deutlich, welche hohe Relevanz die gleichzeitige Behandlung der einzelnen Störungsbilder einer komorbiden Erkrankung einnimmt. Die Einbeziehung der familiären Dynamik hat sich für den Heilungsprozess der Patientin positiv ausgewirkt. Sie erkennt familiäre Zusammenhänge, kann ihre eigenen Ressourcen wahrnehmen und anerkennen. Die wertschätzende Dynamik in der Gruppe macht es den Patienten leichter, auch positive Elemente, Ressourcen zu bearbeiten, aber auch die bisher verfolgten Lösungsstrategien - die eher zu einer Verschlechterung der Symptomatik führten - zu betrachten und zu verändern. Die Kombination von einerseits systemisch lösungsfokussierten und verhaltenstherapeutischen Therapieelementen auch mit körperorientierten Verfahren wie der Konzentrativen Bewegungstherapie können die Patienten dieses Programmes gut für sich nutzen. Der langsame Übergang von einem stationären in ein abgestuftes ambulantes Setting hat sich zudem sehr bewährt.
#Literatur
- 1 McGoldrick M, Gerson R. (Hrsg) .Genogramme in der Familienberatung. Bern; Huber 1990
- 2 Miller S D, Berg I K. Die Wunder-Methode: Ein völlig neuer Ansatz bei Alkoholproblemen. Dortmund; Modernes Lernen 1997
- 3 von Schlippe A, Kriz J. Skulpturarbeit und zirkuläres Fragen. Eine integrative Perspektive auf zwei systemtherapeutische Techniken aus Sicht der personenzentrierten Systemtheorie. Integrative Therapie. 1993; 19 (3) 222-241
- 4 Ludewig K, Wilken U. Das Familienbrett. Göttingen; Hogrefe 2000
Dipl. Psych. Brigitte Gemeinhardt
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf, 5. Stock
Martinistr. 52
20246 Hamburg
Phone: ++49/040/4 28 03 32 29
Email: gemeinha@uke.uni-hamburg.de
Literatur
- 1 McGoldrick M, Gerson R. (Hrsg) .Genogramme in der Familienberatung. Bern; Huber 1990
- 2 Miller S D, Berg I K. Die Wunder-Methode: Ein völlig neuer Ansatz bei Alkoholproblemen. Dortmund; Modernes Lernen 1997
- 3 von Schlippe A, Kriz J. Skulpturarbeit und zirkuläres Fragen. Eine integrative Perspektive auf zwei systemtherapeutische Techniken aus Sicht der personenzentrierten Systemtheorie. Integrative Therapie. 1993; 19 (3) 222-241
- 4 Ludewig K, Wilken U. Das Familienbrett. Göttingen; Hogrefe 2000
Dipl. Psych. Brigitte Gemeinhardt
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf, 5. Stock
Martinistr. 52
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