Diese Kasuistik beschreibt eine medikamentenabhängige Patientin, bei der Piercing
als Form des selbstverletzenden Verhaltens zu interpretieren ist. Die Aufnahme (4/2003)
der Patientin (hier N. H. genannt) erfolgte aufgrund eines eigenständigen Entgiftungswunsches
bei Medikamentenabhängigkeit. N. H. litt insbesondere in den letzten Tagen vor Aufnahme
unter rezidivierenden Panikattacken und vermehrtem Ess- und Brechdruck. Sie berichtete
bereits 2002 in der Psychiatrie und darauf in einer psychosomatischen Abteilung in
Behandlung gewesen zu sein. Kurze Zeit nach der letzten Entlassung sei es erneut zu
einem Rückfall gekommen. Die Patientin habe aufgrund ihrer starken generalisierten
Angstsymptome erneut Benzodiazepine eingenommen. Die aufkommenden Hungergefühle habe
sie weiterhin mit Tramadoltropfen zu unterdrücken versucht. Aktuell habe sie etwa
20 mg Diazepam und 160 Tropfen (= 400 mg) Tramadol täglich eingenommen.
Vorgeschichte
Vorgeschichte
Aus der Sozialanamnese geht hervor, dass N. H. 1965 als Tochter eines Griechen und
einer Deutschen in Hannover geboren wurde. Die Scheidung der Eltern erlebte N. H.
10-jährig als sehr schmerzhaft. Sie hat einen 2 Jahre jüngeren Bruder, mit dem sie
gemeinsam bei der Mutter aufwuchs. Zu ihrem Bruder und der Mutter bestehe bis heute
ein gutes Verhältnis. Nach ihrem Hauptschulabschluss absolvierte N. H. eine Lehre
zur Friseurin. Sie habe jedoch nur 2 Jahre als Friseurin gearbeitet und dann den Beruf
gewechselt. Sie war als Kassiererin, in der Altenpflege und als Arbeiterin tätig.
N. H. berichtete über ihre letzte Partnerschaft zu einem Mann, mit dem sie sehr unglücklich
gewesen sei. Er habe sie immer wieder sexuell gedemütigt. Zudem habe sie für ihn im
„Rotlichtmilieu” arbeiten müssen. Seit dem lebe sie in keiner Partnerschaft mehr.
Sie habe keine Kinder und sei nie verheiratet gewesen.
Ende der 80er-Jahre kam es erstmalig zu selbstverletzendem Verhalten mit Schnitten
an beiden Unterarmen. Als Grund für die Schnittverletzungen nennt N. H. die Reduktion
unerträglicher Spannungszustände. Die letzten Schnitte am Unterarm habe sie sich 1990
zugefügt.
Das erste Mal bewusst erbrochen habe N. H. im Alter von 14 Jahren. Gründe dafür führte
sie nicht an. Das niedrigste Gewicht der Patientin habe 39 kg (04/2002) und das höchste
69 kg (1994) betragen. N. H. berichtete, das erste Mal 1994 Tramadol gegen aufkommende
Hungergefühle eingenommen zu haben. Sie bemerkte, dass sie sich danach gut und schlank
fühlte und begann das Medikament regelmäßig einzunehmen. Gegen die immer häufiger
wieder kehrenden Angstgefühle und Panikattacken, nahm die Patientin Benzodiazepine
ein. Bis 1996 habe sie zudem gelegentlich Alkohol getrunken. In der Vergangenheit
habe sie auch Kokain und THC ausprobiert, zu einem regelmäßigen Konsum sei es jedoch
nicht gekommen.
Seit 1996 leide sie unter Asthma bronchiale. Im gleichen Jahr habe sie sich mit einer
Hepatitis B infiziert. Immer wieder habe sie Magenschmerzen, insbesondere wenn sie
unter Druck stehe. Zudem habe sie einen arteriellen Hypotonus.
Körperlicher Befund
Körperlicher Befund
Das äußere Erscheinungsbild der Patientin war durch zahlreiche Piercings (Augenbraue,
Nasenwurzel, Unterlippe und Ohren beiderseits), die über den ganzen Körper verteilt
waren, geprägt. Die Anzahl der Piercings habe sich, innerhalb der letzten Monate auf
insgesamt 10, deutlich erhöht. Sie berichtete, dass sie sich erst kurz vor Aufnahme
ein weiteres Piercing im Bereich des Jugulums/Sternums habe stechen lassen. Zudem
wies N. H. ca. 5 große Tätowierungen, insbesondere im Bereich des Rückens, der Brust
und des Bauches auf. Zudem habe sie sich in der Vergangenheit die Oberlippe durch
eine Lippenplastik und beide Brüste durch eine Mammaplastik vergrößern lassen.
Psychopathologischer Befund bei Aufnahme
Psychopathologischer Befund bei Aufnahme
Frau N. H. war wach, bewusstseinsklar und zu allen Qualitäten voll orientiert. N.
H. erschien als eine sehr introvertierte und zurückhaltende Patientin. Sie sprach
leise und hatte im Gespräch den Blick häufig gesenkt. Die Stimmung erschien leicht
gedrückt bei erhaltener affektiver Schwingungsfähigkeit. Die Psychomotorik war leicht
gesteigert. Sie wirkte unruhig und unkonzentriert. Formale oder inhaltliche Denkstörungen
waren nicht erkennbar. Halluzinatorisches oder wahnhaftes Erleben lagen nicht vor.
Sie war von Suizidalität distanziert.
Im stationären Aufenthalt dominierten deutlich körperliche Symptome im Sinne einer
Somatisierungsstörung. Sie klagte fast täglich über Kopf-, Bein- und Rückenschmerzen.
Zudem berichtete sie über Unterleibsbeschwerden bei bestehender sekundärer Amenorrhoe.
Konflikten mit Mitpatienten/Innen ging sie bewusst aus dem Weg und stellte eigene
Wünsche in den Hintergrund. Ziele zu formulieren viel ihr schwer. Ihr Wunsch für die
nahe Zukunft war eine stationäre Langzeittherapie, um weiter intensiv an ihrer Ess-Brechproblematik
arbeiten zu können. Nach den Gründen für das vermehrte Piercing in den letzten Monaten
vor der stationären Aufnahme befragt, berichtete die Patientin, dass das Stechen von
Körperschmuck und die damit verbundenen Schmerzen zu einer deutlichen Reduktion innerer
Spannungszustände beitragen würden.
Diskussion
Diskussion
Bei Frau N. H. handelt es sich um eine Patientin mit Traumatisierungserlebnissen zum
einen durch die Scheidung der Eltern und zum anderen durch den Missbrauch in der partnerschaftlichen
Beziehung. In ihrer weiteren Entwicklung schaffte es die Patientin nicht, ein kohärentes
Bild von sich und ihren wichtigsten Bezugspersonen entwickeln zu können. Im Verlauf
zeigten sich bei N. H. eine kombinierte, abhängig-emotional-instabile Persönlichkeitsstörung
mit selbstverletzenden Verhalten und Ess- und Brechsucht sowie eine frei flottierende
Angst- und Panikstörung mit Somatisierungsstörung und auch eine Abhängigkeit vom Morphin-
und Benzodiazepin-Typ.
Im Rahmen der therapeutischen Angebote wie einer multiprofessionellen-qualifizierten
stationären Entgiftung und weiteren Behandlungen kam es zu einer Verschiebung der
Symptome. Üblicherweise lassen sich Jugendliche und junge Erwachsene Körperpiercings
nicht wegen „der Lust am Schmerz” stechen, sondern um die Zugehörigkeit zu einer bestimmten
Gruppe zu signalisieren und um modisch zu sein [1]. Hinsichtlich des Piercens erscheint Frau N. H. in einer abhängigen, aber auch fordernden
Rolle zu sein. Sie erlebt den Schmerz und die „Gewalt” während des Piercing-Stechens
erneut, jedoch in einem von ihr gewollten und kontrollierten Settings. Während des
Bodypiercens ist eine Identifikation des vorherigen Opfers N. H. mit dem „Täter”,
dem Aggressor, möglich. Somit schafft es die Patientin auf diese Weise, Teile ihres
verletzten Körpers für sich zurückzugewinnen. Für sie ist es möglich, das selbstverletzende
Verhalten durch eine selbstbestimmte Verschiebung hin zum bewussten Schmerzerleben
beim Piercing zu entkommen.
Das Piercing war nicht im Focus der therapeutischen Beziehung, da es sich in diesem
Fall um eine sozial akzeptierte Form des selbstverletzenden Verhaltens handelt und
es der Patientin gelang, sich nach der stationären Entgiftungsbehandlung über einen
längeren Zeitraum (bisher 6 Monate) zu stabilisieren. Die Patientin wurde nach der
stationären Entgiftungsbehandlung regelmäßig (d. h. mindestens 1 × wöchentlich) ambulant
betreut. Ein erneuter Konsum von Opiaten und Benzodiazepinen wurde von der Patientin
negiert und konnte in regelmäßigen Drogenscreenings im Urin nicht nachgewiesen werden.
Bei Krisensituationen wurde Frau N. H. die Möglichkeit eingeräumt, sich ohne vorherige
Terminabsprache an ihre ambulante Behandlerin zu wenden. Diese Möglichkeit wurde von
der Patientin sehr positiv bewertet, wenn gleich sie diese Option im bisherigen Verlauf
nicht nutzte. Die ambulante Therapie fokussierte auf einen lösungs- und ressourcen-orientierten
Ansatz [2]. Das Stechen von Piercings und Tätowierungen wurde von der Patientin, wenn auch
in geringerem Umfang, weiter praktiziert und auch die Essstörung besteht nach wie
vor. Mittelfristig plant Frau N. H. die stationäre Behandlung in einer Klinik für
Essgestörte.