Aktuelle Dermatologie 2004; 30(6): 218-222
DOI: 10.1055/s-2004-814589
Aus den Wurzeln unseres Fachs
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Der „Weichselzopf” in medizinhistorischer Perspektive

Eigenständige Hautkrankheit oder mythologisches Konstrukt?The „Elflock” in Medical HistoryDisease of its own or Mythological Fiction?A.  W.  Bauer1
  • 1Institut für Geschichte der Medizin, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
Weitere Informationen

Prof. Dr. med. Axel W. Bauer

Institut für Geschichte der Medizin · Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Im Neuenheimer Feld 327 · 69120 Heidelberg

eMail: awb@uni-hd.de

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
09. Juli 2004 (online)

Inhaltsübersicht #

Einleitung

Beginnen wir unsere Geschichte von ihrem Ende her. Das dermatologische Phänomen, um das es im vorliegenden Beitrag gehen soll, wurde von dem Budapester Hautarzt Ernst Ludwig Schwimmer (1837 - 1898) im Jahre 1888 in der Real-Encyclopädie der gesamten Heilkunde folgendermaßen charakterisiert: „Plica polonica, s. Trichoma s. Lues sarmatica, der Weichsel- oder Wichtelzopf, ist die Bezeichnung für jene unentwirrbare Verschlingung und Verfilzung der Kopfhaare, welche in früheren Jahren, namentlich in Polen, an der Ufern der Weichsel (Vistula), sowie in Russland als eine endemische Krankheitsform betrachtet wurde. Es sind kaum einige Decennien, dass man die Plica noch für eine eigenthümliche dyskrasische Affection hielt, theils für eine Abart der Syphilis und der Lepra, theils für eine Form der Gicht, und es erregte den Unwillen der Gelehrten, wenn sich ein vorurtheilsloser Arzt zu der Annahme verstieg, dass die Plica vielleicht nur eine locale Erkrankung der Haut darstelle. […] Die Literatur über diese Krankheitsform hat von der Zeit des 17. Jahrhunderts an bis fast in unsere Zeit hinein eine riesige Ausdehnung erlangt […] Der Culturfortschritt unseres Jahrhunderts und die aufgeklärten Anschauungen vorurtheilsloser Forscher haben das Dickicht […] gelichtet. […] Wir schließen diese kurzen Erörterungen mit dem Satze: dass die Plica keine Krankheit sei; wo eine derartige Verfilzung der Haare besteht, erforsche man die allgemeinen und localen Ursachen, die zu diesem abnormen Verhalten führen” [19].

#

Die Plica polonica als Folge von Kopfläusen

Was Ernst Ludwig Schwimmer hier sichtlich mit Stolz darlegte, musste seinen ärztlichen Zeitgenossen als ein Sieg der Wissenschaft über den Aberglauben erscheinen. Während die naturwissenschaftliche Medizin im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts die Gesamtzahl der unterscheidbaren Krankheitsbilder deutlich vergrößert hat, bildet der Weichselzopf in dieser Hinsicht eine Ausnahme: In seinem Falle löste sich ein klinisches Erscheinungsbild [6] als nosologische Entität allmählich auf. Im Jahre 1921 schrieb der Gießener Dermatologe Albert Jesionek (1870 - 1935) kurz und bündig, dass es sich bei der Plica polonica um eine lang anhaltende Verlausung der Kopfhaare mit nachfolgenden Reizerscheinungen der Haut handele, was durch die Verklebung der Haare mit der aus den Wundflächen und Pusteln aussickernden Flüssigkeit eine unentwirrbare Verfilzung der Kopfhaare bewirke. Jesionek fügte hinzu: „Früher als eine selbstständige Krankheit betrachtet und als ein Noli me tangere angesprochen, findet sich dieser äußerste Grad der Veranlassung [sic!, gemeint sein dürfte aber „Verwahrlosung”, A.W.B.] heutzutage wohl nur noch selten und wird in Kulturländern wenigstens bezüglich seiner Ätiologie wohl überall richtige Deutung finden. Das Vorhandensein von Läusen und Nissen in diesem Weichselzopf ist schwer zu verkennen” [11].

#

Der Weichselzopf in Etymologie und Volksglauben

Während somit der Weichselzopf am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus ärztlicher Sicht lediglich als ein Problem mangelhafter individueller Körperhygiene dargestellt wurde, das man vor allem der Bevölkerung Osteuropas zuschrieb, war dieses Krankheitsbild nur etwas mehr als ein Jahrhundert zuvor noch tief im Volksglauben verwurzelt gewesen. Hier wurde das Phänomen jedoch nicht nur als eine medizinische Frage, sondern zugleich als ein mythologisches Thema konzipiert. Das Verfilzen der Haare führte man nämlich auf zauberische Einwirkungen von Elfen und Wichtelmännchen zurück, worauf auch die Etymologie des eigentlich inkorrekten Namens Weichselzopf hinweist: Ursprünglich lautete die polnische Bezeichnung nämlich wieszczyce, die sich ihrerseits aus dem Wort wieszczyca ableitet, was soviel wie „Nachtgespenst” bedeutet. In der posnischen Mundart wurde daraus wickselzupp, während die Form wichsel-zopf erstmals 1697 der Glogauer Leibarzt und Romancier Johann Christoph Ettner von Eiteritz (1654 - 1724) verwendete [5] [8] [10]. Ebenfalls im Schlesischen entstand auch der Ausdruck Wichtelzopf. Andere Bezeichnungen für die Krankheit waren Drudenzopf, Trollenzopf, Alpschwanz oder der englische Ausdruck elflock.

Eine gängige Erklärung behauptete: Wenn Frauen „bei heftigem Gelüst” das Gewünschte nicht erhalten, so bekommen sie stattdessen einen Weichselzopf. Nicht anders ergehe es Pferden, bei denen dann die Mähne verfilzen könne. Vor dem Abschneiden des Haarkonvoluts wurde gewarnt, denn es könnten Verblutung, Auszehrung oder gar der Tod des Patienten oder der Patientin die Folge sein. Empfohlen wurde stattdessen das Anfertigen einer Nachbildung des Weichselzopfes aus Werg, die dann gemeinsam mit einem Brötchen und einer Silbermünze in einem dunklen Winkel der Kirche deponiert werden sollte. Erst nachdem dieses Arrangement verschwunden (und das hieß in der Praxis wohl: von einem findigen Mitbürger wegen der Silbermünze abtransportiert worden) war, durfte man am folgenden Karfreitag den Weichselzopf unter Aufsagen magischer Sprüche mit einem scharfen Stein abschneiden. Bei Pferden wurde die verfilzte Mähne „an einem bestimmten Tag des Jahres auf der Grenze mit Steinen abgeklopft” [2].

Noch Zedlers Grosses Universal-Lexicon, das zur Zeit der Aufklärung erschien, widmete im Jahre 1748 dem Wichtelzopff, seinen Ursachen und seiner Behandlung immerhin fast eine dreiviertel Druckseite. Der lateinische Name Plica polonica rühre daher, dass „am meisten die Pohlen von dieser Beschwerung angegriffen” würden. Es handele sich dabei um „eine Verwicklung und Zusammenbackung der Haare [...], welche von sehr zähen und schleimichten, auch bösartigen Säfften” herrühre. Die Krankheit komme allerdings nicht nur in Polen vor, sondern ebenso in der Schweiz, im Elsass und in den am Rhein gelegenen Teilen der Niederlande. Zuweilen hätten in Ungarn auch Tiere, vor allem Pferde, unter der Störung zu leiden. Zur Behandlung empfehle man in Polen die Kopfwäsche mit einer Abkochung aus Bärlapp, Hopfen und Gürtelkraut. Andere Experten zögen ein Gebräu aus Efeu, Weinlaub, Zaunrüben und Sarsaparille vor. Die meisten Ratschläge lauteten jedoch, dass gegen den Wichtelzopf dasselbe Heilmittel helfe wie gegen die Syphilis, nämlich das Quecksilber. Doch auch die Anwendung von Brech- und gelinden Abführmitteln könne erforderlich werden [21].

#

Der Weichselzopf als kontroverses Thema auf den Naturforscherversammlungen

Erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts begann die empirische Erforschung des Weichselzopfes im Rahmen des allgemeinen Umschwungs von der spekulativen Humoralpathologie zur naturwissenschaftlich fundierten Medizin. Dieser allmähliche Prozess lässt sich an den seit 1822 jährlich stattfindenden Versammlungen der noch heute existierenden Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte (GDNÄ) besonders eindrücklich verfolgen. Bis weit nach der Mitte des 19. Jahrhunderts bildeten diese jeweils im September abgehaltenen Jahrestagungen ein repräsentatives Spektrum des Wissens- und Forschungsstandes in allen Bereichen von Medizin und Naturforschung. Im Zeitraum zwischen 1850 und 1900 gingen dann aus den Sektionen oder Fachabteilungen der Naturforscherversammlung zahlreiche wissenschaftliche Fachgesellschaften hervor, die sich zumeist den Namen Deutsche Gesellschaft für [...] zulegten [7] [12] [13] [15] [16]. Die GDNÄ wurde somit zur Keimzelle der späteren Einzeldisziplinen der modernen Natur- und Biowissenschaften, aber auch der klinischen Medizin. Dies trifft auch für die Dermatologie zu: Im Jahre 1885 bildete sich auf der 58. Versammlung der GDNÄ in Straßburg unter der Führung von Alfred Wolff (1850 - 1916), der 1886 als Leiter der Straßburger Universitäts-Hautklinik außerordentlicher Professor und 1913 persönlicher Ordinarius wurde, erstmals eine Sektion für Dermatologie und Syphilidologie, die von diesem Zeitpunkt an jedes Jahr tagte. Während bzw. am Rande dieser Sektionssitzung auf der 61. Versammlung der GDNÄ in Köln im September 1888 konstituierte sich informell die Deutsche Dermatologische Gesellschaft (DDG), deren vereinsrechtliche Registrierung im April 1889 in Prag erfolgte [18].

Über die Plica polonica wurde zwischen 1833 und 1868 insgesamt fünfmal auf allgemeinen medizinischen Fachsitzungen im Rahmen der Naturforscherversammlungen gesprochen [4]. Erstmals referierte bei der 11. Versammlung 1833 in Breslau der Geheime Medizinalrat Johann Ollenroth (1788 - 1848) aus dem damals preußischen Bromberg, dem heutigen polnischen Bydgoszcz, über den Weichselzopf. Dazu demonstrierte er mehrere Exemplare dieser Gattung. Nach Ollenroths Auffassung handelte es sich bei der Krankheit um eine „Dyskrasie auf skrofulöser Basis”, die sich „bald genuin erzeugt, bald durch ein Contagium fortpflanzt”. Deshalb dürfe man den Weichselzopf grundsätzlich nicht ohne Gefahr für den Patienten abschneiden [14].

Die hier vorgetragene traditionelle medizinische Lehrmeinung beruhte auf spekulativen Annahmen im Sinne der überlieferten Humoralpathologie oder Viersäftelehre, wonach eine fehlerhafte Mischung der vier Körpersäfte Blut, gelbe Galle, schwarze Galle und Schleim zu Krankheiten führte. Immerhin aber hielt Medizinalrat Ollenroth die Verbreitung der Plica polonica auch durch ein Contagium für möglich, einen allerdings hypothetischen und nicht nachgewiesenen infektiösen Partikel, der von einem Erkrankten durch direkten Körperkontakt auf einen bislang Gesunden übertragen werden konnte.

In der von den letzten Anhängern der zu Beginn des 19. Jahrhunderts Ton angebenden Naturphilosophie und von den Vertretern der so genannten Naturhistorischen Schule stark beeinflussten deutschen Medizin des Biedermeier ließ sich noch während der frühen 1840er-Jahre kein Grund legender Wandel der Einstellung zum Problem des Weichselzopfes beobachten. Auf der 22. Naturforscherversammlung in Bremen trat im September 1844 der Kasseler Arzt Johann Ludwig Grandidier (1810 - 1878) ans Rednerpult und wies einen massenförmigen Weichselzopf vor, der einer polnischen Dame aus den höheren Ständen entfernt worden war. Der Zopf sei insgesamt dreimal abgeschnitten worden, jedoch stets wieder nachgewachsen. Beim dritten Male habe sich als Folgeerscheinung allmählich ein schweres Leiden eingestellt, infolge dessen die Dame von ihrem Arzt ins niedersächsische Bad Nenndorf zur Kur geschickt worden sei. Im Zuge dieser Allgemeinerkrankung seien an der Patientin besonders heftige reißende Schmerzen in den Knochen des Kopfes und der Extremitäten, zahlreiche runde und flache Geschwüre an den Schleimhäuten des oberen Verdauungstraktes sowie Erscheinungen beginnender Lungentuberkulose beobachtet worden [9]. Es kann als ein Kennzeichen der Medizin des Biedermeier angesehen werden, dass man in der Krankheitslehre das Aufstellen eigener theoretischer Konzepte mied. Das ärztliche Interesse richtete sich mehr auf das Detail, auf das Vordergründige, auf den konkreten Einzelfall. Nach dem globalen Scheitern der naturphilosophisch inspirierten Medizin waren die Ärzte ernüchtert und von großer therapeutischer Skepsis erfüllt.

Doch nicht einmal 15 Jahre später hatte sich das Panorama deutlich gewandelt. Die Naturwissenschaften befanden sich seit dem Beginn der 1850er-Jahre nun auch in der deutschen Medizin auf dem Vormarsch, um Jahrhunderte alte traditionelle „Zöpfe” abzuschneiden. Einer dieser „alten Zöpfe” sollte - im metaphorischen Sinne - die Plica polonica sein. Der 35-jährige Dermatologe Friedrich Wilhelm von Baerensprung (1822-1864), außerordentlicher Professor und Direktor der Hautklinik an der Berliner Charité, teilte 1857 auf der 33. Naturforscherversammlung in Bonn seine Beobachtungen über den Weichselzopf mit, die ihn zu der Ansicht geführt hatten, „dass der Weichselzopf nur Product eines eingewurzelten Vorurtheils” sei [3].

Diese nüchterne Feststellung fand jedoch keine ungeteilte Zustimmung, wie sich an der Reaktion des Wilnaer Lehrstuhlinhabers für Vergleichende Anatomie Adam Ferdinand Adamowicz (1802-1881) zeigte. Der um 20 Jahre ältere Gelehrte aus Litauen schien nicht bereit, den Wechsel seines jungen Vorredners von der Humoralpathologie zur naturwissenschaftlich-experimentell orientierten Medizin ohne Rückzugsgefechte zu akzeptieren. Vielmehr suchte er eine vermittelnde Position einzunehmen, die Tradition und Moderne mit einander in Einklang bringen sollte. Die Plica polonica müsse, so argumentierte Adamowicz, als besondere Dyskrasie ernstgenommen werden. Nicht ohne Grund habe die Kaiserliche Medizinische Gesellschaft zu Wilna eine Prämie von 500 Silberrubel für die Klärung der Ursache dieser Krankheit ausgeschrieben. Die Plica polonica, auch Trichoma genannt, könne als erblich bedingt angesehen werden, da sie sowohl bei Kindern als auch bei Enkeln befallener Personen auftrete, sich andererseits artifiziell aber nicht provozieren lasse. Doch sah auch Adamowicz gewisse soziale und kulturelle Einflüsse wirksam werden, denn er stellte fest: „Im Allgemeinen scheint mir die Krankheit seit 40 Jahren viel seltener bei Menschen und Thieren vorzukommen, indem die Cultur des Landes sich hebt und die Hygieine vervollkommnet”.

Zu den vielfältigen Symptomen des Weichselzopf-Syndroms gehörten nach Adamowicz gelbliches Hautkolorit, Ohrensausen, Magenschmerzen, Pilzerkrankung der Nägel, Onychogryposis, Stockschnupfen, Mundgeruch und Transpiration, Hypochondrie und Hysterie: „Alle diese Symptome weichen manchmal einer kritischen Evolution des Trichoms”, führte der litauische Professor weiter aus, dessen Krankheitstheorie noch immer von der traditionellen Viersäftelehre geprägt wurde. Er interpretierte den Weichselzopf - ähnlich wie dies auch Johann Ludwig Grandidier in Bremen 1844 durch seine Fallschilderung der multimorbiden polnischen Dame implizit nahegelegt hatte - im Sinne eines Morbus auxiliaris, das heißt als eine „helfende” Hautkrankheit, die in der Lage war, durch ihr Erscheinen eine Reihe systemischer Krankheitssymptome auszulöschen und diese somit scheinbar zu heilen. Dahinter stand die in Schul- und Volksmedizin gleichermaßen allgemein verbreitete Vorstellung, dass es auf diese Weise möglich sei, eine gefährliche Krankheitsmaterie vom Körperinneren auf die Körperoberfläche abzuleiten, um sie unschädlich zu machen [1] [17].

Zu einer letzten Kontroverse über den Weichselzopf kam es auf der 42. Naturforscherversammlung 1868 in Dresden. Dr. Arnold Wanjura (geb. 1829) aus Antonienhütte in Oberschlesien bezeichnete die infrage stehende Krankheit als „Streitobjekt in der Pathologie”. Er legte Ergebnisse von „Verzopfungsexperimenten” vor, bei denen auf die betroffenen Körperstellen von Plica-Kranken applizierte Fremdhaare ebenso verzopft seien wie die eigenen Haare der Patienten. Daraus leitete Wanjura ab, dass die Plica polonica tatsächlich ein eigenständiges Leiden sei. Diese methodisch recht waghalsige Schlussfolgerung wurde jedoch von dem anwesenden Dr. Schlesinger nicht geteilt, denn er hatte „die bestimmte Überzeugung gewonnen, dass die wahre Ursache dieser Affection das Vorurtheil und der Wahn des Volkes” sei und dass Schmutz und Unreinlichkeit dem Glauben zu Hilfe kämen. Die Plica polonica exisitiere nur da, wo der Glaube an sie herrsche.

Als Vertreter der wissenschaftlichen Dermatologie merkte nun der Prager Privatdozent Filipp Josef Pick (1834 - 1910) an, er könne aus seiner Wiener Assistentenzeit bei Ferdinand Hebra (1816 - 1880) berichten, dass die Plica ausschließlich eine Folge von anderen zu Grunde liegenden Erkrankungen wie Syphilis, Ekzemen, Krätze, aber auch von langwierigen Fiebern in Verbindung mit Schmutz und Unreinlichkeit sei. Ähnliche Erscheinungen könnten durch Vernachlässigung des Haarwuchses jederzeit künstlich veranlasst werden. Nochmals versuchten nun Dr. Berg aus dem schlesischen Bad Reinerz sowie der Vortragende Dr. Wanjura die Gegenthese zu stützen. Berg versuchte dies mit der Behauptung, dass die Plica polonica ein spezifisches Syndrom darstelle, während Wanjura schlicht auf die Autorität von Johann Nepomuk Czermak (1828 - 1873) verwies, der zu dieser Zeit an der Universität Jena den Lehrstuhl für Physiologie innehatte. Damit endete die lebhafte Diskussion, und der Vorsitzende gab „eine Einladung der Dresdner Liedertafel zu einer Festfeier für nächsten Donnerstag” bekannt [20]. Die Geschichte der Plica polonica als einer Säfteverderbnis im Sinne der traditionellen Humoralpathologie ließ sich in der Ära des morphologisch-naturwissenschaftlichen Denkens in der Medizin nicht länger fortführen.

#

Die Interpretation empirischer Befunde und das dominierende Krankheitskonzept

Ohne Zweifel traf Ernst Schwimmer in seinem eingangs zitierten Enzyklopädie-Artikel aus dem Jahre 1888 einen wesentlichen Punkt, indem er resümierte, dass die Geschichte des Weichselzopfes „in vieler Beziehung eine Geschichte der Irrlehre ärztlicher Wissenschaft” sei, da man fest gewurzelte Anschauungen und glaubwürdig erscheinende Überlieferungen nur schwer ausrotten könne. Es genüge nicht, ein altes, lang bestehendes Vorurteil zu bekämpfen und zu widerlegen, es müssten vielmehr auch „der Boden und die Empfänglichkeit für solche Angriffe vorhanden sein, um selbe siegreich durchführen zu können” [19]. Als Folge der mangelhaften diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten im Hinblick auf dermatologische Erkrankungen der Kopfhaut bis weit in das 19. Jahrhundert hinein war mit der Plica polonica ein artifizielles Krankheitsgebilde wissenschaftlich gepflegt worden, das die Patienten einerseits über Jahre hinweg nicht sonderlich belästigte, dessen Entfernung aber andererseits bei ihnen die diffuse Befürchtung auslöste, es könnten nun stattdessen die „krankhaften Säfte” gefährliche Störungen im Körperinneren auslösen. In dieser weit verbreiteten Sorge waren sich die Kranken mit ihren Ärzten lange Zeit einig gewesen. Humoralpathologisch orientierte Schulmedizin und mythologisch geprägte Vorstellungen in der Bevölkerung koexistierten harmonisch mit einander.

Erst die grundsätzliche Abkehr der Medizin von der antiken Säftelehre leitete um die Mitte des 19. Jahrhunderts jenen hier nur skizzierten Konzeptwandel zur naturwissenschaftlichen Heilkunde ein, der auch für das Ende des Weichselzopfes als einer eigenständigen Krankheitsentität Voraussetzung war. Das Beispiel der Plica polonica illustriert eindrucksvoll die entscheidende Rolle, die dem jeweils vorherrschenden theoretischen Krankheitskonzept bei der Interpretation empirischer Befunde zukommt. Diese enge Wechselbeziehung von Empirie und Theorie gilt indessen nicht nur für die Vergangenheit, sondern auch für die Gegenwart der Medizin. In sofern ist Medizingeschichte stets zugleich ein Teil der Kulturgeschichte.

Zoom Image

Abb. 1 Eczema e pediculis mit Furunkeln (Sammlung Ehrmann) entnommen aus: Riecke E (Hrsg). Lehrbuch der Haut- und Geschlechtskrankheiten. 6. Aufl. Jena: Gustav Fischer, 1921, 70 (Fig. 4).

Zoom Image

Abb. 2 Weichselzopf (Sammlung Riecke) entnommen aus: Riecke E (Hrsg). Lehrbuch der Haut- und Geschlechtskrankheiten. 6. Aufl. Jena: Gustav Fischer, 1921, 71 (Fig. 5).

#

Literatur

  • 1 Adamowicz A F. Über die Existenz der Plica polonica. In: Noeggerath J, Kilian HF (Hrsg) Amtlicher Bericht über die drei und dreissigste Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte zu Bonn im September 1857. Bonn; (ohne Verlag) 1859: 221-222
  • 2 Bächtold-Stäubli H (Hrsg). Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, 9. Berlin; Walter de Gruyter & Co 1938/1941: 1061
  • 3 von Baerensprung F W. Beobachtungen über den „Weichselzopf”. In: Noeggerath J, Kilian HF (Hrsg) Amtlicher Bericht über die drei und dreissigste Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte zu Bonn im September 1857. Bonn; (ohne Verlag) 1859: 221
  • 4 Bauer A. Plica Polonica. In: Bauer A Pathologie auf den Versammlungen Deutscher Naturforscher und Ärzte von 1822 bis 1872. Die Krankheitslehre auf dem Weg zur naturwissenschaftlichen Morphologie. Medizinhistorische Habilitationsschrift. Heidelberg; Fakultät für Naturwissenschaftliche Medizin 1985: 306-311
  • 5 Eckart W. Medizinkritik in einigen Romanen der Barockzeit - Albertinus, Grimmelshausen, Lesage, Ettner. In: Eckart W, Geyer-Kordesch J (Hrsg) Heilberufe und Kranke im 17. und 18. Jahrhundert. Die Quellen- und Forschungssituation. Münster; Burgverlag Tecklenburg 1982: 49-76
  • 6 Eissner H. Historische Bemerkung zur Beschreibung von Läuseeiern an Kopfhaaren beim sog. Weichselzopf.  Zeitschrift für Haut- und Geschlechtskrankheiten. 1970;  45 781-785
  • 7 von Engelhardt D . Forschung und Fortschritt. Festschrift zum 175jährigen Jubiläum der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte. Stuttgart; Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft 1997
  • 8 Ettner J C. Des getreuen Eckharts unwürdiger Doctor. Augspurg, Leipzig; Lorentz Kroninger und Gottlieb Göbels 1697: 181
  • 9 Grandidier J L. Demonstration eines massenförmigen Weichselzopfes. In: Smidt, Focke GW (Hrsg) Amtlicher Bericht über die zweiundzwanzigste Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte in Bremen im September 1844. Zweite Abtheilung. Bremen; (ohne Verlag) 1845: 164
  • 10 Grimm J, Grimm W. Deutsches Wörterbuch, 28 (= 14/I,1). München; Deutscher Taschenbuch Verlag 1984: 536-537
  • 11 Jesionek A. Die Pediculidae. In: Riecke E (Hrsg) Lehrbuch der Haut- und Geschlechtskrankheiten. 6. Aufl. Jena; Gustav Fischer 1921: 523-524
  • 12 Lampe H, Querner H. Die Vorträge der allgemeinen Sitzungen auf der 1.-85. Versammlung 1822 - 1913. Hildesheim; Gerstenberg 1972
  • 13 Lampe H. Die Entwicklung und Differenzierung von Fachabteilungen auf den Versammlungen von 1828 bis 1913. Hildesheim; Gerstenberg 1975
  • 14 Ollenroth J. Über den Weichselzopf. In: Wendt J, Otto AW (Hrsg) Amtlicher Bericht über die Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte zu Breslau im September 1833. Breslau; (ohne Verlag) 1834: 64
  • 15 Pfannenstiel M. Kleines Quellenbuch zur Geschichte der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte. Berlin, Göttingen, Heidelberg; Springer 1958
  • 16 Querner H, Schipperges H . Wege der Naturforschung 1822 - 1972 im Spiegel der Versammlungen Deutscher Naturforscher und Ärzte. Berlin, Heidelberg, New York; Springer 1972
  • 17 Schönfeld W. Kurze Geschichte der Dermatologie und Venerologie und ihre kulturgeschichtliche Spiegelung. Hannover-Kirchrode; Oppermann 1954: 49
  • 18 Scholz A. Geschichte der Dermatologie in Deutschland. Mit einem Geleitwort von Otto Braun-Falco und Erwin Schöpf. Berlin, Heidelberg, New York; Springer 1999
  • 19 Schwimmer E. Plica Polonica. In: Eulenburg A (Hrsg) Real-Encyclopädie der gesammten Heilkunde, 15. 2. Aufl. Wien, Leipzig; Urban & Schwarzenberg 1888: 624-626
  • 20 Wanjura A JF. Die Plica polonica als Streitobjekt in der Pathologie. In: Bley C, Rietschel, Hartig (Hrsg) Tageblatt der 42. Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte in Dresden vom 18. bis 24. September 1868. Dresden; 1868: 10
  • 21 Zedler J H. Grosses vollständiges Universal-Lexicon, 55. Leipzig, Halle; Johann Heinrich Zedler 1748: 1681-1682

Prof. Dr. med. Axel W. Bauer

Institut für Geschichte der Medizin · Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Im Neuenheimer Feld 327 · 69120 Heidelberg

eMail: awb@uni-hd.de

#

Literatur

  • 1 Adamowicz A F. Über die Existenz der Plica polonica. In: Noeggerath J, Kilian HF (Hrsg) Amtlicher Bericht über die drei und dreissigste Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte zu Bonn im September 1857. Bonn; (ohne Verlag) 1859: 221-222
  • 2 Bächtold-Stäubli H (Hrsg). Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, 9. Berlin; Walter de Gruyter & Co 1938/1941: 1061
  • 3 von Baerensprung F W. Beobachtungen über den „Weichselzopf”. In: Noeggerath J, Kilian HF (Hrsg) Amtlicher Bericht über die drei und dreissigste Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte zu Bonn im September 1857. Bonn; (ohne Verlag) 1859: 221
  • 4 Bauer A. Plica Polonica. In: Bauer A Pathologie auf den Versammlungen Deutscher Naturforscher und Ärzte von 1822 bis 1872. Die Krankheitslehre auf dem Weg zur naturwissenschaftlichen Morphologie. Medizinhistorische Habilitationsschrift. Heidelberg; Fakultät für Naturwissenschaftliche Medizin 1985: 306-311
  • 5 Eckart W. Medizinkritik in einigen Romanen der Barockzeit - Albertinus, Grimmelshausen, Lesage, Ettner. In: Eckart W, Geyer-Kordesch J (Hrsg) Heilberufe und Kranke im 17. und 18. Jahrhundert. Die Quellen- und Forschungssituation. Münster; Burgverlag Tecklenburg 1982: 49-76
  • 6 Eissner H. Historische Bemerkung zur Beschreibung von Läuseeiern an Kopfhaaren beim sog. Weichselzopf.  Zeitschrift für Haut- und Geschlechtskrankheiten. 1970;  45 781-785
  • 7 von Engelhardt D . Forschung und Fortschritt. Festschrift zum 175jährigen Jubiläum der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte. Stuttgart; Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft 1997
  • 8 Ettner J C. Des getreuen Eckharts unwürdiger Doctor. Augspurg, Leipzig; Lorentz Kroninger und Gottlieb Göbels 1697: 181
  • 9 Grandidier J L. Demonstration eines massenförmigen Weichselzopfes. In: Smidt, Focke GW (Hrsg) Amtlicher Bericht über die zweiundzwanzigste Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte in Bremen im September 1844. Zweite Abtheilung. Bremen; (ohne Verlag) 1845: 164
  • 10 Grimm J, Grimm W. Deutsches Wörterbuch, 28 (= 14/I,1). München; Deutscher Taschenbuch Verlag 1984: 536-537
  • 11 Jesionek A. Die Pediculidae. In: Riecke E (Hrsg) Lehrbuch der Haut- und Geschlechtskrankheiten. 6. Aufl. Jena; Gustav Fischer 1921: 523-524
  • 12 Lampe H, Querner H. Die Vorträge der allgemeinen Sitzungen auf der 1.-85. Versammlung 1822 - 1913. Hildesheim; Gerstenberg 1972
  • 13 Lampe H. Die Entwicklung und Differenzierung von Fachabteilungen auf den Versammlungen von 1828 bis 1913. Hildesheim; Gerstenberg 1975
  • 14 Ollenroth J. Über den Weichselzopf. In: Wendt J, Otto AW (Hrsg) Amtlicher Bericht über die Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte zu Breslau im September 1833. Breslau; (ohne Verlag) 1834: 64
  • 15 Pfannenstiel M. Kleines Quellenbuch zur Geschichte der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte. Berlin, Göttingen, Heidelberg; Springer 1958
  • 16 Querner H, Schipperges H . Wege der Naturforschung 1822 - 1972 im Spiegel der Versammlungen Deutscher Naturforscher und Ärzte. Berlin, Heidelberg, New York; Springer 1972
  • 17 Schönfeld W. Kurze Geschichte der Dermatologie und Venerologie und ihre kulturgeschichtliche Spiegelung. Hannover-Kirchrode; Oppermann 1954: 49
  • 18 Scholz A. Geschichte der Dermatologie in Deutschland. Mit einem Geleitwort von Otto Braun-Falco und Erwin Schöpf. Berlin, Heidelberg, New York; Springer 1999
  • 19 Schwimmer E. Plica Polonica. In: Eulenburg A (Hrsg) Real-Encyclopädie der gesammten Heilkunde, 15. 2. Aufl. Wien, Leipzig; Urban & Schwarzenberg 1888: 624-626
  • 20 Wanjura A JF. Die Plica polonica als Streitobjekt in der Pathologie. In: Bley C, Rietschel, Hartig (Hrsg) Tageblatt der 42. Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte in Dresden vom 18. bis 24. September 1868. Dresden; 1868: 10
  • 21 Zedler J H. Grosses vollständiges Universal-Lexicon, 55. Leipzig, Halle; Johann Heinrich Zedler 1748: 1681-1682

Prof. Dr. med. Axel W. Bauer

Institut für Geschichte der Medizin · Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Im Neuenheimer Feld 327 · 69120 Heidelberg

eMail: awb@uni-hd.de

Zoom Image

Abb. 1 Eczema e pediculis mit Furunkeln (Sammlung Ehrmann) entnommen aus: Riecke E (Hrsg). Lehrbuch der Haut- und Geschlechtskrankheiten. 6. Aufl. Jena: Gustav Fischer, 1921, 70 (Fig. 4).

Zoom Image

Abb. 2 Weichselzopf (Sammlung Riecke) entnommen aus: Riecke E (Hrsg). Lehrbuch der Haut- und Geschlechtskrankheiten. 6. Aufl. Jena: Gustav Fischer, 1921, 71 (Fig. 5).