Geburtshilfe Frauenheilkd 2004; 64(5): 461-463
DOI: 10.1055/s-2004-817898
Editorial

Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Psychosomatik in der Frauenheilkunde

Psychosomatics in GynecologyM. Neises1
  • 1FB Psychosomatische Frauenheilkunde, Medizinische Hochschule Hannover
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Publication Date:
05 May 2004 (online)

„Psychosomatik“ ist ein Begriff, welcher einerseits seelische Verursachung sich körperlich manifestierender Erkrankung, andererseits die seelische Reaktion auf körperliche Erkrankungen bezeichnet. Trotz der bis heute, auch im Zeitalter der bildgebenden Verfahren, mit welchen seelische Prozesse im Körperlichen, also im Gehirn, abgebildet werden können, ungelösten Frage nach dem Zusammenhang zwischen Leib und Seele - ein altes philosophisches Problem - hat die unter dem Begriff „Psychosomatik“ subsumierte ärztliche Arbeitsweise in den meisten Gebieten der Medizin Eingang gefunden. Dies traf zunächst vor allem für die Innere Medizin zu. Hier war es vor allem Viktor von Weizsäcker [[7]], welcher in seinem Buch „Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen“ die Wechselbeziehung zwischen der individuell verschiedenen seelischen Erlebensweise und den Einfluss der Umweltfaktoren darauf beschrieb. Er führte damit das „Subjekt“, also die Individualität des Menschens in seiner Weltwahrnehmung in die Medizin ein, um damit einer mechanistischen Vorgehensweise in der Forschung und der ärztlichen Anwendung von Medizin entgegenzutreten. Thure von Uexküll [[5]] hat dieses Denken mit seinem Begriff „Situationskreis“ fortgeführt. In den USA war es vor allem der Psychoanalytiker Franz Alexander [[1]], welcher eine seelische Verursachung körperlicher Erkrankungen sogar sehr spezifisch sah: Er glaubte, dass spezifische unbewusste Konflikte zu ganz bestimmten Erkrankungen führen. Diese Spezifität hat sich allerdings nicht nachweisen lassen.

Der historisch auf der naturwissenschaftlichen Empirie gegründeten Wissenschaft „Medizin“ ist die psychosomatische Betrachtungsweise primär fremd, da sich seelische Prozesse und Erlebensweisen anders als in der naturwissenschaftlichen Empirie rein metrisch nur schwer erfassen lassen. Das gilt auch trotz Untersuchungen, welche die Verbindung zwischen insbesondere konflikthaften Erlebniskonstellationen und körperlichen Erkrankungen oder zumindest somatischen Beschwerden zu belegen scheinen, wie etwa Weiner [[6]] nahe legte. Bis heute besteht so eine Kontroverse, welche in den verschiedenen medizinischen Disziplinen unterschiedlich ausgeprägt ist, zwischen den „reinen Somatikern“, welche die Entstehung von Krankheit rein als Folge biochemischer, physiologischer oder anatomischer Entgleisungen verstehen und den „Psychogenetikern“, welche Erkrankungen immer seelisch mit- oder ausschließlich bedingt erachten.

Diese beiden Lager stehen sich diametral gegenüber. Gewöhnlich bewegt sich eine realistische psychodynamische Betrachtungsweise zwischen diesen Extremen, wobei die Annahme psychogenetischer Komponenten um so größer ist, je weniger körperliche Ursachen von Erkrankungen bekannt sind. Je eindeutiger eine Erkrankung eine somatische Ursache hat, wie etwa ein körperliches Trauma oder eine Infektionskrankheit oder ein degeneratives Leiden, um so weniger schien eine psychogenetische Betrachtung sinnvoll. Je weniger aber derartige somatische Ursachen bekannt waren, um so eher waren Ärzte geneigt, seelische Ursachen anzunehmen. Das trifft auch für die Betrachtung ganzer Disziplinen zu: die Psychosomatik hat sich vor allem in der Inneren Medizin, in der Frauenheilkunde sowie in der Kinderheilkunde etabliert. Es sind solche Fächer, in welchen es Erkrankungen gibt, deren Ätiologie noch unbekannt ist, wie in der Inneren Medizin, in welchen die Umwelteinflüsse eine wesentliche Rolle spielen, wie bei der kindlichen Entwicklung, oder wo Erlebens- und Verhaltensweisen in besonderer Weise mit emotionalen Prozessen verknüpft sind wie in der Frauenheilkunde. Erst sehr spät haben psychosomatische Betrachtungsweisen Einzug gehalten auch in Fächern wie Augen-, HNO-Heilkunde, Urologie oder der Dermatologie. Psychosomatische Betrachtung fehlt meist dann, wenn das kurative Vorgehen vor allem operativer Natur ist, wie also insbesondere in der allgemeinen Chirurgie.

Das zuvor Gesagte gilt für die Richtung in der Psychosomatik, die seelische Ursachen für körperliche Erkrankungen in Betracht zieht. Erst später wurde die umgekehrte Richtung, nämlich seelische Reaktion auf eindeutig körperliche Erkrankungen zu betrachten, also das, was man mit „Krankheitsverarbeitung“ bezeichnet, Gegenstand psychosomatischen Arbeitens. Hier ist vor allem die Psychoonkologie zu nennen, welche zunächst die über das Immunsystem sich auswirkenden seelischen Ursachen von Krebserkrankungen in Betracht zog, gegenwärtig jedoch vorwiegend die seelische Verarbeitung von Krebserkrankungen zum Inhalt hat.

Sowohl bei der psychosomatischen Arbeitsweise, welche mehr kurativ ausgerichtet ist, indem sie seelische Ursachen körperlicher Erkrankungen zu korrigieren sucht, als auch bei der mehr „palliativ“ ausgerichteten Arbeitsweise der Psychosomatik, welche vorhandenes Leiden zu mildern sucht, ist aber das ratsam, was unter „mehrdimensionaler“ Betrachtungs- bzw. Vorgehensweise verstanden wird. Dieser ursprünglich aus der Psychiatrie (Kretschmer 1975 [[3]]) stammende Begriff, welcher in anderen Fächern aber in ähnlicher Weise unter dem Stichwort „multikonditional“ läuft, meint die Tatsache, dass Erkrankungen, seien sie körperlich oder seelisch manifestiert, gewöhnlich nicht nur auf eine einzige Ursache zurückgehen, sondern durch ein Ursachen- bzw. Bedingungsbündel entstehen. Das gilt sogar für die scheinbar eindeutig verursachten Infektionskrankheiten: Die Bereitschaft, auf eine Infektion mit einer Erkrankung zu reagieren oder nicht, kann durchaus von ganz anderen, seelisch, sozial oder konstitutionell disponierenden Faktoren mitbestimmt werden. Dies gilt aber nicht nur für die Ätiologie unter psychosomatischer Betrachtung, sondern auch für die Psychosomatik, welche sich mit der Krankheitsverarbeitung befasst: So ist z. B. ein Hauptergebnis aller diesbezüglichen Untersuchungen, dass eine soziale Unterstützung, sei es in partnerschaftlicher, familiärer oder freundschaftlicher Hinsicht, die Krankheitsverarbeitung wesentlich erleichtert, ein Ergebnis, welches auch im Alltagsgeschehen unmittelbar einleuchtet und nicht nur für Erkrankungen, sondern etwa auch für die Verarbeitung seelischer Traumata gilt.

Auch die Psychosomatik in der Frauenheilkunde ist befasst mit der Psychogenese sich körperlich manifestierender Erkrankungen einerseits und der seelischen Verarbeitung körperlich begründeter Erkrankungen andererseits. Das nachdrücklichste Beispiel ist die „somatoforme“, also seelisch begründete, sich aber körperlich manifestierende Störung, welche durch eine Anzahl von Synonyma bezeichnet wird. Am gebräuchlichsten ist die Bezeichnung „chronischer Unterbauchschmerz“. Dieses Krankheitsbild hat historisch und gegenwärtig zahlreiche Synonyma: Hysteralgie (Scanzoni 1870), Beckenneuralgie (Cotte 1931), Pelipathia vegetativa (Prill 1964), Pelvipathie (Römer 1969), Unterleibsschmerzen ohne Organbefund (Molinski 1978), Pelipathie-Syndrom (Richter 1979, zit. in [[4]]) und chronisches Unterbauchschmerzsyndrom (Bodden-Heidrich [[2]]).

Chronischer Unterbauchschmerz kann eine rein psychogene Erkrankung, aber auch eine Störung mit organischer Verursachung (Endometriose, Bauchfelladhäsionen, Infektionen) sein. Diese sowohl seelische als auch körperliche Möglichkeit der Verursachung von Unterbauchschmerzen zeigt gleichzeitig ein allgemeines Problem der Diagnostik von solchen Erkrankungen, die in einem Fall mehr seelische, im anderen Fall mehr körperliche Ursachen haben können. Das Problem besteht in der subjektiven Voreinstellung, welche die Gynäkologin/der Gynäkologe, eventuell durch eine bestimmte wissenschaftliche Schule gebunden, zur Psychosomatik hat. Die eingangs beschriebene Unterscheidung zwischen „Psychogenetikern“ und „Somatogenetikern“ wird hier besonders deutlich. Gerade diese primäre Einstellung zur seelischen Begründung körperlicher Manifestationen ist dann bestimmend dafür, ob ärztlicherseits eine seelische oder eine körperliche Ursache dieses Unterbauchschmerzes angenommen wird. Hier erweist sich die Bedeutung der oben beschriebenen „mehrdimensionalen Diagnostik“. Es wäre falsch, wenn der Psychosomatiker von vornherein nur seelische Ursachen vermutet und die körperlichen außer Acht lässt, und ebenso falsch wäre es, wenn der Somatogenetiker umgekehrt nur körperliche Ursachen annehmen und die möglicherweise seelischen außer Acht ließe. Das Prinzip der mehrdimensionalen Diagnostik besagt, dass alle möglichen Aspekte, auf körperlicher Seite die unterschiedlichen Ursachen eines Unterbauchschmerzes, auf seelischer Seite die verschiedenen psychogenetischen Bedingungen, seien sie in der Lebensgeschichte, der aktuellen Lebenssituation in sozialer, beruflicher und wirtschaftlicher Hinsicht gelegen, zu beachten sind. „Mehrdimensionale Diagnostik“ verlangt die einzig sinnvolle Lösung, nämlich die unvoreingenommene Betrachtung und die Gewichtung aller unterschiedlichen Möglichkeiten in der Einzelfalldiagnostik.

Im Falle anderer gynäkologischer oder geburtshilflicher Störungen dürfte der psychische Anteil in der Genese der Störungen generell vermutlich geringer einzuschätzen sein als gerade beim chronischen Unterbauchschmerz. Dennoch ist auch hier das Prinzip der mehrdimensionalen Diagnostik gültig, d. h. bei vorwiegend organisch begründeten Störungen wie etwa Blutungsstörungen, sollte immer die Psychogenese einbezogen werden. Kritisch sollte aber auch der „Psychogenetiker“ gegenüber der Annahme psychischer Anteile in der Genese einer Erkrankung bleiben, weil sonst einseitige Betrachtungen zu einer Art von Ideologisierung führen kann, wie es eine Zeitlang bei Betrachtung der Entstehung von Krebs der Fall war: Insgesamt haben Untersuchungen, die sich seinerzeit auf bestimmte Persönlichkeitsstrukturen oder Lebensereignisse als genetische Komponenten in der Krebsentstehung bezogen, nicht zu signifikanten Ergebnissen geführt.

Diese Überlegung bringt uns nun zu dem zweiten Aufgabenbereich, mit welchem sich die Psychosomatik in der Frauenheilkunde zu befassen hat: die eingangs erwähnte seelische Verarbeitung körperlich entstandener, schwerer Erkrankungen. So hat die Psychoonkologie sich seit 10 Jahren kaum noch mit der vorher ergebnislos durchgeführten Suche nach seelischen Ursachen der Krebserkrankung befasst, vielmehr steht gegenwärtig die Forschung nach Bewältigungsmustern, d. h. der seelischen Verarbeitung schwerer Erkrankungen im Vordergrund.

Die Einführung der „psychosomatischen Grundkompetenz“ als Pflicht im Rahmen der frauenärztlichen Facharztausbildung hat aber noch einen weiteren Sinn: neben der grundsätzlichen Bedeutung der Psychogenese von Störungen bzw. der Kenntnis der Bewältigungsmuster bei Erkrankungen liegt der Sinn vor allem darin, dem selbst nicht psychotherapeutisch tätigen Frauenarzt/Frauenärztin die Kenntnis und Wahrnehmung darüber zu vermitteln, wann psychogene Anteile in der Genese mitspielen, bzw. psychotherapeutische Hilfe in der Bewältigung von Erkrankungen angezeigt ist, um die Indikation zur Mitbehandlung bzw. Überweisung in eine Psychotherapie stellen zu können. Der Gynäkologe/die Gynäkologin sollten insofern auch befähigt werden, ihrer Patientin die Begründung einer solchen psychotherapeutischen Mitbehandlung akzeptabel zu vermitteln, um das Gefühl einer „psychischen Stigmatisierung“, welches bei Patientinnen aufkommen kann, zu vermeiden. Dies setzt auch eine Arzt/Ärztin-Patientin-Beziehung voraus, bei welcher ärztlicherseits die Gefühle der Patientin und vielleicht auch die Gegenübertragungsgefühle des Arztes, auch dann, wenn sie belastend erscheinen, nicht als Handlungsimpulse wirken, sondern als Signale für die seelische Befindlichkeit der Patientin verstanden werden. Diese Einstellung zur Patientin hilft, Affekte in der Arzt/Ärztin-Patientin-Beziehung nicht nur zu agieren, sondern als diagnostisches Instrument zu nutzen.

Die Integration der Psychosomatik in das Fachgebiet der Frauenheilkunde verhilft so der Patientin und dem Arzt/der Ärztin, nicht nur effektiver, sondern auch zufriedener in der beruflichen Kooperation miteinander umzugehen.

Literatur

  • 1 Alexander F. Psychosomatic Medicine (1950). Dtsch. : Psychosomatische Medizin, Grundlagen und Anwendungsgebiete. Berlin; De Gruyter 1951
  • 2 Bodden-Heidrich R. Chronisches Unterbauchschmerzsyndrom. Neises M, Ditz S Psychosomatische Grundversorgung in der Frauenheilkunde. Stuttgart; Thieme 2000: 55-61
  • 3 Kretschmer E. Medizinische Psychologie. 14. Aufl. Stuttgart; Thieme 1975
  • 4 Richter D. Unterbauchschmerz. Stauber M, Kentenich H, Richter D Psychosomatische Geburtshilfe und Gynäkologie. Berlin; Springer 1999: 511-521
  • 5 v. Uexküll T. Psychosomatische Medizin. 5. Aufl. München; Urban & Schwarzenberg 1996
  • 6 Weiner H, Mayer E. Der Organismus in Gesundheit und Krankheit. Auf dem Weg zu einem integrierten biomedizinischen Modell: Folgerungen für die Theorie der psychosomatischen Medizin.  Psychother med Psychol. 1990;  49 81-101
  • 7 v. Weizsäcker V. Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen. Leipzig: Thieme, 1940. Weizsäcker V v. Gesammelte Schriften Bd. 4. Frankfurt/M.; Suhrkamp 1995

M. Neises

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