Krankenhauspsychiatrie 2004; 15(2): 51
DOI: 10.1055/s-2004-818529
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Ambulante Versorgung chronisch psychisch Kranker aus der Sicht der Angehörigen

Outpatient Care for Chronic Mentally Ill Patients in the View of RelativesP.  Peghini
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Publication Date:
01 July 2004 (online)

Seit der Veröffentlichung der Psychiatrie-Enquete 1975 sind große Fortschritte in der Versorgung psychisch kranker Menschen erzielt worden, dies ist die einhellige Überzeugung der Angehörigen psychisch Kranker. Doch das erklärte Ziel, „ambulant vor stationär”, wurde nicht erreicht, der Aufbau der ambulanten Versorgung hielt nicht Schritt mit dem Abbau von Klinikbetten. Dem durch die knappen finanziellen Ressourcen der öffentlichen Hand bedingten teilweisen Rückzug der Länder und Krankenkassen aus der Finanzierung der sozialpsychiatrischen Dienste folgte der Abbau einiger Leistungen der Träger dieser Einrichtungen, was stets zu Lasten der ambulanten Versorgung der chronisch psychisch Kranken ging. Dies ist nicht das einzige Loch, das in das Versorgungsnetz gerissen wurde: Die Auswirkungen des GKV-Modernisierungsgesetzes sowie die Anwendung der Richtgrößenprüfung bei den niedergelassenen Ärzten auf die teuren, aber hochwirksamen atypischen Neuroleptika und Antidepressiva belasten Kranke und Angehörige gleichermaßen finanziell und psychisch.

Für die psychisch Kranken gibt es viele Einrichtungen: Tageskliniken, psychiatrische Institutsambulanzen, Wohnheime, Betreuungsvereine, Integrationsfachdienste, Werkstätten, Sozialpsychiatrische Dienste, Fachärzte, Krisennotfalldienste, man möchte meinen, dass genug für deren Versorgung getan wird. Doch viele dieser Einrichtungen sind nicht flächendeckend vorhanden, die Koordinierung ihrer Arbeit ist oft unzureichend und ihre Finanzierung zum Teil ungenügend bzw. nicht gesichert. Wir Angehörigen begrüßen deshalb die Schaffung von Gemeindepsychiatrischen Verbünden bzw. Zentren, in denen verbindliche Absprachen zur umfassenden ambulanten Versorgung chronisch psychisch kranker Mitbürgerinnen und Mitbürger getroffen werden. Es gibt sie schon, diese Verbünde und Zentren, aber längst noch nicht überall.

In einer Zeit, in der Qualitätsmanagement und Dokumentation auch in der Psychiatrie Einzug gehalten haben, muss geprüft werden, ob alles, was der psychisch kranke Mensch an Hilfe benötigt, in diagnostische oder therapeutische Begriffe verpackt werden kann. Wir Angehörigen meinen: Nein! Niedrigschwellige, d. h. nicht verschreibungs- bzw. abrechnungsfähige aufsuchende Versorgung des - oft nicht „compliancefähigen” - Patienten durch die sozialpsychiatrischen Dienste muss gewährleistet sein. Doch diese ist wegen der stark gekürzten Pauschalfinanzierung nachweisbar reduziert worden. Die Soziotherapie, die den Wegfall der „freiwilligen” Kassenleistungen für die SpDis ausgleichen soll, ist leider nur bei einem sehr eingeengten Patientenkreis anwendbar (vgl. Übergangsempfehlungen der Krankenkassen für die Leistung Soziotherapie gemäß § 37a SGB V).

Die psychischen Erkrankungen sind noch nicht als sehr schwere, oft chronisch verlaufende Krankheiten in das Bewusstsein der Politiker und der Bevölkerung gedrungen. Es ist auch noch weitgehend unbekannt, dass bei der Dauer der Behinderungen überhaupt die Depression und Schizophrenie als Ursache an der Spitze stehen[1]. Bund, Länder und Kommunen haben die politische, aber auch die moralische Pflicht, für die chronisch psychisch kranken Mitbürgerinnen und Mitbürger zu sorgen. Wir Angehörigen erfüllen diese Pflicht als „sozial-therapeutische Hilfsgemeinschaft” und „Versorgungsträger” seit Jahren, denn die meisten chronisch psychisch Kranken leben bei den Angehörigen. Unser Motto ist: „Mit psychisch Kranken leben, selbstbewusst und solidarisch”, eine Einstellung, die wir uns auch von unserer Gesellschaft wünschen.

1 M. Berger: Die Versorgung psychisch Erkrankter in Deutschland - unter besonderer Berücksichtigung des Faches „Psychiatrie und Psychotherapie”. Aus: Der Nervenarzt 75, S. 195 - 204, 2004.

Paul Peghini

Vorsitzender des Landesverbandes Baden-Württemberg der Angehörigen psychisch Kranker e. V.

Hebelstr. 7

76448 Durmersheim

Email: paul.peghini@wanadoo.fr

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