psychoneuro 2004; 30(1): 28-29
DOI: 10.1055/s-2004-818805
Kasuistik

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Hohe Effektivität von Venlafaxin - Therapie einer depressiven Störung bei zervikaler Dystonie

Kerstin Brumund1
  • 1München
Further Information
#

Korrespondenzadresse

Dr. med. Kerstin Brumund

Fachärztin für Nervenheilkunde(Psychotherapie)

Cosimastr. 4

81927 München

Publication History

Publication Date:
09 February 2004 (online)

Table of Contents #

Zusammenfassung

Der nachfolgend geschilderte Fall der Behandlung eines Patienten mit rezidivierender depressiver Störung, gegenwärtig schwere/mittelgradige Episode ohne psychotische Symptome (F 33.2), bei ausgeprägtem rechtsbetonten myokloniformen Retrocollis[1] veranschaulicht, dass eine Therapie mit retardiertem Venlafaxin einen schlüssigen Therapieansatz darstellt.

Unter dem Begriff der „Affektiven Störungen” werden nach ICD-10 (F3) die beiden Formen der Depression und der Manie zu einem Krankheitsbild zusammengefasst, wobei beide Zustände alleine (unipolare Störung) oder abwechselnd (bipolare Störung) auftreten können. Hierbei ist die Depression die mit Abstand häufigere Form. Unter dieser Bezeichnung versteht man eine den Lebensumständen nicht entsprechende und damit unbegründbare psychische Verstimmung mit einer Hemmung der gesamten Affektivität. Gedrückte Stimmung, Verlust von Interesse, Freudlosigkeit, verminderter Antrieb und gesteigerte Ermüdbarkeit stellen nach ICD-10 die Hauptsymptome depressiver Episoden dar.

In der Entstehung der depressiven Störungen werden neben genetischen, biologischen und psychosozialen Faktoren auch körperliche Erkrankungen als ursächlich angesehen. Die Häufung von depressiven Störungen bei schweren körperlichen Erkrankungen wie beispielsweise zervikaler Dystonie [2] [4] ist meist auf negative seelische und soziale Krankheitsfolgen wie beispielsweise einen drohenden Arbeitsplatzverlust zurückzuführen.

#

Fallbericht Anamnese

Der 42-jährige kaufmännische Angestellte R. N. (Größe 173 cm, aktuelles Gewicht 72,5 kg) leidet infolge einer seit Mitte Februar 2002 bestehenden zervikalen Dystonie mit ausgeprägtem rechtsbetonten myokloniformen Retrocollis an einer depressiven Störung. Die Dystonie trat völlig unerwartet auf und führte innerhalb einer Woche zur Arbeitsunfähigkeit des Patienten. In der Zwischenzeit wurde eine Erwerbsunfähigkeitsrente beantragt.

Der Patient ist verheiratet und Vater zweier Söhne (4 und 10 Jahre) und einer Tochter (16 Jahre). Er ist als Einzelkind aufgewachsen und arbeitete nach seiner Ausbildung mehrere Jahre im elterlichen Betrieb. In seiner Freizeit hört er sehr gerne und viel Radio und Kassetten, da ihm Lesen und Fernsehen durch den ausgeprägten Retrocollis deutlich erschwert sind.

Zur Therapie des Retrocollis erhält der Patient seit Februar 2002 alle drei Monate lokale Botulinumtoxin A-Injektionen in die betroffenen Muskeln (M. sternocleidomastoideus li., M. splenius cervicis, M. splenius capitis, M. trapezius, M. levator scapulae, Platysma re.). Für die Injektionen wird er jeweils für zwei Tage in einer neurologischen Fachklinik stationär aufgenommen. Darüber hinaus erhält er seit Oktober 2002 5-6 mg/d Lorazepam (Tavor®).

Nachdem Anfang Mai 2003 eine depressive Episode aufgetreten war, erhielt er 100 mg/d Sertralin. Unter dieser Medikation konnte jedoch keine ausreichende Besserung der Symptomatik beobachtet werden, so dass die Therapie Anfang Juni 2003 auf 30 mg/d Mirtazapin umgestellt wurde. Da sich die Symptomatik unter Mirtazapin weiter verschlechterte und es außerdem zu einer übermäßigen Sedierung kam, wurde der Patient im Juni 2003 von seinem Hausarzt an unsere nervenheilkundliche Praxis überwiesen.

Bei seiner Erstvorstellung in unserer Praxis berichtete der Patient stockend und unter Tränen, dass die schwere zervikale Dystonie sein Leben völlig zerstöre. Er könne weder arbeiten noch sich hinreichend um seine Familie kümmern. Darüber hinaus leide er häufig an Weinkrämpfen und sei allmählich so verzweifelt, dass er gehäuft Suizidgedanken habe.

Die allgemeine Anamnese des Patienten ist unauffällig. Die Familienanamnese bezüglich psychischer Erkrankungen ist leer.

#

Befunde

Psychiatrischer Befund:

gepflegte Erscheinung; Stimmung deutlich gedrückt; affektiv wenig schwingungsfähig; ausgeprägte Antriebshemmung; Suizidgedanken, von akuter Suizidalität jedoch distanziert; keine psychotischen Symptome.

Neurologischer Befund:

kontinuierliche, intermittierende, unwillkürliche Aktivierung überwiegend der Nackenmuskulatur und in geringem Umfang auch der seitlichen Halsmuskulatur mit intervallartiger myokloniformer Retropulsion des Kopfes; Mimik nicht beeinträchtigt; übriger neurologischer Befund regelrecht.

#

Diagnose

Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere/mittelgradige Episode ohne psychotische Symptome (F 33.2), und neurologisch ein ausgeprägter rechtsbetonter myokloniformer Retrocollis (G 24.3)

#

Therapie und Verlauf

Nachdem es unter der bisherigen medikamentösen antidepressiven Medikation nicht zu der erhofften Besserung der Symptomatik gekommen war, wurde die Therapie Ende Juni 2003 auf 75 mg/d retardiertes Venlafaxin (Trevilor® retard, Wyeth Pharma GmbH) umgestellt. Bereits am 5. Behandlungstag konnte eine recht gute antidepressive Wirkung beobachtet werden. Zur Erzielung einer völligen Symptomfreiheit wurde die Dosierung nach 10 Tagen auf 150 mg/d gesteigert. Daraufhin kam es kontinuierlich zu einer weiteren Stimmungsverbesserung und Stabilisierung der psychischen Situation des Patienten, so dass Ende Juli 2003 eine Remission der depressiven Symptomatik erzielt wurde. Unter der stabilen Einstellung mit retardiertem Venlafaxin konnte die Lorazepam-Dosis langsam reduziert werden.

Bei einem Kontrollbesuch Mitte September 2003 gab der Patient an, dass er sich unter der Therapie mit retardiertem Venlafaxin lockerer und gelöster fühle und insbesondere die Weinkrämpfe recht schnell verschwunden seien. Seine Suizidgedanken traten immer mehr in den Hintergrund und verschwanden im Laufe der Zeit ganz.

Der Patient wird auch in Zukunft aufgrund der persistierenden Dystonie arbeitsunfähig sein, doch trotz seines Schicksals kehrte unter retardiertem Venlafaxin seine Lebensfreude und die Freude an seiner Familie zurück. Er berichtete, dass er momentan zum 40. Geburtstag seiner Ehefrau eine Überraschungsparty organisiere.

Während der Therapie mit retardiertem Venlafaxin kam es zu keinerlei Unverträglichkeiten und Wechselwirkungen. Der Patient äußerte sich sehr zufrieden über die Therapie, was sich seinerseits in einem äußerst therapietreuen Verhalten bemerkbar machte.

#

Diskussion

Bei dem vorgestellten Patienten veranlasste das Nichtansprechen der depressiven Symptomatik auf die bisherigen medikamentösen Therapiemaßnahmen eine Umstellung auf Venlafaxin. Hierbei handelt es sich um das erste in Deutschland zugelassene Antidepressivum, welches selektiv sowohl die Serotonin- als auch die Noradrenalinwiederaufnahme in die präsynaptischen Nervenenden inhibiert, ohne die Histamin- und Muskarinrezeptoren zu beeinflussen.

Venlafaxin hat sich in mehreren Studien im Vergleich zu den selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI) als wirksamer erwiesen [1] [3]. In einer Metaanalyse von acht vergleichbaren, randomisierten, plazebokontrollierten Studien mit 2045 depressiven Patienten war Venlafaxin, unabhängig von der Definition der Remission, den SSRI deutlich überlegen, und das bereits in der zweiten Woche nach Therapiebeginn. Unter Venlafaxin erreichten 45 %, unter SSRI 35 % und unter Plazebo 25 % der depressiven Patienten eine Remission. Dieser Unterschied ist nicht nur statistisch hochsignifikant (p<0,001), sondern auch klinisch relevant, da als Patienten-Response die Remission als Studienkriterium verwendet wurde, d.h. in der HAM-D17-Skala mussten die Patienten einen Wert von weniger als 8 (entspricht weitgehender Symptomfreiheit) aufweisen [3]. In einer weiteren Metaanalyse von 31 randomisierten, plazebokontrollierten Studien mit über 7000 depressiven Patienten erwies sich Venlafaxin ebenfalls den SSRI und Plazebo als signifikant überlegen ([Abb. 1]; [1]).

Aufgrund der bisherigen sehr guten Therapieerfahrungen und der durch Studien belegten Vorteile von Venlafaxin gegenüber SSRI im Hinblick auf eine anhaltende Remission, wird der Patient zur Erhaltungstherapie für mindestens ein Jahr 150 mg/d retardiertes Venlafaxin bekommen. Danach ist in diesem Fall eine weitere Rezidivprophylaxe mit Venlafaxin retard in gleicher Dosierung zu diskutieren.

Zoom Image

Abb. 1

#

Literatur

1 spastischer Schiefhals mit Rückwärtsbeugung des Kopfes

#

Korrespondenzadresse

Dr. med. Kerstin Brumund

Fachärztin für Nervenheilkunde(Psychotherapie)

Cosimastr. 4

81927 München

#

Literatur

1 spastischer Schiefhals mit Rückwärtsbeugung des Kopfes

#

Korrespondenzadresse

Dr. med. Kerstin Brumund

Fachärztin für Nervenheilkunde(Psychotherapie)

Cosimastr. 4

81927 München

Zoom Image

Abb. 1