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DOI: 10.1055/s-2004-818809
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Stellungnahme zur Berichterstattung über den systematischen Review von Leucht et al. 2003 - Wirksamkeit und Nebenwirkungen atypischer Neuroleptika
Korrespondenzadressen:
Dr. med. Dr. P. H. Stefan Weinmann
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Rheinische Kliniken Düsseldorf
Bergische Landstr. 2
40629 Düsseldorf
Prof. Dr. med. Wolfgang Gaebel
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Rheinische Kliniken Düsseldorf
Bergische Landstr. 2
40629 Düsseldorf
Publication History
Publication Date:
09 February 2004 (online)
Zusammenfassung
Der im Mai letzten Jahres veröffentlichte systematische Review zum Vergleich der extrapyramidal-motorischen Nebenwirkungen, der Wirksamkeit und der Studien-Abbruchquote zwischen atypischen und niedrigpotenten typischen Neuroleptika (10) führte zu einer erneuten kontroversen Diskussion um den Stellenwert atypischer Neuroleptika in der Schizophrenie-Behandlung (vgl. auch die Darstellung „Zweifel an besserer Verträglichkeit” im Deutschen Ärzteblatt vom 12.05.2003). Hierbei wurden zum Teil unrichtige und durch den neuen Review nicht begründete Schlussfolgerungen gezogen. Daher scheint eine Stellungnahme notwendig, in der zunächst eine Klärung der Begrifflichkeiten, die Darstellung der aktuellen Evidenz zur Wirksamkeit der Atypika und der darauf basierenden neueren Leitlinienempfehlungen sowie eine Einordnung der Ergebnisse des Reviews vorgenommen wird.
Im Review von Leucht et al. wurden Studien ausgewertet, bei denen als Vergleichssubstanzen zu den Atypika niedrigpotente Neuroleptika zur Anwendung kamen. Während sogenannte hochpotente Neuroleptika in vergleichsweise niedriger mg-Dosis antipsychotisch wirken, aber ausgeprägtere extrapyramidal-motorische Nebenwirkungen aufweisen, müssen mittel- und vor allem niedrigpotente Neuroleptika zur Erzielung einer vergleichbaren antipsychotischen Wirkung wesentlich höher dosiert werden, sind stärker sedierend und weisen ausgeprägtere vegetative Begleitwirkungen auf. Die klinische Einteilung nach der neuroleptischen Potenz mit Chlorpromazin als Bezugssubstanz gibt aber gerade im Übergangsbereich zwischen niedrig- und hochpotent nur einen ungefähren Hinweis auf die antipsychotische Wirkstärke. So wird beispielsweise die im Review als niedrigpotent bezeichnete Substanz Perazin in Deutschland den mittelpotenten Neuroleptika zugerechnet.
#Wirksamkeit
Nahezu alle neueren auf wissenschaftliche Evidenz gegründeten Leitlinien empfehlen Atypika in der Therapie psychotischer Erkrankungen. Atypika werden als First-Line-Therapie bei Ersterkrankungen und bei Patienten mit bisher unzureichendem Therapieerfolg, nicht akzeptablen Nebenwirkungen oder aus anderen Gründen empfohlen, da die Mehrzahl der aktuellen Meta-Analysen sowohl in der Akut- als auch in der Langzeit-Therapie Vorteile der Atypika nachgewiesen haben.
Die umfassendste Beurteilung des Nutzens atypischer Neuroleptika wurde vom National Institute for Clinical Excellence (NICE), einer vom britischen Gesundheitsministerium mit der Formulierung von evidenzbasierten Behandlungsempfehlungen beauftragten Institution im September 2001 vorgenommen. Basierend auf einem Update vorliegender Cochrane-Reviews (die in der Regel nicht älter als fünf Jahre waren) erfolgten zusätzliche systematische Literaturrecherchen nach neueren randomisierten kontrollierten Studien [2]. Der NICE-Review kam zu dem Ergebnis, dass, obgleich weitere Untersuchungen mit längerem Zeithorizont gefordert wurden, in den vorliegenden Studien „Risperidon, Quetiapin, Amisulprid, Zotepin, Olanzapin und Clozapin zur Reduktion der Schizophrenie-Symptome und Clozapin zur Rezidivprophylaxe genauso wirksam oder wirksamer sind wie typische Neuroleptika”.
Clozapin habe sich „bezüglich der Besserung der Negativsymptome bei therapieresistenter Schizophrenie im Vergleich zu typischen Neuroleptika als eindeutig wirksamer herausgestellt”. Ebenfalls in Übereinstimmung mit den vorliegenden Cochrane-Reviews zu Clozapin, Olanzapin, Quetiapin, Risperidon, Zotepin wurde herausgearbeitet, dass atypische Neuroleptika mit weniger extrapyramidal-motorischen Nebenwirkungen verbunden sind als typische Neuroleptika. In einem neueren Cochrane-Review erwies sich auch Ziprasidon in seiner antipsychotischen Wirkung dem Haloperidol zumindest gleichwertig bei geringerer Rate an extrapyramidal-motorischen Nebenwirkungen [3]. An Schizophrenie Erkrankte sind, wie die Studien sowie die klinische Erfahrung zeigen, überwiegend positiver gegenüber atypischen Neuroleptika eingestellt.
Daher wurde in den Empfehlungen der auf dem NICE-Review basierenden aktuellen Schizophrenie-Leitlinie des NICE vom Dezember 2002, wie auch in den Leitlinien der DGPPN von 1998, der American Psychiatric Association von 1997, dem Texas Medication Algorithm Project von 1999 und einer kanadischen Leitlinie von 1999 [1] [4] [6] [11] empfohlen, atypische Neuroleptika als Therapie der ersten Wahl bei folgenden Indikationen anzuwenden:
-
in der Behandlung neu aufgetretener Schizophrenien
-
bei Vorliegen nicht akzeptabler Nebenwirkungen unter typischen Neuroleptika
-
wenn der Patient seine Präferenzen nicht äußern kann
-
bei Patienten mit Krankheitsrezidiv unter Therapie sowie
-
bei anamnestisch mangelndem Ansprechen auf typische Neuroleptika.
Neuere systematische Reviews zeigen eine z.T. überlegene Wirksamkeit atypischer Neuroleptika in der Akuttherapie [5] und - als Gruppe - eine geringfügige, aber signifikante Überlegenheit in der Verhinderung von Krankheitsrezidiven [9]. Inwiefern die bessere Compliance bei den Ergebnissen dieser Studien eine Rolle spielte, kann nicht abschließend beurteilt werden.
#Nebenwirkungen
In einem aktuellen systematischen Review zur Langzeittherapie mit Atypika war die Studienabbruchquote bei Behandlung mit Atypika vergleichbar mit der unter typischen Neuroleptika. Allerdings gab es in den Atypika-Studien nicht häufiger Studienabbrüche wegen Nebenwirkungen als unter Plazebo, so dass die Autoren folgern, dass die Verträglichkeit der Atypika insgesamt derjenigen von Plazebo entspricht [9].
Diese Zusammenhänge spielen für die Beurteilung des mittels meta-analytischer Techniken durchgeführten Reviews von Leucht et al. [10] eine Rolle. Der Review kommt zu dem Ergebnis, dass die Rate an extrapyramidal-motorischer Symptomatik (EPS) bei atypischen möglicherweise nicht geringer als bei optimal dosierten niedrigpotenten Neuroleptika ist. Die in der Gesamtauswertung der Studien signifikant geringere Rate an EPS bei atypischen Neuroleptika werde vielmehr durch die Ergebnisse derjenigen Studien erklärt, bei denen hohe Dosierungen (d.h. oberhalb von 600 mg/Tag Chlorpromazin-Äquivalenten) der niedrigpotenten typischen Neuroleptika zur Anwendung kamen.
Ob die antipsychotische Wirksamkeit der atypischen jedoch bei einer Dosis der typischen Neuroleptika unter 600 mg/Tag Chlorpromazin-Äquivalenten geringer, gleichwertig oder überlegen ist, wird im Review von Leucht et al. ausdrücklich nicht behauptet. Vielmehr wird herausgearbeitet, dass die angewendeten Atypika in den Studien insgesamt (d.h. ohne Berücksichtigung der Dosis) signifikant wirksamer waren als niedrigpotente Neuroleptika, wobei diese statistische Überlegenheit allerdings nicht mehr zu sichern war, wenn solche Studien ausgeschlossen wurden, bei denen niedrigpotente Neuroleptika in sehr geringer Dosierung (unterhalb von 300 mg/Tag Chlorpromazin-Äquivalenzdosis) zum Einsatz kamen. Offensichtlich konnte für den Bereich oberhalb von 300 mg/Tag Chlorpromazin-Äquivalenzdosis eine vergleichbare Wirksamkeit niedrigpotenter Neuroleptika, oberhalb von 600 mg/Tag jedoch auch eine erhöhte extrapyramidal-motorische Nebenwirkungsrate im Vergleich zu den Atypika festgestellt werden. Die interindividuelle Variabilität der Nebenwirkungsrate ist bei niedrigpotenten Neuroleptika jedoch erheblich und die individuelle Toleranzbreite teilweise so gering, dass sie oft nicht im optimalen Bereich dosiert werden können.
Demnach trifft die häufig geäußerte Behauptung nicht zu, dass der Review zum Ergebnis gekommen sei, der Vorteil der Atypika beruhe auf einem ungeeigneten Vergleich mit hoch dosiertem Haloperidol. Diese Behauptung wird in der Einleitung des Reviews unter Bezug auf die Arbeit von Geddes et al. [7] erwähnt, jedoch hier nicht untersucht. Geddes war in seiner Meta-Analyse zu dem Ergebnis gekommen, dass die unterschiedlichen Studienergebnisse bezüglich der Wirksamkeit der Atypika im Vergleich zu typischen Neuroleptika durch die unterschiedlichen Vergleichsdosen erklärbar sind. Die Überlegenheit der Atypika verschwände, wenn die Vergleichsdosis berücksichtigt würde. Dieser Befund wurde in der Meta-Analyse von Leucht (mit Bezug auf konventionelle niedrigpotente Neuroleptika) nicht repliziert, was Geddes auf die unterschiedliche statistische Methodik zurückführt [8]. Eine weitere aktuelle Meta-Analyse kommt hingegen zu dem Ergebnis, dass die Haloperidol-Vergleichsdosis keinen Einfluss auf das Ergebnis der Atypika-Wirksamkeitsstudien hat [5]. Mit dieser Arbeit von Davis werden die Schlussfolgerungen von Geddes weiter relativiert.
Auch dass niedrigpotente Neuroleptika eine kostengünstige Option in der Behandlung der Schizophrenie seien, wurde nicht evaluiert und auch so nicht von den Autoren behauptet. Eine auf die Akutbehandlung beschränkte Kostenanalyse greift in jedem Fall zu kurz. Insbesondere Krankheitsrezidive und Krankenhausaufnahmen sind kostenintensiv - hier zeichnen sich, möglicherweise durch bessere Compliance, deutliche Vorteile der Atypika ab. Häufig werden aber auch die Begriffe „niedrig dosiert” und „niedrigpotent” verwechselt, wenn, wie im Deutschen Ärzteblatt, kommentiert wird, dass keinesfalls sicher sei, dass die „niedrig dosierten Medikamente schlechter wirken als die neuen atypischen Antipsychotika”. Auch von „schwach wirksamen Neuroleptika” kann nicht gesprochen werden.
Der Review von Leucht et al. diente nach Aussagen der Autoren lediglich der Hypothesengenerierung. Zum Vergleich atypischer gegenüber hochpotenten typischen Neuroleptika können hiernach keine Aussagen gemacht werden. Es ergaben sich Hinweise, dass die älteren niedrigpotenten Substanzen in individuell optimaler Dosierung vergleichbar wirksam sind und unter dieser Dosisbedingung möglicherweise nicht häufiger extrapyramidal-motorische Nebenwirkungen als die neuen Substanzen aufweisen. Andere Nebenwirkungen der älteren wie neueren Substanzen wurden nicht untersucht. Die Frage, ob niedrigpotente Neuroleptika im niedrigen Dosisbereich gleich wirksam sind wie Atypika, wollten die Autoren des Reviews hingegen nicht beantworten. Die kurz- und langfristige gute und z.T. bessere Wirksamkeit atypischer Neuroleptika gegenüber typischen, die von neueren Meta-Analysen gestützt wird, rechtfertigt deren wachsende Bedeutung und zunehmenden klinischen Einsatz - auch unter Berücksichtigung gesundheitsökonomischer Überlegungen.
#Literatur
- 1 American Psychiatric Association (APA) . Practice guideline for the treatment of patients with schizophrenia. Washington DC: American Psychiatric Publishing. 1997;
- 2 Bagnall AM, Jones L, Ginelly L, Glanville J, Torgerson D, Kleijnen J. A Rapid and Systematic Review of Atypical Antipsychotics in Schizophrenia. NHS Centre for Reviews and Dissemination, University of York, September 2001, verfügbar unter www.nice.org.uk.
- 3 Bagnall AM, Lewis RA, Leitner ML. Ziprasidone for schizophrenia and severe mental illness. Cochrane Database Syst Rev. 2000;
- 4 Canadian clinical practice guidelines for the treatment of schizophrenia. . Can J Psychiatry. 1998; 43 284-291
- 5 Davis JM, Chen N, Glick ID. A Meta-analysis of the Efficacy of Second-Generation Antipsychotics. Arch Gen Psychiatry. 2003; 60 553-564
- 6 Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) . Behandlungsleitlinie Schizophrenie. Darmstadt: Steinkopff. 1998;
- 7 Geddes J, Freemantle N, Harrison P, Bebbington P. Atypical antipsychotics in the treatment of schizophrenia: systematic overview and meta-regression analysis. BMJ. 2000; 321 1371-1376
- 8 Geddes J, Harrison P, Freemantle N. New generation versus conventional antipsychotics. Lancet. 2003; 362 404-405
- 9 Leucht S, Barnes TR, Kissling W, Engel RR, Corell C, Kane JM. Relapse Prevention in Schizophrenia With New-Generation Antipsychotics: A Systematic Review and Exploratory Meta-Analysis of Randomized, Controlled Trials. Am J Psychiatry. 2003; 160 1209-222
- 10 Leucht S, Wahlbeck K, Hamann J. et al. . Lancet. 2003; 361 1581-1589
- 11 Rush AJ, Rago WV, Crismon ML. et al. . Medication treatment for the severely and persistently mentally ill: The Texas Medication Algorithm Project. J Clin Psychiatry. 1999; 60 284-291
Korrespondenzadressen:
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Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
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Literatur
- 1 American Psychiatric Association (APA) . Practice guideline for the treatment of patients with schizophrenia. Washington DC: American Psychiatric Publishing. 1997;
- 2 Bagnall AM, Jones L, Ginelly L, Glanville J, Torgerson D, Kleijnen J. A Rapid and Systematic Review of Atypical Antipsychotics in Schizophrenia. NHS Centre for Reviews and Dissemination, University of York, September 2001, verfügbar unter www.nice.org.uk.
- 3 Bagnall AM, Lewis RA, Leitner ML. Ziprasidone for schizophrenia and severe mental illness. Cochrane Database Syst Rev. 2000;
- 4 Canadian clinical practice guidelines for the treatment of schizophrenia. . Can J Psychiatry. 1998; 43 284-291
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- 6 Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) . Behandlungsleitlinie Schizophrenie. Darmstadt: Steinkopff. 1998;
- 7 Geddes J, Freemantle N, Harrison P, Bebbington P. Atypical antipsychotics in the treatment of schizophrenia: systematic overview and meta-regression analysis. BMJ. 2000; 321 1371-1376
- 8 Geddes J, Harrison P, Freemantle N. New generation versus conventional antipsychotics. Lancet. 2003; 362 404-405
- 9 Leucht S, Barnes TR, Kissling W, Engel RR, Corell C, Kane JM. Relapse Prevention in Schizophrenia With New-Generation Antipsychotics: A Systematic Review and Exploratory Meta-Analysis of Randomized, Controlled Trials. Am J Psychiatry. 2003; 160 1209-222
- 10 Leucht S, Wahlbeck K, Hamann J. et al. . Lancet. 2003; 361 1581-1589
- 11 Rush AJ, Rago WV, Crismon ML. et al. . Medication treatment for the severely and persistently mentally ill: The Texas Medication Algorithm Project. J Clin Psychiatry. 1999; 60 284-291
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