Subscribe to RSS
DOI: 10.1055/s-2004-820435
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Stellungnahme zum geplanten Gesetz zur Einführung einer nachträglich angeordneten Sicherungsverwahrung
Publication History
Publication Date:
04 October 2004 (online)
Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung
Die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung (DGfS) sowie Mitarbeiterinnen ihrer beiden Forschungsstellen (Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie am Klinikum der Universität Hamburg und Institut für Sexualwissenschaft am Klinikum der Universität Frankfurt) befassen sich seit ihrer Gründung 1950 mit der Diagnostik, Behandlung und Begutachtung von Sexualstraftätern - wie auch von Opfern sexueller Gewalt - und haben in diesem Zusammenhang Forschungsprojekte durchgeführt und zahlreiche Publikationen vorgelegt. Auf der Basis dieser langjährigen Erfahrung und im Interesse einer dem klinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand entsprechenden, angemessenen und wirksamen Behandlung von Sexualstraftätern hat sich die DGfS in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder mit Stellungnahmen oder in Anhörungen zu Reformen des Sexualstrafrechts zu Wort gemeldet.
Die neuerliche Strafverschärfung, wie sie im Gesetz zur nachträglichen Sicherungsverwahrung (SV) vorgesehen ist, wird von der DGfS mit großer Sorge betrachtet, da aus fachlicher Sicht von diesem Gesetz keine Verbesserung der Situation, sondern vielmehr eine Gefährdung bisher erreichter Erfolge in der Behandlung von Sexualstraftätern zu erwarten ist.
Am 10. März 2004 hat das Bundeskabinett auf Vorschlag der Bundesjustizministerin den Gesetzentwurf zur Einführung der nachträglichen SV in das Strafgesetzbuch beschlossen. Am 18. Juni d. J. ist ein entsprechendes Gesetz im Bundestag verabschiedet worden. Es wird damit auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Februar d. J. reagiert. In diesem werden zwar wegen Verstoßes gegen die ausschließliche Bundeszuständigkeit für Gesetzgebung in dieser Materie die Ländergesetze von Bayern und Baden-Württemberg über die nachträgliche Unterbringung von Straftätern für verfassungswidrig erklärt (siehe NJW 2004, 758ff.); jedoch urteilt die Mehrheit des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts, dass ein vom zuständigen Gesetzgeber entwickeltes „Konzept nachträglicher Anordnung einer präventiven Verwahrung noch inhaftierter Straftäter” nicht von vornherein verfassungswidrig sei. Aufgrund der Tatsache, dass sogar die befristete Fortgeltung der kompetenzwidrig erlassenen Ländergesetze bis zu einer bundeseinheitlichen Regelung angeordnet wird - ein rechtsstaatlich bedenklicher Akt der Freiheitsberaubung - lässt sich schlussfolgern, dass die Senatsmehrheit ein solches Gesetz akzeptieren würde. Dass die Minderheit von drei Richtern grundsätzlich widerspricht und aus der Straf- und Verfassungsrechtwissenschaft heftige Kritik kommt, tröstet nur wenig: Zeigt sich doch, wenn man die Entwicklung des Maßregelrechts und des Sexualstrafrechts in den letzten 6 Jahren Revue passieren lässt, eine Linie stetiger Verschärfungen und rechtsstaatlich problematischer Eingriffe. Zuletzt kam 2002 mit § 66a StGB die vom erkennenden Gericht „vorbehaltene Sicherungsverwahrung”. Die Gesetzesänderungen erscheinen häufig als kurzschlüssige Maßnahmen im Gefolge von Sexualstraftaten, welche von um Quote und Profit kämpfenden Medien spektakulär aufbereitet wurden. In Zeiten konjunktureller Flaute, Reformstau, öffentlicher Armut und Staatsverschuldung hat zweifellos die überschießende Angst der Bürger zugenommen. Das, so muss man wohl deuten, veranlasst die Regierenden sowohl zu einem Drift in Richtung „Wegschließen, und zwar für immer”, als auch zu Zugeständnissen an die Opposition, von der sie sich getrieben fühlt. Resultat ist diese symbolische, populistische, die eigentlichen Ursachen von Sexualstraftaten nicht berührende und zudem billige Strafrechtspolitik.
Verletzt wird vor allem das Rückwirkungsverbot (so auch die Senatsminderheit) und das allgemeine Vertrauensschutzprinzip, beides Ausdruck des universalen Menschenrechts auf Vorhersehbarkeit staatlicher Aktion (Art. 103 Abs. 2 GG) und der Gewissheit über deren Verlauf (Art. 104 Abs. 1 GG). Auch gegen das Verbot der Doppelbestrafung wird mittels der faktischen Durchbrechung der Rechtskraft von Strafurteilen verstoßen (Art. 103 Abs. 3 GG).
Als „salvatorische Klausel” mutet an, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung versucht, auf die Geringhaltung der Dauer der SV, die Verbesserung der Haftbedingungen und die Praxis der Vollzugslockerungen einzuwirken. Auch die Strafvollstreckungskammern, die sich bisher in diese Fragen kaum eingemischt haben, sind vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich ermahnt worden, sich mit einer restriktiven Praxis der Anstalten „nicht abzufinden”. Es erscheint jedoch zweifelhaft, ob diese Signale aus Karlsruhe Resonanz finden.
Besonders ist zu beklagen, dass nunmehr kein wegen Sexualdelikten verurteilter Strafgefangener mehr die Sicherheit hat, zu einem einigermaßen bestimmbaren Zeitpunkt entlassen zu werden. Das führt für die verurteilten Täter zu einer weiteren Verschärfung der Vollzugsrealität und damit womöglich erst recht zum Weiterbestehen der Gefährlichkeit. So ist zu befürchten, dass Scheinsicherheiten geschaffen werden. Denn es ist kaum vorstellbar, dass therapeutische Deliktbearbeitung noch offen durchführbar ist, wenn der Täter in der Therapie dauernd die nachträgliche Sicherungsverwahrung fürchten muss, falls das ganze Ausmaß seiner Taten - einschließlich der verjährten - offensichtlich wird. Man erkauft die Möglichkeit, eine geringe Zahl von Häftlingen bei neu zu Tage getretener, erwiesener Gefährlichkeit über das Strafmaß hinaus verwahren zu können, mit einem so therapiefeindlichen Klima für viele andere, dass neue Gefährlichkeit entsteht. Das Ausmaß der „Pseudotherapien” wird in diesem Klima zunehmen.
So ist zu erwarten, dass diejenigen, auf die diese Maßnahme zielt, nämlich sozial gut angepasste, weniger impulsiv-aggressive Täter vom Typus des Pädophilen, gerade durch diese Maschen des Netzes fallen: Solange sie sich vordergründig gut angepasst verhalten, wird ein Grund für die nachträgliche Anordnung nicht gegeben sein. Nach der dann doch unvermeidlichen Entlassung aus der SV, unter Bedingungen einer mit erhöhter Wahrscheinlichkeit verschärften persönlichen Vereinsamung und anderer Krisen sowie in der Regel ohne adäquate Nachsorge, droht dann erst recht ein Rückfall.
Die abnehmende Offenheit in den Therapien führt zudem direkt zu schlechterer Informationsbasis bei Prognosebegutachtungen, sodass der mühsam verbesserte Qualitäts-Standard von Vorhersagen wieder aufs Spiel gesetzt wird.
Die Beschränkungen, welche der Gesetzentwurf der Bundesregierung vorsieht, z. B. dass aufgrund einer „Gesamtwürdigung” und nicht nur der Einzelsicht des JVA-Leiters entschieden werden soll, sind nicht ausreichend. Dabei hatte das BVerfG in seiner richtungweisenden Entscheidung von 1986 (BVerfGE 70, 297ff.) selbst aufgrund der Einsicht gehandelt, dass die im Verlauf des Vollzugs zu Tage getretene Gefährlichkeit vom Stab möglicherweise unzutreffend eingeschätzt wird und deshalb externe Gutachter herangezogen werden müssen. Rechtsstaatlich unerträglich erscheint, dass sowohl nach dem Regierungsentwurf als auch nach dem Entwurf der CDU/CSU die nachträgliche Sicherungsverwahrung schon bei Ersttätern angeordnet werden können soll. Dass die angeblich nach einer Erstverurteilung zu schmale Prognosebasis durch die Erkenntnisse aus der Zeit des Strafvollzuges verbessert werden könnte, spricht der Erfahrung Hohn. Zudem liegt darin ein Wertungswiderspruch, denn in einem anderen Kontext wird die Unterbrechung der „Rückfallverjährung” (§ 66 Abs. 4 S.4 StGB) gerade damit begründet, dass nicht in Freiheit verbrachte Zeiten keine Prognose erlaubten (zuletzt: BGH, Strafverteidiger-Forum 2004 : 177, m. Anm.; Pollähne, ebd.: 156).
Nicht abzusehen ist, welche psychosozialen Folgen es für unsere Kultur haben wird, dass der Gedanke einer garantierbaren Sicherheit und Angstbekämpfung durch Strafrecht sich immer deutlicher im Rechtsverständnis kristallisiert und dass die sozialwissenschaftlich und kriminologisch erfasste Realität des komplexen Bedingungsgefüges, die Tatsache, dass es eine risikolose Gesellschaft nicht geben kann, kollektiv verdrängt wird. Die geplante „volksberuhigende” symbolische Politik birgt die zusätzliche Gefahr, dass den Bürgern ein nicht einzulösendes Sicherheitsversprechen gemacht wird, dessen Enttäuschung gewiss ist, wodurch Vertrauensverlust und Angst erst recht entstehen - sie leistet dem Vorschub, was zu bekämpfen sie vorgibt.
Zwingend erforderlich erscheint die Einführung der nachträglichen SV nicht. Immerhin hat das BVerfG ausdrücklich offen gelassen, ob nicht andere Möglichkeiten ausreichen. In erster Linie ist dabei an die bereits erwähnte, seit 2002 geltende Möglichkeit der „vorbehaltenen Sicherungsverwahrung” (§ 66a StGB) zu denken. Diese passt schon eher in unser System des Maßregelrechts als ein von der Anlasstat völlig losgelöster „Nachschlag” am Ende der Strafvollstreckung.
Dies gilt auch für die dritte der Bedingungen, nämlich die nachträgliche SV von Straftätern, die aufgrund verminderter Schuldfähigkeit und Gefährlichkeit nach (§ 63 StGB in einer forensischen Klinik untergebracht wurden und nach Abschluss ihrer Behandlung weiterhin vom Gutachter als gefährlich eingestuft werden, ohne dass der ursprüngliche Einweisungsgrund (die Krankheit) noch vorliegt. Sie müssen nach heutiger Rechtsprechung trotz ihrer Gefährlichkeit entlassen werden. Die rechtliche Regelung dieser in der Tat problematischen Konstellation müsste nicht unbedingt durch Einführung einer weit über diese Sonderkonstellation hinausreichende nachträgliche Sicherungsverwahrung erfolgen (so ist z. B. schon jetzt im Erkennungsverfahren die gleichzeitige Anordnung einer Maßregel nach § 63 und § 66 StGB möglich, wenngleich extrem selten).
Überhaupt erscheint angesichts der wenigen Fälle, in denen die Gerichte bisher die Ländergesetze angewendet haben, ein Handlungsbedarf für den Bundesgesetzgeber kaum begründbar: Bundesweit sitzen derzeit nur fünf Männer in nachträglich angeordneter SV und wahrscheinlich verringert sich diese Zahl noch, wenn die zuständigen Strafvollstreckungskammern diese Fälle anhand der Kriterien des Bundesverfassungsgerichts überprüfen. Insbesondere wird es dabei um die vom Bundesverfassungsgericht gerügte „Übergewichtung der Verweigerung von Resozialisierungs- und Therapiemaßnahmen” gehen, d. h. um so genannte „Tatleugner” und andere „Mitarbeitsverweigerer”.
Zu fragen ist, ob für einige wenige gefährlich erscheinende Personen ein eigenes Gesetz geschaffen werden muss oder ob es nicht ausreicht, die geltenden Gesetze gezielter anzuwenden. Zu denken ist vor allem an die Führungsaufsicht, der alle einschlägigen Täter nach § 68f StGB schon jetzt unterliegen. Dies wird auch von der abweichenden Meinung der drei überstimmten Richter hervorgehoben. Sie weisen ferner darauf hin, dass den Ländern geeignete Instrumente (im Polizeirecht und im Bereich der Sozial- und Jugendbehörden) zur Verfügung stehen, „um auch in besonders problematischen Einzelfällen, gegebenenfalls mit erhöhtem personellen Aufwand, effektive Gefahrenabwehr zu betreiben”.
Sollte es entgegen all diesen Bedenken doch zur Verabschiedung des Gesetzes kommen, ist zu hoffen, dass letztlich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gegen die Bundesrepublik entscheiden wird. Straßburg hat sich in der Vergangenheit über manche fragwürdigen Auslegungen der Grundrechte in Deutschland hinweggesetzt.
Hamburg und Bremen, im Juli 2004
Prof. Dr. med. W Berner
Erster Vorsitzender
Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie · Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Dr. med. A Hill
Geschäftsführer
Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie · Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Prof. Dr. jur. L Böllinger
Institut für Kriminalwissenschaften · Universität Bremen