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DOI: 10.1055/s-2004-820436
Genitalhypoplasie und Medizin
Über die soziale Konstruktion einer KrankheitPublication History
Publication Date:
04 October 2004 (online)

Übersicht:
Die weibliche Genitalhypoplasie tauchte vor dem Ersten Weltkrieg in der gynäkologischen Literatur als vielgestaltiges Syndrom der Unterentwicklung auf, spielte im Nationalsozialismus eine bedeutsame Rolle in der Gynäkologie und verschwand in der Nachkriegszeit wieder nahezu vollständig. Die „Karriere” dieses Syndroms wird in der vorliegenden Arbeit mit der Theorie der sozialen Konstruktion erklärt. Im Wesentlichen werden vier Faktoren für die Etablierung der Genitalhypoplasie verantwortlich gemacht: (1) Die Konfrontation der männlichen Angehörigen einer medizinischen Profession mit einem veränderten Berufs- und Sexualverhalten von Frauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, das als bedrohlich und faszinierend zugleich empfunden wurde, führte zur somatischen und psychischen Stigmatisierung dieser Frauen. (2) Befürchtungen angesichts des unerklärlichen Geburtenrückgangs wurden auf die „minderwertigen” Sexualorgane der Frauen projiziert. Die Diskussion über die Ursachen des Syndroms stand im Zeichen rassenhygienischer und politischer Motivationen. (3) Das Konzept der Genitalhypoplasie ermöglichte die Ausweitung der operativen Disziplin Frauenheilkunde auf psychosomatische und eugenische Gebiete. Im Binnenraum diente die Genitalhypoplasie der Verwissenschaftlichung besonders der Geburtshilfe und avancierte im Nationalsozialismus zum Schlüsselbegriff für die gesamte gynäkologische Forschung. (4) Die Therapie mit Sexualhormonen konnte sich nur in Verbindung mit der Genitalhypoplasie durchsetzen. Der sukzessive Wegfall der konstituierenden Faktoren führte seit den 1960er Jahren zum weitgehenden Verschwinden des Syndroms.
Schlüsselwörter:
Eugenik - Genitalhypoplasie - Geschichte der Gynäkologie - Konstitutionsforschung - Nationalsozialismus - Eugenik
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Dr. R Bröer
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg · Institut für Geschichte der Medizin
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