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DOI: 10.1055/s-2004-822426
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Diagnostik in der Epileptologie - Der Patient mit epileptischem Anfall in der Sprechstunde
Korrespondenzadresse:
Prof. Dr. Heinz-Joachim Meencke
Medizinischer Direktor, Epilepsie-Zentrum Berlin-Brandenburg im Verbund der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel
Evangelisches Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge
Akademisches Lehrkrankenhaus der Charité
Herzbergstr. 79, 10365 Berlin
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
25. März 2004 (online)
Zusammenfassung
Zusammenfassend muss die herausragende Bedeutung der Anamnese für die Diagnostik in der Epileptologie herausgestellt werden. EEG-Untersuchung und Kernspintomogramm sind ergänzende Verfahren, die zur Abrundung der Syndromdiagnose herangezogen werden. Ist ein Patient zwei Jahre nach Erkrankungsbeginn nicht anfallsfrei, sollte die Syndromdiagnose in Frage gestellt und der Patient in einem Epilepsie-Zentrum vorgestellt werden.
#Summary
The detailed medical history with detailed discription of seizure semiology is the most important diagnostic tool in epileptology. EEG and MRI are supplementary procedures to establish the final syndromatic diagnosis. In patients who are not seizure free within two years after the onset of epilepsy, the syndrom should be reevalutated and the patient should be submitted to an epilepsy center.
Für Patienten mit Epilepsie steht heute, in Abhängigkeit von den jeweiligen Epilepsiesyndromen, ein weites Spektrum an Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung. Dies reicht von Anfallsselbstkontrolle, Biofeedbacktraining, diätetischen Maßnahmen über eine differenzierte Pharmakotherapie bis zur Nervus-vagus-Stimulation und Epilepsiechirurgie. Ein Großteil der Patienten kann mit diesen therapeutischen Maßnahmen anfallsfrei werden und damit ein weitgehend unbehindertes Leben führen. Das wird bedauerlicherweise häufig nicht erreicht. Nach einer Untersuchung am Epilepsiezentrum Berlin-Brandenburg leben nach durchschnittlich fünfzehnjährigem Epilepsieverlauf noch die Hälfte der Patienten mit einer falschen Syndromdiagnose und damit verbunden häufig einer falschen Therapieentscheidung. Viele dieser Patienten könnten anfallsfrei sein. Dies zeigt die große Verantwortung des erstbehandelnden Arztes. Mit einer sicheren Diagnose muss die Grundlage für eine differenzierte Behandlung gelegt werden.
Beim Erstkontakt mit einem Patienten nach einem epileptischen Anfall ergibt sich in der Sprechstunde außerhalb der Notfallsituation eine ganze Reihe von Fragen [Abb. 1]. Es ist zu differenzieren zwischen epileptischen und nichtepileptischen Anfällen. Bei einem epileptischen Anfall muss entschieden werden, ob es sich um einen Anfall im Verlauf einer Epilepsie oder um den ersten Anfall handelt [4]. Dieser Anfall kann ein Gelegenheitsanfall oder der Beginn einer Epilepsie sein. Genaues Nachfragen ergibt häufig, dass nur der Grand mal, der zur Vorstellung führt, als erster Anfall gewertet wurde und „kleine Anfälle” nicht registriert wurden. Damit ist der „erste” Anfall in vielen Fällen nicht der erste Anfall und es besteht definitionsgemäß schon eine Epilepsie.
Es muss besonders hervorgehoben werden, dass die Anamnese das wichtigste und häufig entscheidende Moment in der Epileptologie ist [Tab. 1]. Die Anamnese muss immer um die Fremdanamnese ergänzt werden, denn für den Anfall selbst hat der Patient in der Regel eine Amnesie und nur der Beobachter des epileptischen Anfalles kann häufig wichtige Details der Umstände, in denen der Anfall abgelaufen ist, berichten. Man sollte so präzise wie möglich sein in der Beschreibung des Anfalles und seiner Umstände. Der Patient und die Beobachter des Anfalles sollten sich in die Situation zurückversetzen, um sich möglichst viele Einzelheiten wieder wachzurufen. Fünf W-Fragen können dabei helfen [Tab. 2]. Wann war der Anfall (Wochentag, Tageszeit, aus dem Wachen, aus dem Schlaf), wo war der Anfall (zu Hause, auf der Straße, bei der Arbeit, im Badezimmer, am Frühstücksplatz), was war vorher (besondere emotionale Belastungen, Schlafstörung, besondere sensorische Stimuli, eine besondere Stimmung, Gereiztheit), was war danach (Schmerzen, Müdigkeit, Schlaf, Beobachtung von Verletzungen, neurologische Einschränkungen, Verstimmungen, produktive psychotische Erlebnisse), wie ist der Anfall abgelaufen (betrifft dann den eigentlichen Anfallsablauf)? Die Beantwortung dieser Fragen kann schon zu einer ersten Hypothesenbildung bezüglich des Syndroms beitragen.
Für den Anfall selbst sollte man sich immer eine eigene Beschreibung des Patienten geben lassen und natürlich die Fremdbeschreibung durch den Außenstehenden. Unspezifische, manchmal über Tage anhaltende Vorgefühle wie Gereiztheit, traurige Verstimmung sollten dabei getrennt werden von kurzen, häufig nur wenige Sekunden dauernden Auren. Die Qualität der Aura kann bei einer fokalen Epilepsie einen ersten Hinweis auf den Anfallsursprung geben. Die Fremdanamnese kann klären, ob der Patient im Anfallskern eine Bewusstseinsstörung hatte.
Es gibt eine ganze Reihe von Faktoren, die eine Differenzialdiagnose der Anfälle erlauben [Tab. 3]. Mit Beschreibung dieser Elemente lässt sich eine relativ präzise Darstellung der Semiologie der Anfälle erhalten.
Mit Hilfe der anamnestischen Daten und der Beschreibung des Anfallsablaufes lässt sich vielfach entscheiden, ob es sich um epileptische oder nichtepileptische Anfälle gehandelt hat. Bei nichtepileptischen Anfällen öffnet sich eine lange Liste von Differenzialdiagnosen [Tab. 4]. Häufig zur Diskussion stehen kardio-vaskuläre Syndrome, einschließlich drop attacks und psychogene nichtepileptische Anfälle. Aber auch Migräneattacken und transiente globale Amnesien machen gelegentlich differenzialdiagnostische Probleme. [Tabelle 5] gibt einige Unterscheidungskriterien zwischen Grand mal und kardio-vaskulären Synkopen, wobei daran gedacht werden muss, dass konvulsive Synkopen häufig Anlass zu differenzialdiagnostischen Problemen sind. Asynchrone Myoklonien „flügelschlagende Extremitäten”, Myoklonien mit undulierender Amplitude und Frequenz sowie Lateralbewegung des Kopfes können zur Diagnose psychogener nichtepileptischer Anfälle hinführen [Tab. 6]. Sollten Unsicherheiten in der Diagnose bleiben, darf nicht gezögert werden, durch einen stationären Aufenthalt mit Video-EEG die Differenzialdiagnose zu erhärten [5].
Sind symptomatische Anfälle einer akuten Hirnfunktionsstörung und Gelegenheitsfälle ausgeschlossen, muss die Anamnese herausarbeiten, ob Risikofaktoren zur Entwicklung einer Epilepsie bestehen. Dazu gehören: Familiäre Epilepsiebelastung, Schwangerschaftsverlauf und Geburtsanamnese (Alter der Mutter zur Zeit der Schwangerschaft, Krankheiten während der Schwangerschaft, medikamentöse Behandlung, andere schädliche exogene Einflüsse, vorhergehende Aborte). Hinweise auf Neugeborenenkrämpfe/Fieberkrämpfe, Meningitis/Enzephalitis, eine verzögerte psychomotorische Entwicklung, ein auffälliger neurologischer und neuropsychologischer Untersuchungsbefund sowie eine psychiatrische Vorerkrankung können weitere wichtige Risikofaktoren sein.
Am Beginn einer Epilepsieerkrankung sollte zur Syndromdiagnose auch eine EEG-Untersuchung erfolgen. Im Verlauf einer Epilepsie sind EEG-Untersuchungen gerechtfertigt bei Anfallsrezidiven nach langer Anfallsfreiheit, bei einem Anfallswandel, bei psychischen Auffälligkeiten zur Abgrenzung von nicht konvulsiven Anfällen und Intoxikationen und vor Beendigung der antiepileptischen Medikation. Es sollte weiterhin der Grundsatz berücksichtigt werden, lieber keine EEG-Untersuchung zu machen, als ein schlechtes EEG. Sehr häufig wird EEG-Mythologie betrieben und Patienten erhalten die Diagnose einer Epilepsie lediglich auf Grund eines fragwürdigen EEG-Befundes. Ein negativer EEG-Befund spricht nicht gegen eine Epilepsie, andererseits belegt aber der Nachweis von epilepsietypischen Potenzialen nicht eine manifeste Epilepsie. Die Diagnose einer Epilepsie wird klinisch gestellt. Zur Abgrenzung der klinischen Relevanz sehr kurzer generalisierter Entladungen hat sich die akustische Klickertestung bewährt [Abb. 2], bei der der Patient auf ein akustisches Signal, das von einer MTA gegeben wird, antworten soll. Die verlängerte Latenz der Reizantwort korreliert mit der Bewusstseinsstörung. Wichtige Provokationsmethoden sind das EEG nach Schlafentzug, um die Ausbeute epilepsietypischer Potenziale bei generalisierten idiopathischen Epilepsien zu erhöhen und das Schlaf-EEG, das die Ausbeute regionaler epilepsietypischer Potenziale bei fokalen Epilepsien steigert. In der bildgebenden Diagnostik ist das Kernspintomogramm Untersuchungsmethode der Wahl bei Epilepsien und sollte bei jedem Patienten einmal im Verlauf seiner Erkrankung aufgenommen werden. Wiederholte Untersuchungen sollten nur bei Verdacht auf eine progrediente Erkrankung erfolgen. Das Computertomogramm ist nur noch eine Notfalluntersuchung und kann außerdem als Ergänzung bei Nachweis von Verkalkungen herangezogen werden. PET und SPECT (interiktal/iktal) sind speziellen Fragestellungen überwiegend zur präoperativen Diagnostik zur Fokuslokalisation vorbehalten. Auch das funktionelle MRT und die MR-Spektroskopie werden nur bei speziellen Fragestellungen ebenfalls in der präoperativen Diagnostik oder bei wissenschaftlichen Untersuchungen durchgeführt. Das Kernspintomogramm sollte in standardisierter Einstellung orthogonal zum anterior-posterioren Verlauf des Hippokampus und mit IR-Technik und FLAIR-Mode durchgeführt werden. Die Untersuchungen in dünnen Schichten (1 mm) und mit 3D-Rekonstruktion [Abb. 3] der Daten ist hilfreich zum Nachweis feiner kortikaler Architekturstörungen (kortikale Dysplasien) bei fokalen Epilepsien.
Das Video-EEG sollte bei Unsicherheiten in der syndromatischen Differenzialdiagnose bei Therapieresistenz herangezogen werden und kann Indikation für die stationäre Aufnahme sein. Insbesondere geht es dabei auch um die Abgrenzung epileptischer und nichtepileptischer Anfälle und der Abklärung unklarer nächtlicher Ereignisse. Die prächirurgische Video-EEG-Intensiv-Diagnostik ist bestimmten epilepsie-chirurgischen Zentren vorbehalten. Es werden dabei dichtgesetzte Oberflächen- und Sphenoidalelektroden angewendet. In Abhängigkeit von der Fragestellung kommen invasive Elektroden wie epidurale und Foramen-Ovale Elektroden, subdurale Plattenelektroden und Tiefenelektroden zur Anwendung. Diese Diagnostik wird nach Standards, die die „Arbeitsgemeinschaft für präoperative Epilepsiediagnostik und chirurgische Epilepsietherapie” festgelegt hat, durchgeführt und ist zertifizierten Zentren vorbehalten.
Aus der Analyse epileptischer Anfälle [Tab. 7] und dem EEG-Befund lässt sich eine syndromatische Klassifikation der Epilepsien durchführen. Die Internationale Liga gegen Epilepsie hat sich auf eine doppelte Dichotomie in der Syndromklassifikation der Epilepsien verständigt, bei der fokal und generalisiert und idiopathisch und symptomatisch/kryptogen gegenübergestellt werden [1]. Ein jüngster Vorschlag der ILAE mit einem „diagnostischen Schema für Menschen mit epileptischen Anfällen und Epilepsien” sieht fünf diagnostische Achsen vor mit der (a) iktalen Phänomenologie, (b) dem Anfallstyp, (c) dem Syndrom, (d) der Ätiologie und (e) der Behinderung [3].

Abb. 1

Abb. 2

Abb. 3
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Synkope |
GM |
„Orthostase” |
+ |
- |
Schmerz |
+ |
- |
Inkontinenz |
(+) |
+ |
Zungenbiss |
(+) |
+ |
Blässe |
+- |
- |
Zyanose |
- |
+ |
postiktale Verwirrtheit |
((+)) |
+ |
schnelle Reorientierung |
+ |
- |
Prolaktinerhöhung |
- |
+ |
- untypisch; + häufig; (+) selten; ((+)) sehr selten |
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Literatur
- 1 Commission on Classification and Terminology of the ILAE . Proposal for revised classification of epilepsies and epileptic syndromes. Epilepsia. 1989; 30 389-399
- 2 Commission on Classification and Terminology of the International League against Epilepsy . Proposal for revised clinical and electroencephalographic classification of epileptic seizures. Epilepsia. 1981; 22 489-501
- 3 Engel J. Aproposed diagnostic scheme for people with epileptic seizures and with epilepsy: Report of the ILAE Task Force on Classification and Terminology (ILAE Commission Report). Epilepsia. 2001; 42 796-803
- 4 Meencke H-J, Straub H-B. Status epilepticus. In: Neurologische und psychiatrische Notfälle, die Erstversorgung. Berzewski H, Nickel B (Hrsg.). München, Jena, Urban und Fischer. 2002;
- 5 Müller T, Merschhemke M, Dehnicke C, Sanders M, Meencke H-J. Improving diagnostic procedure and treatment in patient with non-epileptic seizures (NES). Seizure. 2002; 11 85-89
Korrespondenzadresse:
Prof. Dr. Heinz-Joachim Meencke
Medizinischer Direktor, Epilepsie-Zentrum Berlin-Brandenburg im Verbund der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel
Evangelisches Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge
Akademisches Lehrkrankenhaus der Charité
Herzbergstr. 79, 10365 Berlin
Literatur
- 1 Commission on Classification and Terminology of the ILAE . Proposal for revised classification of epilepsies and epileptic syndromes. Epilepsia. 1989; 30 389-399
- 2 Commission on Classification and Terminology of the International League against Epilepsy . Proposal for revised clinical and electroencephalographic classification of epileptic seizures. Epilepsia. 1981; 22 489-501
- 3 Engel J. Aproposed diagnostic scheme for people with epileptic seizures and with epilepsy: Report of the ILAE Task Force on Classification and Terminology (ILAE Commission Report). Epilepsia. 2001; 42 796-803
- 4 Meencke H-J, Straub H-B. Status epilepticus. In: Neurologische und psychiatrische Notfälle, die Erstversorgung. Berzewski H, Nickel B (Hrsg.). München, Jena, Urban und Fischer. 2002;
- 5 Müller T, Merschhemke M, Dehnicke C, Sanders M, Meencke H-J. Improving diagnostic procedure and treatment in patient with non-epileptic seizures (NES). Seizure. 2002; 11 85-89
Korrespondenzadresse:
Prof. Dr. Heinz-Joachim Meencke
Medizinischer Direktor, Epilepsie-Zentrum Berlin-Brandenburg im Verbund der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel
Evangelisches Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge
Akademisches Lehrkrankenhaus der Charité
Herzbergstr. 79, 10365 Berlin

Abb. 1

Abb. 2

Abb. 3