psychoneuro 2004; 30(2): 87-94
DOI: 10.1055/s-2004-822428
Schwerpunkt

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Was bedeutet gutartig? - Benigne epileptische Anfälle und benigne Epilepsie-Syndrome

Birgit Walther1
  • 1Pädiatrische Epileptologie, Epilepsie-Zentrum Berlin-Brandenburg im Verbund der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel, Evangelisches Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge, Akademisches Lehrkrankenhaus der Charité Berlin
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Korrespondenzadresse:

Dr. med. Birgit Walther

Ltd. Oberärztin Pädiatrische Epileptologie

Epilepsie-Zentrum Berlin-Brandenburg im Verbund der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel

Evangelisches Krankenhaus

Königin Elisabeth Herzberge

Akademisches Lehrkrankenhaus der Charité

Herzbergstr. 79

10365 Berlin

Email: B.Walther@keh-berlin.de

Publication History

Publication Date:
25 March 2004 (online)

Table of Contents #

Zusammenfassung

Die Einordnung idiopathischer altersgebundener Epilepsien und Epilepsie-Syndrome als gutartig gründet sich nach der ILAE-Klassifikation auf den gutartigen Verlauf der Epilepsien. Dieses Prognose-Kriterium gilt auch für die betroffenen Kinder mit assoziierten Entwicklungsstörungen. Diese treten auch ohne Epilepsie-Manifestation begleitend und/oder als Folge der Dichte der zum Syndrom der idiopathisch fokalen gutartigen gehörenden sharp waves auf. Dies steht im Widerspruch zu der Einordnung dieser Epilepsie-Syndrome als idiopathisch und würde eine alternative Klassifikation bedingen, obwohl ein gemeinsames Merkmalsspektrum überwiegt. Mit dem Konzept der hereditären zerebralen Maturationsstörung wird die altersgebundene Anfalls-Semiologie mit den zugeordneten EEG-Veränderungen und Entwicklungsverläufen zusammengeführt; dies geschieht auf der Grundlage genetischer Merkmale der Anfallsbereitschaft. Es erlaubt die differentielle Erfassung der großen inter- und intraindividuellen Variabilität ohne Verzicht auf die Zuordnung zu den altersgebundenen Epilepsien; und es öffnet Möglichkeiten zum besseren pathogenetischen Verständnis molekulargenetischer Zusammenhänge. Für die Praxis der pädiatrischen Epileptologie erweitert sich der diagnostische und therapeutische Auftrag: oft steht nicht die Epilepsie sondern die bedrohte Entwicklung im Vordergrund.

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Summary

The ILAE-classification of idiopathic age-related epilepsies and epilepsy syndromes as benign relies on the benign outcome of the epilepsy. This prognostic criterion is unbiased for the children with coexisting developmental disorders. These present, even without evolution of seizures, concomitant and/or in causual relation with the focal sharp wave discharges, which are obligatory in defining idiopathic benign focal epilepsy. This fact contradicts the definition of the epilepsy as idiopathic und would result in an alternative classification despite the many shared features. The concept of hereditary impairment of brain maturation (HIBM), which is based on genetic markers of seizure liability, includes the age-related seizure semiology, the EEG-abnormalities and the developmental evolution. The nosological entity of age-related syndromes is thus preserved, without neglecting the inter-and intraindividual variability.This may open broader insight in moleculargenetic pathogenesis. The pediatric epileptologist may then be predominantly charged not with the epilepsy but with retaining developmental capacity.

Eine prognostische Einordnung als gutartig wird in der Internationalen Klassifikation der epileptischen Anfälle und Epilepsie-Syndrome nur für die Epilepsien des Kindesalters von Geburt bis zum Abschluss der Pubertät vorgegeben [8] [12]. Diese machen ca. 20 % aller Epilepsieverläufe in dieser Altersgruppe aus [5] [14]. Sie lassen sich nach dem Manifestations-Alter der Epilepsie in familiäre und nicht-familiäre Epilepsie-Syndrome des Säuglingsalters und Epilepsie-Syndrome des Kindesalters gliedern. Nur auf diese unter dem Oberbegriff „Benigne Epilepsien des Kindesalters” eingeordneten Epilepsie-Syndrome, mit der häufigsten Form der Rolando-Epilepsie mit zentrotemporalen sharp waves [14] wird hier eingegangen.

Die Einordnung definierter Epilepsien und Epilepsie-Syndrome als gutartig hat vielfältige Veränderungen erfahren, nachdem sie bereits in den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts als besondere Verlaufsform erkannt wurden [13]. Sie wurden den als schwerwiegend, in der älteren Nomenklatur auch als katastrophal bezeichneten Syndromen gegenübergestellt, die in der neuen Klassifikation u.a. unter dem Begriff „Epileptische Enzephalopathie” eingeordnet sind [8].

Die gutartigen Epilepsien des Kindesalters mit altersgebundenem Beginn werden eingeteilt nach idiopathisch fokalen und idiopathisch generalisierten Epilepsien.

Ein gutartiges (benignes) Epilepsie-Syndrom ist ein Syndrom, das charakterisiert ist durch epileptische Anfälle, die leicht behandelbar sind oder keiner Behandlung bedürfen und die ohne Folgen verschwinden - z.B. gutartige familiäre Säuglings-Epilepsie.

Ein idiopathisches Epilepsie-Syndrom ist ein Syndrom, das nur aus der Epilepsie besteht, ohne zugrundeliegende strukturelle Hirnläsionen und ohne andere neurologische Zeichen oder Symptome; sie sind vermutlich genetisch und meist altersabhängig, z.B. Rolando-Epilepsie.

Im Gegensatz hierzu werden am anderen Ende des Spektrums der auch altersgebunden auftretenden Syndrome, die epileptischen Enzephalopathien, definiert.

Die epileptische Enzephalopathie ist ein Zustand, von dem angenommen wird, dass die epileptischen Veränderungen für sich zu einer progredienten Störung der Hirnfunktion beitragen, z.B. CSWS oder ESES (Epilepsie mit kontinuierlichen spike waves im ruhigen Schlaf; Elektrischer Status epilepticus im Schlaf).

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Diagnostischer Prozess der Syndrom-Zuordnung

Essentielle Merkmale der Zuordnung sind:

  • Das typische Alter bei Erstmanifestion der Anfälle: gemeint ist hier der erste afebrile Anfall, da die Fieberkrämpfe kein Epilepsie-Syndrom darstellen. Bei den meisten gutartigen Epilepsie-Syndromen gehen Fieberanfälle, insbesondere bei der okzpitalen Epilepsie auch Neugeborenenanfälle, der Epilepsie-Manifestation voraus

  • Die leichte Behandelbarkeit und/oder Spontanremission: dieses für die Prognosenerstellung wesentliche Merkmal kann eigentlich individuell erst nach dem Verlauf, d.h. retrospektiv, erstellt werden; es wird bei prospektiver Anwendung aus den anderen Zuordnungskriterien geschlussfolgert

  • Die epileptischen Anfälle verschwinden ohne Folge: diese Zuordnung nimmt ebenfalls den erwarteten Verlauf vorweg und bedarf der anderen Einschlusskriterien; es bleibt offen, wie umfassend und strikt bezüglich Verhalten, kognitiver Entwicklung und Sozialisation dies gemeint ist

  • Das Syndrom besteht nur aus der Epilepsie: hiermit scheint jede Komorbidität für die Syndromzuordnung ausgeschlossen; eine rechtzeitig behandelte Hypothyroese oder ein gut eingestellter kindlicher Diabetes mellitus müssten als Ausschlusskriterien gelten. Für eine Vielzahl von Erkrankungen, die häufig mit einer Epilepsie einhergehen, erfolgt die Zuordnung der Epilepsie zur Grunderkrankung, was jedoch häufig erst nach umfassender und langzeitiger Diagnostik möglich ist

  • Es liegt keine der Epilepsie zugrundeliegende strukturelle Hirnläsion vor: damit kann ein Ausschluss jeglicher struktureller Veränderung gemeint sein, die sich mit einer optimalen Bildgebung (cMRT) erfassen lässt und die dann auch zur Klassifikation unverzichtbar ist. Möglich scheint jedoch auch deren Vernachlässigung bei einem Befund, für den keine kausale Beziehung zur Epilepsie besteht

  • Es bestehen keine anderen neurologischen Zeichen oder Symptome: bei strenger Anwendung bedarf dies neben einer dem Alter entsprechenden neurologischen (motoskopischen) auch einer entwicklungsneurologischen und/oder neuropsychologischen Untersuchung

  • Die Syndrome sind vermutlich genetisch und meist altersabhängig: hiermit wird Bezug auf eine gründliche Familienanamnese genommen, die über das Vorkommen einer Epilepsie in der Verwandtschaft hinaus alle Symptome einer Erkrankung und/oder Entwicklungsstörung einbeziehen sollte. Dabei kann es sinnvoll oder gar unverzichtbar sein, Geschwister und/oder Eltern selbst zu untersuchen, eventuell auch ein EEG mit spezieller Fragestellung abzuleiten.

Die „Abarbeitung” dieser sieben Punkte ist unverzichtbar vor der Zuordnung zur idiopathisch gutartigen Epilepsie.

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Epilepsie-Prognose ist gut, aber auch die Entwicklung?

In Abhängigkeit von der strikten Einhaltung dieser Definitionen werden in der internationalen Literatur unterschiedliche Epilepsie-Syndrome der Gruppe der gutartigen Epilepsien zugeordnet; die ILAE-Klassifikation [8] [12] hat nur einige davon aufgenommen [Tab. 1]: Rolando-Epilepsie (E. mit zentrotemporalen sharp waves), Epilepsie mit okziptalen sharp waves mit frühem Beginn und Myoklonische Epilepsie des frühen Kindesalters.

Diesen Epilepsien ist gemeinsam der altersgebundene Beginn, eine typische Anfalls-Semiologie, charakteristische Merkmale im interiktalen, überwiegend auch im iktalen EEG sowie ein guter Verlauf der Epilepsie mit Remission nach einigen Jahren, spätestens in der Pubertät.

In den deutschen und internationalen Lehrbüchern sowie in der internationalen Literatur werden weitere Epilepsie-Syndrome unter dem Begriff der gutartigen Epilepsien abgehandelt [Tab. 2], [3] [5] [7]: Pseudo-Lennox-Syndrom (atypische benigne Partial-Epilepsie), Benigne psychomotorische Epilepsie (terror fits), Landau-Kleffner-Syndrom und ESES oder CSWS. Doose fasste diese Erkrankungen unter dem Begriff der Hereditären zerebralen Maturationsstörung zusammen [Tab. 3].

Diese Zuordnung erfolgt aufgrund der Merkmale, die diese Epilepsie-Syndrome mit den oben genannten gemeinsam haben, wobei insbesondere die gute Prognose der Epilepsie als Zuordnungsmerkmal gültig ist. Sie unterscheiden sich jedoch wesentlich in den EEG-Veränderungen und in der Entwicklungsprognose, weswegen sie in der ILAE-Klassifikation nicht unter den gutartigen Epilepsie-Syndromen aufgeführt sind. Das Landau-Kleffner-Syndrom und der ESES werden in das Spektrum der Epileptischen Enzephalopathien eingeordnet. Eine Grundlage für diese erweiterte nosologische Sichtweise ist die umfassende Meta-Analyse von Bouma et al. [2] aus dem Jahr 1997 zur Rolando-Epilepsie. Von 525 Publikationen genügten nur 32 den ILAE-Kriterien. Die Begründung für diese Ausweitung des Konzeptes ergibt sich aus Langzeitstudien zum Verlauf auch der streng definierten gutartigen Epilepsie-Syndrome:

  • der Erfahrung, dass sich bei einzelnen Kindern aus der Rolando-Epilepsie ein Pseudo-Lennox-Syndrom oder auch ein ESES entwickeln [5], ohne dass damit eine neue Epilepsie-Form entsteht sowie der erhöhten Inzidenz von vorausgehenden Neugeborenen- und Fieberanfällen

  • den Befunden der allen Syndromen gemeinsamen typischen sharp waves [3] [6] [7] ([Abb. 1] und 2)

  • den übereinstimmenden EEG-Merkmalen mit hoher Inzidenz assoziierter EEG-Veränderungen der erhöhten generalisierten Anfallsbereitschaft [7] [10] (Abb. 3)

  • den übereinstimmenden Befunden zum familiär deutlich vermehrten Auftreten von Fieberanfällen, einzelnen anderen Epilepsie-Syndromen, Entwicklungsstörungen und typischen EEG-Merkmalen [5] [10]

  • dem Nachweis von begleitenden und überdauernden Entwicklungs- und Verhaltensstörungen auch bei der Rolando-Epilepsie [11] [15]

  • Dem Nachweis von Hirnläsionen bei Kindern mit Rolando-Epilepsie [9].

Wie die Arbeit zu fokalen sharp waves mit und ohne Epilepsie [15] ermittelt hat, resultieren allein aus der Dichte fokaler sharp waves Einschränkungen der kognitiven Entwicklung, ebenso waren 20 unbehandelte Kinder im mittleren Alter von acht Jahren mit Rolando-Epilepsie gegenüber Kontrollen ohne sharp waves im IQ und fast allen anderen Funktionsbereichen signifikant schlechter.

Hahn et al. untersuchten 43 Kinder mit Pseudo-Lennox-Syndrom 10). Davon war bei 56 % mindestens einmalig ein bioelektrischer Status im Schlaf erfasst worden; trotz Anfallsfreiheit besuchten 56 % die Sonderschule. Für das Auftreten von okzipitalen sharp waves [7] bei Indexpatienten mit einem ebenfalls betroffenen Verwandten fanden sich bei den Kindern zu Beginn der Epilepsie in 24 % Sprachentwicklungsstörungen, bei Nachuntersuchung in unterschiedlichem Alter waren bis zu 46 % in verschiedenen Bereichen retardiert.

Auch das Einschlusskriterium des Fehlens von Hirnläsionen für die Diagnosenstellung ist nicht unwidersprochen. In der Tat hat inzwischen eine Vielzahl von Studien strukturelle zerebrale Veränderungen bei einem Teil der Kinder mit gutartiger Epilepsie, auch typischer Rolando-Epilepsie, nachweisen können, u a. Gelisse et al. [9]. In einer prospektiven Studie wurden 71 von 89 Patienten mit Rolando-Epilepsie einer bildgebenden Diagnostik unterzogen (cMRT und/oder CCT), bei 14,8 % (N=10) ergaben sich Veränderungen. Die Autoren schlussfolgern: „This confirms that neuroimaging may be abnormal in patients with BECTS and shows that the presence of brain lesions has no influence on the prognosis. Conversely, BECTS can be diagnosed in patients with brain lesions with or without significant neurological history or abnormalities”. Hierbei könnte zum Zeitpunkt einer Übereinstimmung in der altersspezifischen Topographie der sharp waves mit der Lokalisation der Läsion eine Epilepsie auftreten, die sonst „unentdeckt” geblieben wäre. Wenn alle weiteren typischen anamnestischen und klinischen Merkmalen denen einer idiopathisch benignen Epilepsie entsprechen: ist dann ein Syndromwechsel zur symptomatisch fokalen Epilepsie zwingend?

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Die gutartige Epilepsie im übergeordneten Konzept

Für die Annahme eines alters- und reifungsbezogenen kontinuierlichen biologischen Spektrums, insbesondere unter den benignen fokalen Epilepsien der Kindheit mit Einbeziehung auch der Extremvarianten, die den epileptischen Enzephalopathien zugeordnet werden, sprechen eine Vielzahl von Befunden und Verläufen, deren Kernmerkmal die typischen sharp waves sind:

  • Übergang der Patienten zwischen den Syndromen: von der Rolando-Epilepsie in die atypische benigne Partial-Epilepsie, die Merkmale der kontinuierlichen bioelektrischen Entladung im Schlaf (fokal oder generalisiert) umfasst; Wiederherstellung des isolierten sharp waves-Fokus unter Therapie ohne jedoch Wiedererlangung der für die Rolando-Epilepsie typischen eher guten Prognose

  • Vergleichbar hohe Assoziation der Syndrome mit vorausgehenden Fieberkrämpfen und/oder Neugeborenenkrämpfen bei den Indexpatienten und ihren Familienangehörigen

  • Vergleichbar häufiger Nachweis der EEG-Merkmale der fokalen sharp waves bei den nicht Epilepsie-erkrankten Geschwistern

  • Hohe Penetranz von EEG-Merkmalen der generalisierten Erregbarkeitssteigerung bei Indexpatienten und sog. Multiplex-Familien.

Die mit 2 % hohe Prävalenz der pathognomonischen sharp waves bei nicht epilepsiekranken Kindern, ihre reifungsabhängige Lokalisation - okzipital bei jüngeren, zentrotemporal bei älteren - und die Frontalisierung bei den ungünstigen Verlaufsformen haben die Annahme unterstützt, dass die fokalen sharp waves nur „oberflächliche”, d.h. im EEG erfassbare Merkmale einer zugrundeliegenden Hirnreifungsstörung sind, deren Merkmalsträger nur in ca 8 % an einer Epilepsie erkranken.

Die dargestellten Studien belegen, dass die Einschlusskriterien für die idiopathisch fokalen benignen Epilepsien mit dem zentralen Merkmal der fokalen sharp waves der Bandbreite der über die Epilepsie hinausgehenden klinischen Manifestation nicht gerecht werden. Neben dem gutartigen Verlauf der Epilepsie sind diese gekennzeichnet durch eine häufige Assoziation mit vorausgehenden Neugeborenen- und Fieberkrämpfen und dem altersspezifischen Auftreten von EEG-Merkmalen der erhöhten Anfallsbereitschaft mit Fotosensibilität, generalisierten spike wave-Paroxysmen und Theta-Rhythmisierung. Diese Merkmale finden sich auch bei den Geschwistern, die nicht an einer Epilepsie erkranken.

Wie auch Lüders [13] in seinen pathophysiologischen Überlegungen zum Stellenwert der sharp waves als dem gemeinsamen Merkmal darlegt, hat Doose hieraus das Konzept einer hereditären zerebralen Reifungsstörung entwickelt. Dabei kommt den reifungsabhängig auftretenden fokalen sharp waves, die für sich alleine eine geringe epileptogene Potenz besitzen, die Bedeutung eines Markers für eine umfassendere globale genetisch determinierte Hirnreifungsstörung zu. Diese führt altersabhängig und im Zusammenwirken mit Merkmalen der erhöhten Anfallsbereitschaft zu einer unterschiedlichen Dynamik der EEG-Veränderungen und Entwicklungsbeeinträchtigung bei den betroffenen Kindern.

In Bezug auf die Gutartigkeit im Epilepsie-Verlauf kann die Zuordnung zu den benignen Epilepsien bestehen bleiben, wobei die unterschiedlichen Verlaufsformen im übergeordneten Konzept der hereditären zerebralen Hirnreifungsstörung dargestellt werden.

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Empfehlungen für die Praxis der pädiatrischen Epileptologie

Unter Berücksichtigung der Kriterien der ILAE, die der diagnostischen Einordnung inbesondere zum Wohl des einzelnen Patienten dienen sollen, bedarf gerade auch zum Wohl des Patienten das Konzept der hereditären zerebralen Maturationsstörung einer Umsetzung in die Praxis [Tab. 4].

  • Überprüfung der Einordnung der altersgebundenen Partial-Epilepsien in das Konzept, ganzheitliche umfassende Diagnostik, Therapie-Entscheidungen, die über die Anfallsbehandlung hinausgehen, engmaschige Beobachtungskontrollen, eventuelle Einbeziehung nicht-epilepsiekranker Geschwister

  • Darüber hinaus Einbeziehung der EEG-, evtl. auch der Schlaf-EEG-Diagnostik in der Abklärung von Entwicklungsstörungen zum Nachweis oder Ausschluss der Merkmale einer genetischen zerebralen Reifungsstörung

  • Solange die genetischen Basismechanismen und das pathophysiologische Korrelat der funktionellen Störung durch die sharp waves und weitergehenden EEG-Veränderungen nicht geklärt sind, bleibt die Therapie-Entscheidung bei schweren EEG-Veränderungen ohne Epilepsie, aber mit deutlichen Entwicklungsdefiziten eine individuelle. Die Einführung einer medikamentösen Behandlung muss sich an einer neuropsychologischen Diagnostik und den hieraus ermittelten Zielen einer überprüfbaren Funktionsverbesserung in einem festgelegten Zeitrahmen orientieren.

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Abb. 1

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Abb. 2

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Abb. 3

Tab. 1 Gutartige Epilepsien nach ILAE

 

Rolandische Epilepsie mit zentrotemporalen sharp waves

Gutartige Partial-Epilepsie mit okzipitalen Foci

Gutartige myoklonische Epilepsie der frühen Kindheit

Betroffen

überwiegend normal entwickelte Kinder, J > M

überwiegend normal entwickelte Kinder

normal entwickelte Kinder, J. > M.

Beginn

2.-12. Lj.

3.-9. Lj.

4 Monate-3 Jahre

Klinik

rolandische (facial, oro-bucco-pharnygeal betont), unilaterale, generalis. tonisch-klonische Anfälle; gehäuft vorausgehend Neugeborenen- und Fieberanfälle

jüngere Kinder (early onset-Panayiotopoulos-Typ) o rolandische und okulomotorische Anfälle

  • prolongierte nächtliche Hemi-konvulsionen

  • Übergang in gen. tonisch-klonische Anfälle ältere Kinder (late onset-Gastaut-Typ)

  • sensorische Herdanfälle

  • Kombination mit Migräne-Symptomen

myoklonische Anfälle v. Schulter-gürtel, selten der Beine, Kopfnicken, Auslösung durch spezifische Reize möglich (Berührung, Geräusche), seltene generalisierte tonisch- klonische Anfälle, Fieberkrämpfe vorausgehend

Neurologie

meist normal; Koordinationsstörung möglich, orale Dyspraxie

normal

normal

Entwicklung

oft Teilleistungsstörungen

normal

normal

EEG-Befund

sharp waves zentrotemporal, oft wechselnd Schlafaktivierung

häufig seitenwechselnde okzipitale sharp waves, die bei Fixation vollständig verschwinden, oft rolandische sharp waves

generalisierte spike and waves, oft Fotosensibilität, keine fokalen Veränderungen

Prognose

vollständige Remission vor/während Pubertät, überdauernde Verhaltens-und neuropsychologische Störungen möglich

überwiegend günstig v.a. bei early onset Variante; evtl. Folgeschäden nach prolongierten Hemikonvulsionen

überwiegend gut, psychomentale Retardierung möglich

Tab. 2 Weitere gutartige Epilepsieformen

 

Pseudo-Lennox-Syndrom - atypische benigne Partialepilepsie

Terror fits/psychomotorische Epilepsie - benigne Partial-E. mit affektiver Symptomatik

Hereditäre zerebrale Maturationsstörung - Landau-Kleffner-Syndrom

Hereditäre zerebrale Maturations-störung - Elektrischer Status-epilepticus im Schlaf (ESES/CSWS)

Betroffen

überwiegend normal, Vorschädigung möglich

normal entwickelte Kinder

normal entwickelte Kinder, in 10 % primäre Sprachentwicklungsstörung

normal entwickelte und primär entwicklungsretardierte Kinder, selten hirnorganische Läsionen

Beginn

2.-7. Lj.

3.-10. Lj.

4.-10 Lj.

2.-10 Lj.

Klinik

rolandische, generalis. tonisch-klonische Anfälle; kleine generalisierte Anfälle:

  • atypische Absencen

  • atonisch-astatische Anfälle

  • myoklonische Anfälle vermehrt vorausgehend Neugeborenenkrämpfe

an Frontallappen-Anfälle erinnernde Symptome mit evtl. kurzer unspezifischer Aura

  • plötzliche Angst mit/ohne Aufschrei

  • Gesichtsröte mit blassem Munddreieck

  • Einengung des Bewusstseins

  • Wegrennen oder turbulenter Bewegungssturm

  • abruptes Ende häufig vorausgehende Fieberkrämpfe, keine anderen Anfälle

rolandische und generalis. tonisch-klonische Anfälle in 75 %, verbale oder komplette auditorische Aphasie

Anfälle wie bei Pseudo-Lennox-Syndrom in 70 % (ohne tonische Anfälle), komplexe psychomentale und Sprachentwicklungsprobleme, Verhaltensstörungen

Neurologie

häufig Koordinationsstörung, orale Dyspraxie

normal

orale Dyspraxie

häufig Koordinationsstörungen, fokale Ausfälle; ICP möglich

Entwicklung

häufig Teilleistungs- und/oder Sprachentwicklungs-Störungen

normal

Sprech-und Verhaltensstörungen möglich

Entwicklungsregression global oder in Teilbereichen

EEG-Befund

multifokale, häufig frontale sharp, waves, symm. u. asymm. Generalisation, spike-waves-Varianten, immer Schlafaktivierung, bioelektrische Staten im NREM

inkonstante fokale sharp waves frontotemporal oder temporoparietal

fokale und multifokale sharp waves mit temp. Maximum, Schlafaktivierung, fokaler oder generalisierter bioelektrischer Status (ESES/CSWS) im NREM

fokale und multifokale sharp waves mit temp. Maximum, Schlafaktivie-rung, fokaler oder generalisierter bioelektrischer Status (ESES/CSWS) im NREM

Prognose

große Rezidivneigung, Remission vor/während Pubertät; mentale Defizite möglich, regelhaft nach Staten

gut - bei eindeutiger Zuordnung zur benignen Partial- Epilepsie

große Rezidivneigung, Remission vor/während Pubertät; häufig bleibende sprachliche Defizite; komplexe Entwicklungs-Defizite nach Staten

große Rezidivneigung, Remission vor/während Pubertät; häufig bleibende mentale und sprachliche Defizite wechselnde Ausprägung, selten Defektheilung

Tab. 3 Hereditäre zerebrale Maturationsstörung

Primäre Entwicklungsretardierung

Teilleistungsstörung

Neugeborenenkrämpfe

Fieberkrämpfe

Epilepsien

  • Rolandische Epilepsie (mit centrotemporalen sharp waves)

  • Pseudo-Lennox-Syndrom (atypische benigne Partial-E.)

  • (frontale Epilepsie)

  • benigne psychomotorische Epilepsie (Terror fits)

  • benigne okzipitale Epilepsie ( early and late onset-Typ)

Landau-Kleffner-Syndrom, z.T. ohne Anfälle

ESES (CSWS), z.T. ohne Anfälle

Klinisch asymptomatische Fälle 80-90 %

Tab. 4 Checkliste der diagnostischen Zuordnung zur benignen Partial-Epilepsie

Wer?

Alter 4-8 J. ( 3-12)

Geschlecht J. > M.

Positive Familien-Anamnese für Epilepsie,Gelegenheitsanfälle, Entwicklungs-Auffälligkeiten gleichartige EEG-Befunde bei Geschwistern (von 3-12 Jahre)

Was vorher?

Vorausgehende Neugeborenen- und/oder oder Fieberanfälle

Leichte spezifische Entwicklungsstörung (orofazial, Sprache, Aufmerksamkeit)

Was danach?

evtl. leichte Veränderungen im Verhalten und Lernen

Wann?

Anfälle eher nachts

Wie?

Typische meist gleichbleibende Anfalls-Semiologie

EEG-Hilfe?

Wach-EEG mit normaler Hintergrundaktivität

Fokale sharp waves in 10-20 % nur im Schlaf

Fokale sharp waves mit wechselnder Lokalisation

Fokale /multifokale sharp waves mit Aktivierung im NREM

andere EEG-Merkmale erhöhter Anfallsbereitschaft

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Literatur

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  • 14 Stephani U. Spectrum of rolandic epilepsy. Agreements, disagreements and open questions.  Epileptic Disord. 2000;  2
  • 15 Weglage J, Demsky A, Pietsch M. et al. . Neuro-psychological, intellectual, and behavioural findings in patients with centrotemporal spikes with and without seizures.  DMCN. 1997;  39 646-651
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10365 Berlin

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