Laryngorhinootologie 2004; 83(11): 766-767
DOI: 10.1055/s-2004-825939
Hauptvortrag
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Zur sensiblen Phase der Hörbahnreifung - Parallelen zum Auge?

Sensitive Phase of Maturation of the Auditory Pathways - Paralleles to the Eye?E.  Lehnhardt
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Publication Date:
11 November 2004 (online)

Seit 1984 hatten wir bei spät ertaubten Erwachsenen mit dem Cochlear Implant (CI) die bekannt guten Erfolge gehabt; für früh ertaubte oder gar taub geborene Kleinkinder aber galt bis 1988 das CI als gänzlich aussichtslos, die Kinder würden nicht lernen zu verstehen und zu sprechen. In Tierversuchen hatte man nach Vernähen der Augenlider von neugeborenen Katzen und Affen eine rasche Deprivation gesehen: Schon nach wenigen Monaten fanden sich irreversible morphologische Veränderungen im lateralen Kniehöcker und in der Sehrinde.

Wenn die Deprivation so rasch einsetzt - jedenfalls im Auge -, wie sollten wir dann bei taub geborenen Kindern auf das Erlernen von Sprachperzeption und Sprachproduktion hoffen können - und dies mit dem CI vielleicht erst nach Monaten oder gar einem Jahr der Taubheit? Oder sollten hinsichtlich der Reifung für Auge und Ohr grundsätzlich unterschiedliche Bedingungen gelten?

In der klinischen Ophthalmologie heißt es, dass bei der sehr seltenen angeborenen beidseitigen Katarakt eine kaum reversible sog. Deprivations-Amblyopie droht, selbst wenn die trüben Linsen schon nach wenigen Wochen entfernt wurden. Dabei verfügen diese Kinder noch über einen in seinen hinteren Anteilen funktionsfähigen Bulbus. Die Retina leidet, wie aus Tierversuchen bekannt, nicht unter dem Abdecken der Hornhaut und sie ist auch an der Katarakt-Entstehung nicht beteiligt.

Was ist es also, dass eine so schwere Sehbehinderung bleibt

trotz der operativen Entfernung der blinden Linse schon Wochen post partum,

dass aber das Sprachverstehen und das Sprechen sich über das CI entwickeln können,

obwohl die angeborene Taubheit viele Monate oder gar wenige Jahre bestanden hatte?

Aus den Tierexperimenten wissen wir auch, dass die Sehrinde schon bald nach der Geburt hochspezifische elektrophysiologische Eigenschaften aufweist. Zur Entwicklung des Sehens und Erkennens bedarf es dann nur noch der funktionellen Umgliederung der schon vorhandenen kortikalen Verbindungen - eine normale Reizung von der Retina her vorausgesetzt.

Den Vorgang der Reifung entlang der neutralen und zentralen Bahnen hatten Yakovlev und Lecours untersucht. Sie orientierten sich dabei am Fortschreiten der Myelinisierung bei Föten und Kindern im Vergleich mit den Befunden bei einer Erwachsenen - nicht nur für Auge und Ohr, sondern auch für andere neutrale Bahnen. Die Ergebnisse ihrer langjährigen, aufwändigen Studie an der Harvard Medical School, Boston, publizierten sie 1967.

Eine Graphik für das auditorische und das visuelle System demonstriert die krassen Unterschiede in der Reifung der Hör- und Seh-Bahnen. Das Hören funktioniert, wie wir wissen, schon Monate vor der Geburt, etwa ab sechstem Fötalmonat. Die peripheren Anteile reifen ausweislich der Myelinisierung bis zum sechsten Lebensmonat und die zentralen Bahnen einschließlich der Hirnrinde und der sekundären Felder bis zum vierten Lebensjahr.

Die visuelle Reifung beginnt zwar erst mit der Geburt, ist aber schon nach vier Monaten beendet, und zwar in voller Ausdehnung vom N. opticus bis zu Sehrinde gleichsam - wie Yakovlev und Lecours schreiben - in one short spurt. Wenn gerade in den ersten Lebenswochen die optische Information ausbleibt, droht sehr rasch die Amblyopie.

Der Kontrast zwischen der visuellen und der auditorischen Reifung ist also offensichtlich: Die visuellen Bahnen werden schon durch eine relativ kurze Behinderung in ihrer Entwicklungsfähigkeit weitgehend irreversibel beeinträchtigt - und dies trotz im Wesentlichen funktionsfähigem Bulbus. Die auditorischen Bahnen aber können sich auch nach relativ lang dauernder Deprivation noch entwickeln - trotz defekten Innenohrs - allein über das CI. Die sensible Phase der Hörbahnreifung ist also nicht streng auf die ersten ein oder zwei Lebensjahre beschränkt, in denen die Reizantworten des Hirnstamms die Norm der Erwachsenen erreichen, sondern ist innerhalb bestimmter Grenzen verschiebbar. Etliche taub geborene Kinder, die erst im 4. Lebensjahr operiert wurden, haben uns dies mit ihren Erfolgen bestätigt.

Die Ergebnisse der Tierexperimente und auch die negativen Erfahrungen der Ophthalmologen bei der angeborenen Katarakt durften uns 1988 tatsächlich nicht davor zurückschrecken lassen, auch taub geborene Kinder mit dem CI zu versorgen und von ihnen Späterfolge zu erwarten, wie wir sie bis dahin nur von ertaubten Erwachsenen kannten.

E. Lehnhardt

Siegesstraße 15 · 30175 Hannover

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