PiD - Psychotherapie im Dialog 2004; 5(3): 252-255
DOI: 10.1055/s-2004-828319
Aus der Praxis
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Den Anderen betrachten, wie er mich betrachtet

Warum wir unser traditionelles Konzept vom Narzissmus überprüfen solltenMartin  Altmeyer
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Publication Date:
08 September 2004 (online)

Abstract

In der psychoanalytischen Theorie, aber auch umgangssprachlich, wird unter Narzissmus Eigenliebe und Ich-Bezogenheit verstanden. Ich plädiere für eine intersubjektive Definition des Begriffs: Narzissmus entsteht im Spiegel der Umwelt.
Schon der primärnarzisstische Säugling ist bekanntlich auf die Mutter angewiesen, die ihn hält - und ihr Lächeln gibt ihm eine erste Ahnung davon, wer er ist. Im narzisstischen Erleben ist virtuell stets ein Anderer präsent, von dem das Selbst gesehen, geliebt oder anerkannt werden möchte. So lässt sich der gesunde Narzissmus als inneres Erbe jener Objektbeziehungen verstehen, die uns ein Grundgefühl von Identität und Sicherheit vermitteln. Das Fehlen eines solchen Grundgefühls führt hingegen zu stillen oder lärmenden Kompensationsversuchen, wie wir sie bei der narzisstischen Störung erleben.
Im medialen Narzissmus ist seine intersubjektive Dimension gewissermaßen auf den zeitgenössischen Begriff gekommen. Die Spiegelkabinette der postmodernen Lebenswelt bieten nämlich ungeahnte Reflexionsräume für narzisstische Identitätsbildung: Wir betrachten dabei insgeheim den Anderen, wie er uns betrachtet.

1 Theoretisch entwickelt in: Altmeyer M. Narzissmus und Objekt. Ein intersubjektives Verständnis der Selbstbezogenheit. Göttingen 2000; Anwendungen in: Altmeyer M. Im Spiegel des Anderen. Anwendungen einer relationalen Psychoanalyse. Gießen 2003.

Korrespondenzadresse:

Dr. Martin Altmeyer

Röderichstraße 8

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