PiD - Psychotherapie im Dialog 2004; 5(3): 314-316
DOI: 10.1055/s-2004-828324
Im Dialog
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Hat Psychotherapie in der Psychiatrie eine Zukunft?

Arndt  Michael  Oschinsky
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Publication Date:
08 September 2004 (online)

PiD: Hat Psychotherapie in der Psychiatrie noch eine Zukunft?

A. M. Oschinsky: In jedem Fall hat Psychiatrie ohne Psychotherapie keine Zukunft.

PiD: Seit geraumer Zeit hat die Biologie ein deutliches Übergewicht in der Psychiatrie. Geht die Hoffnung in der Psychiatrie dahin, dass seelische Störungen letztlich doch Krankheiten des Gehirns sind?

A. M. Oschinsky: Biologie in der Psychiatrie heißt ja heute Rezeptor- und Transmitterforschung, gehirntopografische Analysen über die Aussagen bildgebender Verfahren, Identifikation komplexer Signalentstehung und Weiterleitung in Netzwerken u. a. Diese Forschungen haben in der Tat ein großes Gewicht in der Psychiatrie, die Hoffnung geht dahin, dass - z. B. wie bei der Entwicklung der Neuroleptika und Antidepressiva - wichtige therapeutische Konsequenzen daraus gezogen werden können. Man kann gespannt sein, welche Bedeutung diese Forschungslinien in Zukunft für die Psychotherapie gewinnen.

PiD: Halten Sie das medizinische Modell „Seelische Störungen sind Krankheiten”, die der dafür ausgebildete Fachmann entdeckt und behandelt, für angemessen?

A. M. Oschinsky: In dieser Betrachtung ist das natürlich verkürzt und nicht angemessen. Die Erweiterung dieses so genannten medizinischen Modells geschieht. Bausteine für diese Erweiterung liefert u. a. die Expressed Emotion-Forschung, auch die enge Verknüpfung von Schmerz und Depression. Wenn wir annehmen, dass zentrale Schmerzsignale grundsätzlich in einer Neurosignatur verbunden sind mit Schmerzerfahrung und dazugehörigem Affekt, dann sind das Hinweise, wie ein erweitertes medizinisches Modell aussehen muss.

PiD: Gibt es so etwas wie eine speziell auf die Belange der Psychiatrie abgestimmte Psychotherapie?

A. M. Oschinsky: Diese Frage fokussiert natürlich sofort die vollzogene Etablierung der beiden Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie und Psychotherapeutische Medizin, in Zukunft Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Die Abgrenzung ist, was den Rahmen der Weiterbildungsordnungen anbelangt, durch die Bundesärztekammer und durch Landesärztekammern vollzogen. Ich bin gegen diese Abgrenzung. Sie hat auf vielen Ebenen in ihrer europäischen Einmaligkeit schwerwiegende Konsequenzen, besonders für das Fachgebiet Psychiatrie und Psychotherapie; die Brisanz dieser Konsequenz zeigt sich in dem Versuch, Diagnosen den Fachgebieten zuzuweisen und aufgrund dieser Abgrenzung stationäre und ambulante Versorgung in den Bereichen Krankenhausbehandlung, Rehabilitation und ambulante Behandlung zu entwerfen und festzuschreiben. Zu den besonderen Belangen: die Integration von psychotherapeutischem und konfliktorientiertem Denken und Handeln in die Sozialpsychiatrie, das ist ein spezielles Thema der Psychiatrie, ebenso u. a. die Frage psychotherapeutischer Behandlungsmodule in der Schizophreniebehandlung.

PiD: Häufiger heißt es, Psychotherapie sei heute in die Psychiatrie integriert. Was ist mit Integration in diesem Zusammenhang gemeint?

A. M. Oschinsky: Ich verstehe Psychotherapie immer als ein untrennbar Gemeinsames von psychotherapeutischer Haltung und psychotherapeutischer Methode. Psychotherapeutische Haltung ist reflektiertes Verhalten und nicht beliebiges, bedeutet umgesetzt in den Alltag die Entwicklung und Umsetzung von fachlicher und interaktioneller Kompetenz. Zumindest integrieren wir zunehmend den Aspekt der Einmaligkeit und Qualität der Begegnung zwischen Professionellem und Patienten mit der Gewissheit, dass gerade die Erstbegegnung, z. B. auch in der Notfallpsychiatrie wegweisend für den weiteren Weg des Patienten sein kann. Mir fehlt eine sehr viel striktere Konfliktorientierung. Damit meine ich das routinierte Herausarbeiten von „fingerprints” der abgelaufenen Autonomie-/Abhängigkeits-Ambivalenz in der psychischen Entwicklung. Es ist ebenso Wertschätzung der Patienten wie diagnostischer und therapeutischer Beitrag, wenn wir einen so gewonnenen Grundkonfliktstatus mit den aktuellen Konflikten verbinden. Das gilt für die inneren wie die äußeren Konflikte, wie z. B. die der Patienten mit der Institution Psychiatrie.
Darüber hinausgehend sind eine Vielfalt psychotherapeutischer Methoden in ganz unterschiedlichen Settings integriert, das gilt sowohl für Stationen, deren Hauptbehandlungsmethode die Psychotherapie ist, als auch für den Ausbau psychotherapeutischer Module in Stationen der Allgemeinpsychiatrie, der Suchtmedizin und Gerontopsychiatrie. Ich weiß, wie sehr die Kliniken darum ringen, diese Integration zu bewältigen und wie schwer das ist.

PiD: Ist Psychotherapie in der Psychiatrie heute eine Therapiemethode unter vielen anderen?

A. M. Oschinsky: Ja, wenn man hier einmal Psychotherapie als ein Bündel von Methoden betrachtet, ist sie neben der Psychopharmakologie, neben der Psychoedukation und der sozialpsychiatrischen Netzwerkarbeit eine unter anderen.

PiD: Für viele Mediziner scheint insbesondere die Psychiatrie unattraktiv geworden zu sein. Worauf führen Sie das zurück?

A. M. Oschinsky: Ob man das schon so generell sagen kann, bezweifle ich, eine Gefährdung in diese Richtung sehe ich unbedingt. Für viele von uns war die Komplexität unseres Faches das Reizvolle und eben auch das Erlernen und die Anwendung psychotherapeutischer Verfahren. Auch hier kommt die drohende Unattraktivität aus der Etablierung der beiden Weiterbildungsordnungen und Fachärzte, dem zunehmend formulierten Alleinvertretungsanspruch der Psychotherapeutischen Medizin für z. B. Angst-, Ess- oder Zwangsstörungen. Viele befürchten, dass sich die Aufgabe der Psychiater in Zukunft zunehmend auf die psychopharmakologische und die körpermedizinische Behandlung beschränkt. Das Spektrum der Störungen scheint zu schmelzen auf Psychosen und Demenzen. Die Zukunft der niedergelassenen Psychiater und Psychiaterinnen erscheint zumal aktuell ziemlich dunkel, in einer völlig unübersichtlichen Gemengelage werden sie und ihr Versorgungsschwerpunkt über die Verteilung der finanziellen Ressourcen an den Rand gedrängt.

PiD: Zukünftige Psychiater müssen in ihrer Weiterbildung nicht nur die Diagnostik und Behandlung von Geisteskrankheiten lernen, sondern sollen über so heterogene Themen Bescheid wissen wie Entgiftungsbehandlung, Substitution von Opiatabhängigen, zivil-, sozial- und strafrechtliche Fragen, EEG, Psychopharmakologie, Schlafmedizin, Angehörigenarbeit, Soziotherapie oder Gemeindepsychiatrie. Wie ist der Erwerb einer qualifizierten psychotherapeutischen Kompetenz möglich?

A. M. Oschinsky: Dies ist ein Dilemma, vor dem alle medizinischen Fachgebiete stehen. Das Dilemma: Wie bewältigen wir die Spezialisierung?
Diese Frage ist in der Tat nicht beantwortet. Für das Fach ist es also in Zukunft notwendig, einerseits eine möglichst breite Basisqualifikation zu erreichen und dann dort, wo dies aufgrund von evidenz-based Betrachtungen notwendig ist, Spezialbereiche einzurichten. Zu einer psychotherapeutischen Basisqualifikation gehört dann die Essenz aller Psychotherapie, nämlich eine Haltung zu implantieren, die ganz grundsätzlich Autonomieentwicklung fördert. Psychotherapie in der Psychiatrie als fundamentales Anliegen, individuelle Möglichkeiten zu identifizieren und über psychotherapeutische Behandlungsbeiträge individuelle Autonomie zu erlangen. Dieses Anliegen muss die Sozialpsychiatrie durchdringen, als Fördern einer an den Möglichkeiten ausgerichteten Autonomieentwicklung des in seinen Bezügen und Abhängigkeiten vernetzten Patienten.
Das hat Konsequenzen für unsere alltäglichen und speziellen Interventionen, ebenso wie für unsere Organisation.
Basisqualifikation und Spezialisierung kann nur in einem gemeinsamen Weiterbildungsprojekt gelingen, in das sich Psychiatrie und Psychotherapie und Psychotherapeutische Medizin neu integrieren.

PiD: Im Vorstand der DGPPN ist Psychotherapie zusammen mit anderen Bereichen in einem von vielen anderen Referaten innerhalb eines Schwerpunktes repräsentiert. Dokumentiert das, dass Psychotherapie derzeit in der maßgeblichen Fachgesellschaft der Psychiatrie keinen hohen Stellenwert hat?

A. M. Oschinsky: Die DGPPN ist, wie wir Psychiater überhaupt, sicher maßgeblich beteiligt an der Bedeutungsentwicklung von Psychotherapie. Wir haben es über Jahrzehnte zugelassen, dass sich ein psychotherapeutischer Versorgungsschwerpunkt in deutschen Rehabilitationskliniken etabliert hat. Der notwendige sozialpsychiatrische Schwerpunkt der Entwicklung nach der Psychiatrie-Enquete und die biologische Orientierung der Universitätspsychiatrie haben zunächst wenig Raum gelassen für die stationäre Psychotherapie in der Psychiatrie, wir haben ihn uns nicht genommen, getrennte Universitätskliniken für Psychotherapie und Psychosomatik haben die heutige Situation schon lange vorweg genommen. Heute ist das in der DGPPN sicher anders, Psychotherapie ist deutlich markiert, einmal in dem zum Vorstand gehörigen Schwerpunkt Psychotherapie-/Konsiliar- und Liaisonpsychiatrie, darüber hinausgehend aber in den beiden Referaten der DGPPN Psychotherapie und Psychosomatik/Verhaltensmedizin/Konsiliarpsychiatrie. Eine große Bedeutung hat in der DGPPN die Weiterbildung und gerade die Qualität der psychotherapeutischen Teile erlangt.

PiD: Ein Blick auf den Terminkalender psychiatrischer Kongresse zeigt, dass es Veranstaltungen mit dem Schwerpunkt Psychotherapie in der Psychiatrie so gut wie nicht gibt. Bei psychiatrischen Fachtagungen ist die Zahl psychotherapeutischer Veranstaltungen meist verschwindend gering. Entspricht das dem Bedarf an Fortbildung in diesem Bereich?

A. M. Oschinsky: Auch die großen psychiatrischen Kongresse der zurückliegenden Jahrzehnte spiegelten das wider, was ich bereits gesagt habe, auch hier ist die Situation heute anders. Die DGPPN veranstaltet regelmäßige Psychotherapiekongresse, die Kongressbeiträge gerade zu den Themen der Psychotherapie von Angst- und Zwangsstörungen sowie Depressionen sind beträchtlich. Aber das Fachgebiet Psychiatrie und Psychotherapie ist eben komplex, Psychotherapie steht auch neben den anderen Modulen, wie z. B. Genetik, Gerontopsychiatrie und Suchtmedizin, diese wiederum mit ihren eigenen psychotherapeutischen Inhalten.

PiD: Eine nicht offizielle Sammlung von Fragen, die Kolleginnen und Kollegen bei der Prüfung zum Facharzt bzw. zur Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie in den letzten Jahren vorgelegt wurde, enthält kaum Fragen zur Psychotherapie. Wie ist das Ihres Erachtens zu erklären?

A. M. Oschinsky: Eine schlüssige und einfache Erklärung fällt mir hier schwer. Wir haben keinen inhaltlichen Standard der Facharztprüfung und haben keine Qualitätskontrolle der Prüfer. Die Prüfer haben unterschiedliche Schwerpunktsetzungen in ihren Praxen und Kliniken. Es kann schon sein, dass bei der Fülle von Material innerhalb einer 30-Minuten-Prüfung immer eher der Raum besetzt wird durch die anderen großen Themen, wie insbesondere Schizophrenie, affektive Psychosen und Psychopharmakalogie. Erfahrungsgemäß nimmt auch ein anderer bedeutender Bereich der Psychiatrie, nämlich die Suchtmedizin, nur einen ganz kleinen Raum in den Facharztprüfungen ein.