PiD - Psychotherapie im Dialog 2004; 5(3): 298-302
DOI: 10.1055/s-2004-828325
Interview
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

„Das möchte man doch sehen, goldene Wasserhähne, Kaviar satt …”

Nina  Ruge
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Publication Date:
08 September 2004 (online)

PiD: Frau Ruge, sind Fernsehstars und Fernsehsternchen narzisstisch besonders bedürftige Menschen?

N. Ruge: Ich denke, man muss unterscheiden zwischen Stars und Sternchen. Diejenigen, die über lange Zeit erfolgreich sind, sind das meist durch sehr harte Arbeit und große Entbehrungen geworden. Diese Persönlichkeiten müssen eine relativ große Opferbereitschaft haben, was ihr Privatleben, was Familie, Geborgenheit und auch Bodenständigkeit angeht. Die Bereitschaft, Entbehrungen zu akzeptieren, die dieser Beruf mit sich bringt, muss groß sein, um die Sehnsucht nach Applaus, Erfolg, Öffentlichkeit und Ansehen zu befriedigen.
Sternchen unterstelle ich tatsächlich narzisstische Ambitionen, natürlich nicht bewusst. Sie treibt nicht das, was den Theaterschauspieler, Filmschauspieler oder sportlichen Leistungsträger peitscht, nein, sie möchten ausschließlich ihr Ich, ihre Optik, die Stimme und sonst eigentlich nichts bewundert sehen. Bei der Dschungelshow sehen wir ja, zu welch exhibitionistischen Demütigungen B- und C-Klasse-Prominente oder eben Sternchen sich hergeben, um diese gewisse Bedeutung und Bewunderung zu erlangen aufgrund von Nothing, aufgrund von überzogener Ich-Wahrnehmung.

PiD: Sie sprechen von Sehnsucht nach Beifall. Gehört das dazu?

N. Ruge: Man kann diesen Beruf nicht ohne den Dialog mit dem Publikum machen, ohne die Rückmeldung, dass das beim Zuschauer ankommt. Das sehen wir auch bei unserer Sendung. Als wir an einem Samstag eine sensationelle Einschaltquote hatten: 17,9 %, 4,2 Millionen Zuschauer, haben wir gejubelt, meine Redaktionskollegen und ich. Wenn man spürt, dass das, was man tut, egal, ob man auf der Bühne steht oder in der Sendung präsentiert, von den Zuschauern angenommen wird, ob in Form von Applaus oder der Quote, das ist der Dialog, der notwendig ist - und nimmt ein wenig vom Druck der Öffentlichkeit, der uns permanent im Hinterkopf sitzt. Stimmt die Quote nicht, wird eine Sendung abgesetzt, und das gilt für Schauspieler genauso wie für Sportler.

PiD: Was Sie die Quote nennen, ist indirekter Beifall. Sie haben - anders als Theaterschauspieler - nicht den unmittelbaren Dialog mit dem Publikum. Ist das sehr anders, die Bestätigung so indirekt nur über die Quote zu bekommen?

N. Ruge: Natürlich. Das ist viel unemotionaler, viel nüchterner und stark gefiltert, auch zeitversetzt, man erfährt die Zahlen ja erst einen Tag später. Deshalb liebe ich es, auf der Bühne große Veranstaltungen zu moderieren, weil ich da unmittelbar spüre, ob meine Arbeit beim Publikum ankommt. Das ist natürlich ein ganz anderes Gefühl! Auf der anderen Seite geht es im Fernsehen um andere Dimensionen. Da geht es eben um 4,2 Millionen Menschen, die zugeschaut haben. Daran ist wiederum die Werbeindustrie interessiert, die schaltet noch mehr Spots im Umfeld der Sendung, wenn wir diese Quotenentwicklung haben. Exorbitanter Theaterapplaus wie letztens für die Opernsängerin Gruberova, die hier in München eine sensationelle Opernpremiere hinlegte, das ganze Haus ist gewissermaßen explodiert, das gab dann auch in der Presse großen Widerhall. Dieser Applaus, den ein solch großer Künstler an einem Abend einfährt, ist emotional natürlich überhaupt nicht vergleichbar mit Quotenerfolg.

PiD: Wird der Applaus auf der Bühne durch die Quantität der Millionen Fernsehzuschauer ersetzt?

N. Ruge: Natürlich ist das ein gutes Gefühl, wenn ein Schauspieler hört oder liest, wie viele Millionen Zuschauer in den Film gegangen sind und sich dementsprechend mit seiner Person und seiner Leistung auseinander gesetzt haben.

PiD: Wenn man weiß, dass einem Millionen zuschauen, ist man dann nicht ständig mit Fragen und Zweifeln beschäftigt, die sich um die eigene Person drehen?

N. Ruge: Ich denke, das ist ein vielschichtiges Muster. Ich nenne das - natürlich küchenpsychologisch, ich bin ja keine Fachfrau! - das „Über-Über-Ich”. Für jeden der bekannten massenwirksamen Stars beginnt irgendwann mal der Prozess, sich ständig in jeder Situation damit vertraut zu machen und damit zu leben, dass jeder öffentliche kleine Pieps, den er von sich gibt, sofort bewertet wird. Das birgt eine Strenge und eine Konsequenz, die unerbittlich ist. Das bedeutet zum Beispiel, sich an der Supermarktkasse niemals, auch wenn man es extrem eilig hat, ein klein wenig nach vorn zu drängeln, oder als Frau im Restaurant niemals mit einem alten Freund sehr vertraut alte Erinnerungen aufzufrischen. Und das bedeutet, mit öffentlichen Äußerungen aufzupassen. Ich habe gerade Veronica Ferres in „Wetten, dass …?” gesehen. Da sagte sie sinngemäß „… ja die Zuschauer lieben mich …”. Natürlich stimmt das, sie hat eine sehr große Fangemeinde, und dennoch könnte so eine Äußerung als eitel gewertet werden. Eitelkeit - ein ganz großes Tabu! Das spürt jeder, der lange mit den Medien umgeht, dass zum Beispiel auch persönlicher Wohlstand möglichst nicht erwähnt werden sollte. Es gibt unendlich viele Regeln und Gesetze und Erfahrungen, die das „Über-Über-Ich” zu einer Art Höhle machen, zu einem Filter. Das führt dann natürlich zu einer Prägung der Persönlichkeit. Was nicht unbedingt hemmt oder verklemmt - aber das ist halt eine Dimension, die Normalbürger nicht kennen.

PiD: Wirkt sich das auf das Selbstwertgefühl aus - die Quote, die mal nach oben, dann wieder nach unten geht? Ist die Quote in der Medienwelt ein Motor von Selbstwertgefühl?

N. Ruge: Diese wie durch ein Vergrößerungsglas vorgenommene Bewertung von Persönlichkeiten und von Karrieren bietet die Chance, zu wachsen und persönlich eine große Stärke zu entwickeln, und sie bietet das Risiko, daran kaputt zu gehen. Das sehen wir ja an vielen Biografien, egal ob in Hollywood oder in Deutschland. Wir sehen unendlich hohen Drogenkonsum, manchmal bis hin zu gewalttätigen Ausbrüchen oder zu Selbstmorden. Ich denke zum Beispiel an Roy Black oder einige andere, die weit oben waren. Im Schlagergeschäft gibt es diese Möglichkeiten zu „tingeln”, die den Abstieg einer Biografie so unendlich traurig begleiten können. Falko, der sich im Drogenrausch zu Tode gefahren hat, David Hasselhoff, der gerade offen darüber gesprochen hat, dass er sich nach dem Absetzen von „Baywatch” fast um den Verstand gesoffen hat … Es gibt nicht viele, die das so offen sagen. Wir wissen, dass es hinter den Kulissen viel mehr sind, als nach außen dringt.

PiD: Marilyn Monroe, Romy Schneider?

N. Ruge: Romy Schneider auf jeden Fall, Elisabeth Taylor … wie oft war die in Drogenkliniken; die Betty Ford Klinik ist ja spezialisiert auf drogenkranke Stars. Auf der einen Seite habe ich in diesem Bereich sehr starke Persönlichkeiten kennen gelernt, die sich wie in einen Kokon, in die eigene, völlig selbst definierte Welt zurückziehen, in der es Schutzhöhlen gibt, wie ein Schriftsteller, der sich zurückzieht, um ein großes Werk zu schaffen. Das Ich und das Selbst werden geschützt durch konsequentes Abschotten vor der Öffentlichkeit. Gerade durch die Auseinandersetzung mit diesen extremen Beurteilungs- und Bewertungsmaschinerien der Öffentlichkeit schaffen es manche, die eigene Persönlichkeit und das eigene Befinden unabhängig von Applaus zu definieren. Viele von denen, die das wirklich schaffen, sich unabhängig zu machen, sind sehr gläubig, Robert Redfort, Madonna … Es gibt gerade in Los Angeles eine starke Gemeinde von bekannten Schauspielern, die alles erlebt haben, die an der Spitze des Ruhms waren, abgestürzt sind, die unendlich viel Geld haben, die mit den weltberühmten Namen auf Du und Du sind, die wichtigsten Persönlichkeiten kennen, alle Kitzel für das Ego, und die dann sagen: Und wo ist jetzt das, wonach ich im tiefsten Inneren strebe, wenn ich alles schon erlebt habe? Dann ist, glaube ich, die Sehnsucht nach Spiritualität oder nach einem tiefen Glauben besonders groß.

PiD: Diese Fähigkeit des Sich-Abschirmens vor der Öffentlichkeit und dem öffentlichen Beifall klingt sehr ideal.

N. Ruge: Ich denke, dass das in Hollywood etliche ganz gut können, zum Beispiel Harrison Ford. Einige leben überhaupt nicht mehr in Hollywood, Sandra Bullock, Johnny Depp und viele andere. Andere schaffen das auch nicht, sondern leben in diesen Extremen, müssen die Maschine des Egos polieren und ständig füttern. Aber es gibt andere: Ich habe gestern den Film „Lost in Translation” gesehen mit Bill Murray, ein ganz außergewöhnlicher Schauspieler. Von ihm erfahren wir aus den Klatschspalten überhaupt nichts. Er ist allerdings auch nicht so sehr das Objekt der Begierde, weil er nicht diese besondere erotische Attraktivität hat. Natürlich steht er nur für einen Pol oder eine Ausprägung dieses sehr extremen Weges, natürlich sind Biografien wie seine Ausnahmebiografien.

PiD: Man hat den Eindruck, dass zwischenmenschliche Beziehungen in der Medienwelt nicht sonderlich stabil sind.

N. Ruge: Ich denke, die Verführbarkeit und damit die Belastung einer Promi-Ehe oder -Beziehung ist einfach extrem hoch. Das Gefühl, in der Öffentlichkeit das Image eines Sexsymbols spazieren zu tragen, zumindest wenn das Persönlichkeiten dieser Kategorie sind, blendet natürlich, das verführt unendlich und gibt Möglichkeiten sexueller Kontakte, die sonst kein anderer in dieser Form erlebt. Wenn ein Matt Damon, der seit November in Berlin ist und dort seinen aktuellen Film dreht, in die Disko geht, dann hängen dem 20 Mädels an der Backe, eben nur weil Matt Damon da hockt. Da ist natürlich die Verführbarkeit sehr groß, gerade, wenn die Persönlichkeit noch nicht ausgereift ist. Zum anderen ist da das Beziehungsthema „Asymmetrie”: Der eine ist ein Star, der andere nicht. Das sind sicher alte Muster und Klischees. Doch es dürfte sich hier seit den Anfängen des Starkults nichts geändert haben: Wenn der Partner eines sehr bekannten Menschen nicht erstens sehr stark ist und zweitens nicht auch leidensfähig, weil er immer im Hintergrund steht, sich alles um die Bedürfnisse und Strahlkraft des Partners dreht - also das klassische Los einer Schattenexistenz, dann ist das nicht einfach.

PiD: Manchmal sieht es von außen betrachtet so aus, als wenn dann, wenn sie nicht mehr für die eigene narzisstische Bestätigung taugen, Partner gewechselt werden. Auch bei einer Reihe von bekannten Politikern kann man diesen Eindruck haben. Ist das ein verbreitetes Muster in der Welt des öffentlichen Beifalls und der medialen Selbstdarstellung?

N. Ruge: Ach, das weiß ich nicht. Mag sein. Ich denke schon, dass Trennungen im Promibereich in höherer Frequenz vorkommen als in anderen gesellschaftlichen und beruflichen Bereichen, was viel auch mit der extremen zeitlichen Belastung zu tun hat und auch damit, nicht nein sagen zu können zu den viel versprechenden Einladungen und Events. Die große Herausforderung für solche Beziehungen ist für den prominenten Part, nüchtern zu bewerten, was für sein persönliches seelisches Gleichgewicht wirklich wichtig ist. Dazu gehört die Pflege der Partnerschaft und dazu gehört, sich Zeit zu nehmen, gemeinsame, intime Erfahrungen und Erlebnisse über Jahre hinweg zu ermöglichen. Die Verführbarkeit durch diese extreme Einladerei - auch ich habe jeden Tag zig Einladungen, ich könnte jeden Abend anderswo sein … Hier heißt es „nein” zu sagen und zu wissen, was ich pflegen möchte, nämlich meine persönliche Befindlichkeit, mein persönliches Gleichgewicht, mein inneres Wachstum, aber vor allem auch meine Liebe. Viele Prominente scheitern hier. Der Partner verhungert emotional, obwohl scheinbar so viel Glanz auf ihn fällt. Ja, viele Ehen und Beziehungen von Prominenten gehen kaputt, weil sie verdursten und verhungern. Genau besehen könnte das durchaus die Konsequenz narzisstischer Spiegelung des prominenten Partners sein.

PiD: Bei Jugendlichen sind Identitätsunsicherheiten und Größenfantasien gleichsam physiologisch. Sind die jungen und oftmals noch jugendlichen Akteure in diesem Geschäft in besonderem Maße gefährdet? Wie verkraften die diese mediale Aufmerksamkeit?

N. Ruge: Da habe ich die allergrößten Befürchtungen. Dieser Prozess, sich des eigenen Wertes und der eigenen Bedeutung unabhängig von dem Applaus und dem Gekreische von Millionen bewusst zu werden, ist für diese Promi-Teenies ein richtig harter Arbeitsprozess, der auch eine Chance des persönlichen Wachstums birgt. Aber das auseinander zu fieseln und zu erkunden, wann man nur Projektionsfläche ist und Spielball für Senderinteressen oder für Filmstudios, zu sehen, dass sie jetzt nur genau in dieses Muster passt, weil sie diesen Hintern hat wie Jennifer Lopez oder weil einer wie Daniel Küblböck schräge Beschützerinstinkte weckt, das muss man erkennen können. Diese Trennung vorzunehmen, ist natürlich für einen 14-, 15-, 16-Jährigen absolut unmöglich, weil da ja gerade erst dieser Riesenhunger nach Grenzerfahrungen und danach, die eigene Bedeutung wahrzunehmen und auszutesten, im Entstehen ist. Da ist die Fallhöhe groß und die Gefahr des Absturzes ebenfalls. Auch in Drogen und in völlige Orientierungslosigkeit.

PiD: Da werden Größenfantasien von Jugendlichen bedient. Ist die Gefahr von süchtigen Entwicklungen, beispielsweise auch von Essstörungen, groß in dieser jungen Sternchenwelt? Oder drückt das nur Fantasien des Publikums aus, die in diese mediale Welt hineinprojiziert werden?

N. Ruge: Auch das, und da kann man sich dann auch gleich an Fantasien des Exzesses weiden, Orgien, sexuelle Entgleisungen - und was da auch immer bei jungen Leuten unter Drogeneinfluss alles passieren könnte … Das hat man ja auch gerne als Schlagzeile. Jenseits der Sensationslüsternheit: Ein interessantes Phänomen ist, dass im Popmusikmarkt die Girl- und Boy-Groups fast alle nicht lange existieren. Ich vermute, das hat damit zu tun, dass der Druck, unter dem die jungen Sängerinnen und Sänger stehen, so maßlos hoch ist. Oft wurden sie von Plattenfirmen und ihren Managern systematisch aufgebaut und durch die Medienmaschinerie zu bundesweiter Bekanntheit hoch gehypt.
Wer daran exorbitant verdient, das sind natürlich nicht die Teenie-Künstler. Die werden durch Sendungen gepeitscht, durch Presseauftritte, werden mit Klamotten versorgt, haben Fotoshootings, extrem vollgestopfte Terminkalender. Sie müssen im Alltag hart arbeiten, permanent reisen, verlieren alle Wurzeln - und im Grunde ist ihr einziger emotionaler Nährstoff der Erfolg. Das führt zu einer Aushöhlung von Persönlichkeit, von Werten und individuellen Orientierungslinien, was ich als gefährlich empfinde. Wenn so eine Gruppe auseinander gegangen ist, erfährt man meist nicht die Wahrheit. Lediglich nach dem Ende der Girl-Group „No Angels” war jetzt zu hören, dass einige Bandmitglieder völlig ausgebrannt waren. Sie konnten einfach nicht mehr. Obwohl ihr großer Erfolg bis heute anhält und obwohl sie gerade ein neues Album hatten - sie sind trotzdem auseinander gegangen.
Die Gefahr, dass da Drogen den immensen Druck scheinbar lindern, und auch die innere Leere betäuben, die bei einem solch gehetzten Leben entstehen muss, ist extrem hoch. Drogen als Ersatz für Wärme, Liebe und Geborgenheit. Interessant ist, dass die Topmodels dieser Welt, die es wirklich geschafft haben, sehr lange sehr erfolgreich zu sein, eine extrem starke Elternhausbindung haben. Heidi Klum ist mit ihren Eltern ständig im Kontakt, ihr Vater managt sie; Claudia Schiffer hat eine sehr enge Familienbindung; Giselle Bündchen … weiß ich nicht; Kate Moss hat ein Drogenproblem, das weiß jeder; die war schon mehrfach im Entzug. Wenn die familiären Wurzeln gekappt werden, wenn die Zufuhr an Liebe, Wärme und Geborgenheit fehlt, dann wird ausschließlich das, was ein junger Mensch an Erfolg bringt, zum Gradmesser, ob er sich als etwas wert fühlt oder nicht. Davor sind sie in jungen Jahren nur dann geschützt, vermute ich, wenn die Familienbindung intakt ist.

PiD: Sie haben angedeutet, dass manchmal eine ganze Industrie an diesen Boy- und Girl-Groups hängt. Beuten die Medien und das Drumherum der Werbeindustrie diese Jugendlichen und deren entwicklungsbedingte Bereitschaften aus?

N. Ruge: Wenn ich mir die Dschungelshow oder diese Containershows anschaue oder auch „Deutschland sucht den Superstar”, da werden ganz cool Sehnsüchte ausgebeutet nach dem Muster „Ich weiß nicht, ob ich überhaupt eine Lehrstelle kriege, ich weiß nicht so recht, ob ich überhaupt mal Erfolg haben werde in meinem Leben” - da versuche ich doch mit allen Mitteln rauszukommen aus diesen Zweifeln, indem ich Popstar werde! Mitmachen, der großen Illusion hinterherlaufen, die Hoffnung nähren, nach sechs Wochen Castings den ersten, zweiten oder dritten Platz zu machen … Und dann der Traum, ein gemachter Mensch zu sein, „Millionen lieben mich, einfach so, und ich muss nicht darum kämpfen”. Mit dieser Sehnsucht wird Geld gemacht, das ist klar. Und man sieht ja auch, wie cool die jungen Menschen dann mit ihren Träumen zurückbleiben, wenn sie als Projektionsfläche für Millionen ausgedient haben.

PiD: Sie haben eine ganze Reihe von Eigenschaften erwähnt, die erforderlich sind, um mit der medialen Öffentlichkeit fertig zu werden. Wer sind diejenigen, denen das gerade nicht gelingt?

N. Ruge: Das lässt sich nicht auf einen Nenner bringen. Wem es nicht gelingt, sich einen Kokon zu schaffen, in dem Wertmaßstäbe und Persönlichkeitsstrukturen entwickelt werden können, die von dieser Person als Wert an sich unabhängig von der Bewertung durch die Öffentlichkeit empfunden werden, ist die Gefahr groß, dass dieser Mensch narzisstisch süchtig wird und ständig auf Trebe gehen muss, ständig in der Öffentlichkeit präsent sein muss, dass er an der Frequenz des Blitzlichtgewitters abliest, wie wichtig er im Medienzirkus ist, und am Ende noch seine Autobiografie schreibt, um ein weiteres Mal medienpräsent zu sein.
Als ich beschloss, aus dem Lehrerjob auszusteigen und ins Filmgeschäft zu gehen, war mir klar: Ich wollte nie vor die Kamera, ich wollte lernen, wie man Filme macht, ich wollte hinter die Kamera. Als ich dann doch die Situation vor der Kamera kennen lernte, empfand ich das als ein extrem anstrengendes und extrem belastendes Arbeiten - und zugleich aber auch als ein extreme Glücksgefühle schaffendes Wachstums- und Entwicklungsfeld, in dem ich meine Authentizität erleben und auch testen konnte. Die Kamera ist wie ein gnadenloses Vergrößerungsglas. Künstliche, verkrampfte Menschen wirken noch viel künstlicher auf der Leinwand oder auf dem Bildschirm.

PiD: Wer sind die Leute, die sich dafür interessieren, ob die Schauspielerin X oder der Sänger Y mit dem und der liiert ist, oder beim Abendessen war oder in Urlaub fährt? Wen interessiert so etwas?

N. Ruge: Das interessante Phänomen ist, dass es seit 1989 eine Explosion der Peoplemagazine sowohl im Printbereich als auch im Fernsehbereich gegeben hat. 1989 startete das Privatfernsehen - und mit ihm kamen diverse US-Serien, Hollywoodfilme und Soapoperas zu uns. Die Menschen mussten nicht mehr ins Kino gehen und Eintritt bezahlen, um Stars zu sehen - die Stars kamen zu ihnen nach Hause. Je mehr von ihnen bekannt wurden, umso mehr stieg das Interesse daran, ein bisschen mehr über das Privatleben dieser Menschen zu erfahren. Mit dem Angebot an Stars kam die Nachfrage nach Peoplegeschichten, und die wurde gedeckt. Wir haben heute einen harten Verdrängungswettbewerb, und wir sind an dem Punkt angelangt, an dem jeder Sender sein Peoplemagazin hat, sein Boulevardmagazin, jeder Verlag hat ein, zwei oder drei entsprechende Printtitel, und je mehr die Konkurrenz zunimmt auf diesem Markt, desto mehr Futter brauchen diese Medien, desto stärker wird in der Gerüchteküche gebrutzelt, desto mehr werden auch Geschichten erfunden.
Heute sind Themen Themen, die noch vor 20 Jahren kein Thema gewesen wären. Das geht ja so weit, dass die Illustrierte „Die Aktuelle” Fußballstars rund um die Uhr beobachtete und Reporter vor deren Tür gestellt hat, weil sie damit tolle Titelgeschichten kreieren konnte. So haben sie auch die Rummenigge-Affäre aufgedeckt, indem sie einem anonymen Brief nachgegangen sind, den jemand aus dem Haus geschrieben hatte, in dem die Geliebte von Rummenigge wohnte. Dann hat die „Aktuelle” bei Rummenigge aufgrund eines anonymen Hinweises einen Reporter vor einer Münchner Tür platziert und festgestellt, dass Rummenigge dort tatsächlich täglich ein- und ausging - und schon hatte die Illustrierte ihren Skandaltitel „Die Geliebte”.

PiD: Welche Bedürfnisse werden damit befriedigt? Warum interessiert das die Leute?

N. Ruge: Das sind Stellvertreterbiografien. Da werden Ängste thematisiert - und so hofft der eine oder die andere insgeheim, durch das Darüberreden ein wenig davon verarbeiten zu können oder zumindest sich abzusetzen davon, Distanz zu gewinnen, nach dem Motto: „Ein Segen, dass mir das nicht passiert.” Die Angst von Frauen, von ihren Männern betrogen und verlassen zu werden - für eine Jüngere, Attraktivere, die Angst vor Trennung, aber auch das Sich-Weiden am Schicksal von anderen, die Sensationsgier … Im Grunde ist das ein Sich-immer-wieder-neu-Einordnen auf der Skala der Widrigkeiten oder der Glücksmomente des Lebens: Wo stehe ich, wo stehen andere, und ist es nicht auch gut, dass ich da überall nicht bin, nicht prominent bin.

PiD: Wer interessiert sich für Leute, die in einer völlig anderen Welt leben, die weit von mir und meiner eigenen Welt entfernt ist?

N. Ruge: Das sind moderne Märchen. Das ist der Grund, weshalb sich so viele für Königshäuser interessieren. Ich habe lange Jahre Kronprinzenhochzeiten live moderiert, das Thronjubiläum der britischen Königin, wir hatten immense Einschaltquoten. Ein solches Interesse kennen wir seit Menschengedenken: märchenhaft empfundene Familiensituationen und Biografien zu beobachten, in denen alles so viel leichter scheint, in denen das Leben so unfassbar luxuriös ist, das Elysium sozusagen. Das möchte man doch sehen, goldene Wasserhähne, Kaviar satt - auf der 100-Meter-Yacht möchte man mitreisen, das Privatflugzeug von John Travolta sehen - und natürlich, wie die reichen Kerle auch noch die Mädels vernaschen. Das ist Kino!

PiD: Wer sieht „Leute heute”?

N. Ruge: Da gibt es recht genaue Untersuchungen. Die Mehrheit unserer Zuschauer sind Frauen; die meisten über 50, viele mit nicht so hohem Bildungsstand, auch viele Arbeitslose und Rentner. Unser jugendlicher Anteil wächst aber. Wir haben ein ganz klares Credo: Wir sind kein Boulevardmagazin, sondern ein Peoplemagazin, und wir arbeiten mit klassischem journalistischem Handwerkszeug. Gerüchte werden als Gerüchte gekennzeichnet, Sex and Crime gibt es bei uns nicht, Sensationsgier bedienen wir nicht, und wir berichten mit einer gewissen Süffisanz, um immer wieder deutlich zu machen, dass unsere Themen nicht die Themen sind, die die Welt bewegen. Good to have, nice to have, aber wir sind wirklich nicht wichtig, Softnews. Selbstironie ist ein Muss in unserem Geschäft. Das Interessante allerdings ist, dass wir Marktführer geworden sind, und das trotz unserer wechselnden Anfangszeiten! Wir sind die einzige Sendung - wir sind ja nur so um die zehn Minuten lang - die heute um fünf nach halb sechs, morgen um 18.40 Uhr und übermorgen um 18.45 Uhr startet, und trotzdem haben wir sehr gute Einschaltquoten. Wir erklären uns das damit, dass wir ein glaubwürdiges Peoplemagazin sind, dass wir nicht über Brustumfang, Körbchengröße und Implantate berichten, sondern schlicht und einfach über das, was in der Welt der Society passiert.

PiD: Sie beenden Ihre Sendung jedes Mal mit einem „Alles wird gut”. Ist das eine Beschwichtigungsformel?

N. Ruge: Die drei Worte sind ein netter rosaroter Hoffnungspuschel am Ende - und haben etwas mit meiner Biografie zu tun. Zweimal habe ich im ZDF neue Sendungen gestartet, einmal „heute Nacht”, das ist die Nachtnachrichtensendung im ZDF gewesen, und später „Leute heute”. Zuvor saß ich sehr warm und sicher im „Heute Journal”. „heute Nacht” mussten wir mit einer dramatisch wechselnden Sendezeit starten. In der kurzen Zeit, die wir als Etablierungsphase zur Verfügung hatten, waren wir nicht so erfolgreich, wie es der Sender von uns erwartete. Und dann kam die klassische Situation, die ich bis dahin nicht erfahren hatte: Ein Journalist sagte mir ins Gesicht: „Wissen sie, wir haben sie fünf Jahre hochgeschrieben wie eine Tontaube; ist doch klar, dass wir sie jetzt abschießen”. So funktioniert das.
Summa summarum: „Alles wird gut” beinhaltet für mich, dass ich Krisen als Chance begreife. Wenn ich Lebensaufgaben, die ich mir selber suche oder die mir gestellt werden, annehme, auch in extrem negativen Phasen, und daran arbeite, die Ursachen zu erkennen, welchen Anteil ich selbst an ihrer Erzeugung hatte und bereit bin, daraus zu lernen, wenn ich das wirklich beherzige, dann gehe ich aus der Krise gestärkt hervor und dann wird alles gut.

PiD: Ich hatte mich gefragt, ob das vielleicht eine Beschwichtigungsformel für Neid derjenigen ist, die so weit weg von der Welt leben, aus der Sie berichten?

N. Ruge: Nein.

PiD: Denn für die ist ja nicht alles gut und wird auch nicht alles gut.

N. Ruge: Das ist keine Beschwichtigungsformel für Neidgelüste, sondern kommt natürlich mit einem kleinen Augenzwinkern daher. Es wäre schön, wenn ein bisschen mitschwingen würde: Egal wie viel Geld du hast und in welchen Umständen du lebst, Glück ist davon nicht ausschließlich abhängig. Wie oft ist die Quintessenz einer unserer Leute-heute-Berichte, dass Reichtum nicht glücklich macht. Natürlich ist das eine Binsenweisheit, aber sie ist wahr. Interessant ist, wie das Motto aufgenommen wird. Die positiven Anrufe, Briefe, E-mails überwiegen bei weitem. Das beschämt mich manchmal geradezu. Ich erlebe es immer wieder, dass mir Menschen auf der Straße ein „alles wird gut!” zurufen. Das heißt, die Chance, wahrzunehmen, die wir jeden Augenblick haben, nämlich das Leben positiv zu sehen, so billig das auch klingen mag. Dass so viele Menschen darauf reagieren, hätte ich nie gedacht, als ich diese drei Worte ans Ende der Sendung setzte.

PiD: Sie haben Germanistik und Biologie studiert und ein sehr gutes Examen gemacht. Dann waren sie einschließlich Referendariat sechs Jahre im Lehrerberuf. Was hat Sie bewogen, dem Lehrerberuf ade zu sagen und in die Medienwelt einzusteigen?

N. Ruge: Ich wollte zunächst unbedingt Filme machen, habe als Garderobiere angefangen. Ich hatte einfach große Lust dazu. Ich komme aus einer Generation, in der Karrieredenken überhaupt nicht angesagt war. Eigentlich wollte ich Kunst studieren, Fotografie und Grafik, bekam aber keinen Studienplatz. Dann habe ich halt die Fächer studiert, die mich auch sehr interessierten, wollte gar nicht Lehrerin werden. Ich strebte in den auswärtigen Dienst, und dann hieß es: „Sind Sie naiv, Sie haben ja keine Auslandserfahrung.” Naiv war ich, keine Frage. Allerdings, ich habe immer 180 % gegeben, und deshalb ist manches auch gelungen. Ich stand mit 23 vor der Schulklasse, fast ausschließlich Oberstufe. Die Schüler waren nur wenige Jahre jünger als ich. So lernte ich, was natürliche Autorität bedeutet in Abgrenzung zu autoritärem Verhalten. Von Schülertheater bis Filmprojekte - ich testete so viel es mir möglich war in diesem Beruf. Dann wollte ich mehr, wollte mich entwickeln, wollte ins Ausland oder Beratungslehrerin werden. Doch ich war schlicht und einfach zu jung - aus Behördensicht. Dann kam eine Suchphase, ich fing an, für den Hörfunk in Braunschweig zu arbeiten, habe nebenbei an einer Filmklasse in Braunschweig studiert, meine Stundenzahl an der Schule reduziert und dann in den Sommerferien als Garderobiere und später als Skriptgirl bei einem Roadmovie gearbeitet. Den Lehrerberuf hing ich an den Nagel, ging nach Berlin und arbeitete als Skript- und Regieassistentin. Aus Neugier landete ich später beim RIAS Fernsehen in Berlin. Ich wollte lernen, wie man Filmberichte macht.

PiD: Wenn Sie noch einmal wählen könnten, was würden Sie dann machen?

N. Ruge: Ich würde einfach immer die Chancen wahrnehmen, die sich mir bieten. Heute wären das andere.

PiD: Würden Sie wieder in die Medienwelt gehen?

N. Ruge: Weiß ich nicht. Kreativ und intellektuell zu arbeiten wäre auf jeden Fall mein Wunsch. Heute werden wir ja von den Spielregeln des medialen Massenkonsums dominiert. Qualitätsfernsehen wird jetzt auch politisch angegriffen. Ich denke an die Zukunft des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, das mit Arte und 3-Sat ein Programm anbietet, das Erkenntnisgewinn ermöglicht. Es sieht ja so aus, als ob die finanziellen Quellen, die wir unbedingt brauchen, um ein gutes Programm machen zu können, immer spärlicher tröpfeln. Da gehen die öffentlich-rechtlichen Anstalten harten Zeiten entgegen und damit auch das Qualitätsfernsehen.

PiD: Frau Ruge, haben Sie vielen Dank für dieses Gespräch.