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DOI: 10.1055/s-2004-828354
Narzissmus
Publication History
Publication Date:
08 September 2004 (online)
Das Bedürfnis, von anderen gesehen und anerkannt zu werden, hat nichts Krankhaftes, es ist konstitutives menschliches Faktum (Todorov 1998)[1]. Was wir das „Selbst” nennen, das Bild, das wir von uns selbst haben und wie wir zu uns selbst stehen, gründet darin, wie wir von anderen gesehen werden und wie andere sich uns gegenüber verhalten. Wer wir selbst glauben zu sein und das Gefühl für unseren eigenen Wert werden durch den Blick der anderen ständig bestätigt und immer neu konstituiert. Zu den charakteristischen Eigentümlichkeiten narzisstischer Störungen gehören die übermäßige Beschäftigung mit der eigenen Person sowie damit einhergehend die Geringschätzung anderer Menschen. In Anbetracht dieses Umstandes könnte man vielleicht erwarten, dass dem Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen in Verbindung mit dem Thema „Narzissmus” höchstens randständige Bedeutung beigemessen wird. Tatsächlich stellt sich bei genauer Lektüre der Beiträge in diesem Heft jedoch heraus, dass in allen Beiträgen in dem Verhältnis zu anderen in irgendeiner Weise ein zentrales Thema in Verbindung mit narzisstischen Störungen gesehen wird, auch wenn das nicht immer ausdrücklich ausformuliert wird. Insofern kann man wohl davon ausgehen, dass die Vertreter aller Richtungen, die sich hier zum Thema des Narzissmus äußern, darin überein stimmen, dass das Selbst nicht für sich und nicht aus sich heraus existiert, sondern seinen Ursprung im Verhältnis zu anderen hat und im Verhältnis zu anderen verankert ist. Diese interpersonelle Auffassung des Narzissmus stellt Altmeyer, der dies für die Psychoanalyse in Erinnerung gebracht und neu formuliert hat, ganz in den Vordergrund seines Beitrages. Weniger ausdrücklich zwar, aber dennoch deutlich kommt diese Auffassung aber in allen Beiträgen, in den verhaltenstherapeutisch orientierten ebenso wie in den Beiträgen von Autoren der systemisch und psychodynamisch orientierten Richtung zum Ausdruck, indem die Bedeutung der Beziehung zu anderen, deren Blick und deren Urteil in Verbindung mit narzisstischen Phänomenen betont wird. Narzisstische Störungen manifestieren sich nicht nur als pathologisches Selbstverhältnis, sondern ganz wesentlich auch als gestörtes Verhältnis zu anderen und mit anderen. Verena Kast stellt in ihrem Übersichtsbeitrag den Problemen der Selbstwertregulation und des Selbstwertgefühls solche der Bindung und der Beziehung an die Seite. Für den Psychoanalytiker Hohage spielt die Bearbeitung der Objektbeziehungen anhand der therapeutischen Beziehung bzw. der Übertragung eine zentrale Rolle in der Behandlung narzisstisch gestörter Patienten. Nicht minder wichtig sind interpersonelle Aspekte für die Verhaltenstherapeuten Arbter und Seipel, wie sie in ihrem Beitrag mit der Fokussierung auf die Therapeut-Patient-Interaktion deutlich machen. Auch Kilian betont in seiner Arbeit, dass die hohe Kränkbarkeit narzisstisch beeinträchtigter Patienten nicht nur als intrapsychisches Phänomen zu verstehen und zu behandeln ist, sondern letztlich in das jeweilige Beziehungssystem des Patienten mit anderen zu lokalisieren ist. Da aus der Sicht von Köllner das Selbst in der systemischen Therapie eindeutiger in interpersonellen Beziehungen - systemisch eben - verankert sei, sieht er eine größere Konvergenz mit einem aus verhaltenstherapeutischer Sicht reformulierten Selbstbegriff. Nicht zuletzt zeichnet sich die Bedeutung des Interpersonellen bei narzisstischen Störungen auch in den Ausschnitten aus den beiden klinischen Interviews ab, die Falck geführt hat.
Auch in den Arbeiten, die speziellen Fragen gewidmet sind, spiegelt sich wider, wie groß die Bedeutung der sozialen Lebenswelt, der zwischenmenschlichen Beziehungen bei Patienten mit narzisstischen Störungen ist. Die Kasuistik, die Götze schildert, führt eindrucksvoll die Krise eines narzisstischen Patienten im höheren Lebensalter dar, die im Suizid mündet; zugleich macht Götze deutlich, dass suizidale Krisen von Menschen im höheren Lebensalter nicht selten in Störungen des Selbstwertgefühls und der Selbstwertregulation, vor allem in Verbindung mit Verlusten und drohender sozialer Isolation gründen. In welchem Maße ständige Missachtung und Unterdrückung, denen ein Kind von Seiten seiner sozialen Umgebung in seiner Entwicklung ausgesetzt ist, unter Umständen katastrophale Folgen für die Selbstentwicklung haben, veranschaulicht die von Schott berichtete Kasuistik des jungen Mannes, der in einer forensischen Klinik untergebracht werden musste, nachdem sich seine narzisstischen Krisen schließlich in einer Gewalttat entladen hatten.
Und ganz in Konvergenz mit der Auffassung, dass interpersonelle Beziehungen für Patienten mit narzisstischen Störungen höchst bedeutsam sind, bewegt sich auch die Arbeit von Znoj, Regli und Ülsmann, wenn sie aus verhaltenstherapeutischer Sicht Aufgaben der Beziehungsgestaltung in der Behandlung in den Vordergrund stellen. Das trifft auch für Heidenreich und Noyon zu, indem sie bei Patienten mit narzisstischen Störungen darüber hinaus soziale Kompetenzdefizite sehen und für die Therapie spezifische Trainings sozialer Kompetenz empfehlen.
Und selbst noch die so ganz und gar individuelle, scheinbar nur der eigenen Person zugehörige Erlebenssphäre des eigenen Körpers ist nicht nur individuell, sondern auch sozial konstituiert und entsprechend störbar: Patienten, die mit dem Organ und durch das Organ eines anderen Menschen leben, müssen - so Decker, Lehmann, Winter und Brosig - erhebliche Probleme ihres Identitätsgefühl lösen und müssen ihre körperliche Identität mit dem fremden Organ neu finden. Der Beitrag von Aglaja Stirn lässt sich dahingehend verstehen, dass der eigene Körper immer auch ein sozialer Körper ist; Manipulationen am Körper, der für die Blicke der Öffentlichkeit zugänglich ist, können eingesetzt werden, um sich zu unterscheiden, um die Blicke der anderen auf sich zu ziehen und um damit das Selbstwertgefühl zu steigern. Aber ebenso wie Tattoos und Piercings nicht zwangsläufig auf narzisstische Bedürftigkeit verweisen, müssen - wie die Fernsehjournalistin Nina Ruge im Gespräch über Stars und Sternchen der Medienwelt meint - auch Menschen, deren Beruf permanente Selbstinszenierung zum Zweck des Erheischens anerkennender Blicke und öffentlicher Beachtung verlangt, nicht unbedingt narzisstisch bedürftige Menschen sein.
Ganz ausdrücklich tritt die Bedeutung der sozialen Welt in Verbindung mit dem Thema Narzissmus schließlich in den Beiträgen von Wirth und von Keupp in den Vordergrund, indem sich beide mit einer gesellschaftlichen Dimension von Narzissmus und narzisstischen Störungen beschäftigen, Wirth, indem er das selbstregulative und vor allem selbstwertbestätigende Potenzial politischer und wirtschaftlicher Macht betont, während bei Keupp letztlich die Frage aufgeworfen wird, wie weit der narzisstische Charaktertyp, der „Ichling”, gleichsam der Normaltypus moderner kapitalistischer Gesellschaften ist und welche Rolle der Psychotherapie in diesem Zusammenhang zukommt.
Wenn im Blick auf narzisstische Manifestationen in den verschiedenen Psychotherapierichtungen bei allen Unterschieden in ihrer therapeutischen Praxis somit Aspekte des sozialen Lebens und dessen Störungen in den Vordergrund gestellt werden, könnte das vielleicht ein Hinweis dafür sein, dass die verschiedenen psychotherapeutischen Richtungen dabei sind, ihren eigenen „Methodennarzissmus” immer mehr zu überwinden. Wie das tatsächlich aussehen kann, dafür gab es bei der diesjährigen Tagung in Baden-Baden eine hübsche kleine Szene: In einem der Workshops hatte eine Teilnehmerin gemeint, sie habe durch das Referat eines Vertreters einer anderen Therapierichtung ihre Vorurteile gegenüber dieser Therapierichtung bestätigt gesehen, und sie erläuterte vor der Öffentlichkeit des Workshops einige dieser Vorurteile, wie man das so oder so ähnlich schon viele Male meinte gehört zu haben. Aber dabei blieb es nicht; in der Pause im kleineren informellen Kreis begann eine intensive Diskussion, die sich dann auch in die Arbeitsgruppe hinein fortsetzte, und zwar zwischen denen, deren Auffassungen eben noch so scheinbar unüberbrückbar weit voneinander entfernt lagen; man erläuterte sich seine Kritik, die man an der jeweils anderen Richtung hatte, hörte sich zu, nahm einige Begriffe unter die Lupe, auf die man sich stützte, wurde nachdenklich, klärte sich - kommentiert von einigen „Ach-Sos” - wechselseitig auf, führte Gründe an, stellte derzeit nicht zu überbrückende Differenzen fest und vor allem - blieb im Gespräch miteinander. Kein vorschnelles Bemühen des in diesem Zusammenhang so häufig missbrauchten Begriffs „Integration”, der manchmal nicht viel mehr ist als ein Synonym für die mangelnde Bereitschaft, sich mit dem anderen Verfahren ernsthaft auseinander zu setzen. Unterschiede wurden deutlich gemacht, Differenzen diskutiert, auch einige Gemeinsamkeiten festgestellt. Hier wurde nicht vorschnell „integriert”, sondern versucht zu verstehen.
Der „Methodennarzissmus” ist auch nicht durch das Bemühen zu überwinden, abstrakte Metatheorien zu entwickeln, unter denen die verschiedenen methodischen Orientierungen bis zur Unkenntlichkeit verallgemeinert subsummiert werden. Das würde Differenzen und etwaige Unvereinbarkeiten mehr verschleiern als dass sie geklärt würden. „Überwindung des Methodennarzissmus” hieße wohl, in Rechnung zu stellen, dass das eigene Verfahren Grenzen hat, dass Psychotherapeuten auch anderer Therapierichtungen über Erfahrungen verfügen, die zur Diskussion der eigenen fachlichen, auch behandlungspraktischen Fragen Wichtiges beitragen können, ohne dass das deren kritische Überprüfung ausschließt und hieße schließlich, voneinander zu lernen und die andere Seite auch in ihrer Verschiedenheit anzuerkennen. Das scheint derzeit noch in ähnlich weiter Ferne zu liegen wie oftmals entsprechende Entwicklungsziele in der Behandlung von Patienten mit narzisstischen Persönlichkeitsstörungen. Aber so, wie die Behandlung von Patienten mit narzisstischen Persönlichkeitsstörungen ein oft zwar langwieriges, aber lohnendes Unterfangen sein kann, dürfte auch das Bemühen darum lohnen, den Narzissmus der Psychotherapieverfahren allmählich zu überwinden.
Ulrich Streeck
1 T. Todorov (1998): Abenteuer des Zusammenlebens. Versuch einer allgemeinen Anthropologie. Fischer, Frankfurt am Main.