Aktuelle Urol 2004; 35(2): 115-117
DOI: 10.1055/s-2004-829445
Qualitätsmanagement

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Leitlinienanwendung durch Ärzte - Wie wird sie möglich?

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Publication Date:
15 July 2004 (online)

 
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Wie andere Fachgesellschaften auch hat die Deutsche Gesellschaft für Urologie (DGU) seit 1999 Leitlinien entwickelt. Als Instrumente evidenzbasierter Medizin sollen Leitlinien nicht die ärztliche Erfahrung und die Patientenbezogenheit von Entscheidungen ersetzen. Vielmehr sollen die Empfehlungen auf Basis systematisch gesichteter Studien den Arzt bei der Auswahl der für den einzelnen Patienten besten Entscheidungsalternative unterstützen.

Gegenwärtig richtet sich das Augenmerk auf die Anwendung der entwickelten Leitlinien in Niederlassung und Krankenhaus. Der Arzt spielt dabei die zentrale Rolle, wenngleich auch pflegerische und therapeutische Bereiche eigenständige qualitätsnormierende und -erhebende Aktivitäten entfaltet haben. In welchem Maße und mit welchen Resultaten bisher Mediziner Leitlinien anwenden, ist ersten deutschen, vor allem aber ausländischen Studien zu entnehmen. Deren Erkenntnisse werden nachfolgend mit besonderem Bezug auf den ambulanten Sektor dargestellt.

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Ärzte mit Erfahrungen im Qualitätsmanagement setzen Leitinien zielbewusster ein und verbessern damit auch die Prozessqualität (Bild: Archiv).

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Umsetzung gelingt nur partiell

Pauschal ist festzustellen, dass die Erzielung von ärztlicher Leitlinienkonformität bislang nur partiell gelingt. Wo Leitlinien eingesetzt werden, führen diese dann aber auch überwiegend zu Verbesserungen insbesondere der Prozessqualität.

Der Einsatz von Leitlinien im Alltag wird durch 3 hauptsächlichen Umstände behindert:

  1. der Arzt kennt die Leitlinie nicht (v.a. wegen schlechter Information),

  2. 2. der Arzt kennt die Leitlinien zwar, aber kann sie nicht einsetzen (v.a. wegen ihrer Unverständlichkeit oder wegen nicht vorhandenen Bedingungen),

  3. 3. der Arzt kennt die Leitlinien und kann sie auch umsetzen, aber setzt sie oder Teile von ihr bewusst nicht ein (v.a. weil ihr Nutzen im Verhältnis zum Aufwand zu gering erscheint).

Empirisch entfallen auf den Punkt 1 teilweise über 50% aller Konformitätsdefizite. Die Relation der Ursachen 2. und 3. zueinander variiert stark nach Untersuchung, wobei 3. überwiegend eine geringere Rolle spielt.

Internationale Literaturbefunde deuten - bei vorsichtiger Interpretation aufgrund der Verschiedenheit der Gesundheitssysteme - darauf hin, dass die Leitlinienkonformität von der Stellung des Arztes im Gesundheitssystem wie auch von Alter und fachlicher Qualifikation abhängt. Derartige Faktoren sind nur teilweise seitens der Leitlinienherausgeber beeinflussbar. So werden Leitlinien eher angewendet durch jüngere Fachärzte in Gemeinschaftspraxen, bei hohem Interesse für das jeweilige Indikationsgebiet bzw. hohem Patientenaufkommen in der betreffenden Indikation sowie bei niedergelassenen Ärzten in großstädtischer Umgebung. Ärzte mit Erfahrungen im Qualitätsmanagement und/ oder evidenzbasierter Medizin setzen Leitlinien zielbewusster ein.

Befürchtungen, dass Leitlinienanwendung eine professionelle Bedrohung darstellt, die sich aus erhöhter Patientenferne oder Autonomieverlusten zeigen sich offenbar eher bei den Standesvertretern als bei den Praktikern. Die Einstellung gegenüber Leitlinien - das zeigt die Literatur - ist der vom Arzt wahrgenommene oder erwartete Nutzen, der sich aus der Befolgung der Leitlinie insbesondere für den Patienten ergibt.

Viele Ärzte lehnen Leitlinien vermutlich ab, weil nur ein kleiner Teil die Ziele, Logik und Begriffswelt evidenzbasierter Medizin kennt.

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Ärzte offen gegenüber Leitlinien

Erste empirische Ergebnisse lassen vermuten, dass deutsche Ärzte durchaus einer evidenzbasierten, praxisnahen Aufbereitung von Wissen in Form von Leitlinien offen gegenüberstehen. Eine eigene empirische Untersuchung bei Ärzten in neurologischen Kliniken zeigt, das die gegenwärtig relativ unvoreingenommene Haltung sogar mit möglicherweise zu optimistischen Erwartungen einhergeht. Allerdings lehnen viele eine Verpflichtung zur Anwendung ab - vermutlich auch deshalb, weil nur ein kleiner Teil der Ärzte die Ziele, Logik und Begriffswelt evidenzbasierter Medizin kennt. Diese Kluft zwischen den Leitlinienherausgebern und -adressaten gilt es zu verringern. Ohne dieses Wissen können sich gemeinsame und realistische Erwartungen vom Nutzen einer Leitlinie nicht entwickeln. Dies dürfte nur längerfristig und vor allem dann gelingen, wenn eine Leitlinie als eines von mehreren Instrumenten zum Qualitätsmanagement verstanden wird.

  • Eine Aufgabe von Leitlinienherausgebern wie -anwendern besteht darin, die Wirkungen von Leitlinien möglichst unvoreingenommen zu erfassen und zu bewerten. Konkrete Erhebungen der Prozess- und Ergebnisqualität können zeigen, inwiefern patientenbezogene Erfolge erreicht wurden. Der Nachweis, etwas an Strukturen, Abläufen und vor allem Ergebnissen verbessert zu haben, erscheint ohnehin wichtiger als der wissenschaftliche Effektivitätsbeweis für Leitlinien. Ein Klima des vertrauensvollen Ansprechens von Problemen, auch von (ethischen) Entscheidungskonflikten, unterstützt die Leitlinienanwendung und -weiterentwicklung. Es muss möglich sein, die Strukturqualität und Vergütungen aufgrund von Leitlinien zu thematisieren:

  • Inwiefern ist der Arzt und das nichtärztliche Personal für die Umsetzung einer Handlungsempfehlung qualifiziert?

  • Entspricht auch die interne und externe Kooperation diesen Anforderungen?

  • Welche (finanziellen) Anreize verhindern oder befördern die Leitlinieneinhaltung?

Bei der Leitlinienerstellung, -verbreitung, -anwendung und -evaluation ist sicherzustellen, dass die Leitlinienanwendung die bisher defensive Rolle des Arztes im Sinne der Orientierung auf das Erkennen und Lösen akuter Gesundheitsprobleme nicht noch verstärkt, indem er nun zum Regelbefolger degradiert wird. Gerade der Leitlinieneinsatz im Rahmen der Integrierten Versorgung oder Disease-Management-Programme bietet Chancen, Ärzten und Angehörigen anderer Gesundheitsberufe proaktive Rollen und Aufgaben bei der Gestaltung der Rahmenbedingungen der Versorgung zuzuweisen. Niedergelassene Ärzte in Fach- bzw. Qualitätszirkeln und mit guten kollegialen fachlichen Kontakten sind hier im Vorteil.

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Leitlinien in den Alltag integrieren

Bereits durch gute inhaltliche und methodisch-didaktische Aufarbeitung können Leitlinienherausgeber die Chancen ihrer Anwendung erhöhen. Allerdings ist seitens der Leitlinienautoren erforderlich, einmal entwickelte Leitlinien an die Ärzte heranzutragen. Umfangreiche Untersuchungen zur Implementierung zeigen: Die bloße Publikation (Artikel, Bücher, Internet, Fachvorträge) genügt nicht. Die Einordnung von Leitlinien in den Arbeitsalltag geschieht wirksam dort, wo Fach-, Methoden- und Sozialkompetenz der potenziellen Anwender gleichermaßen angesprochen und gefördert werden.

Am effektivsten sind interaktive Fortbildungen (v.a. Workshops) sowie kombinierte Maßnahmen in der Arbeitswelt der Leitlinien-Adressaten (Audit, Reminder, Feedback, Konsensrunden). Interaktiv bedeutet u.a., praktisch relevante Konfliktfelder (etwa leitliniengegensätzliche Patienteninteressen) zu diskutieren und Möglichkeiten des Umgangs mit diesen Konflikten zu vermitteln. Hier kann z.B. kommuniziert werden, inwiefern vom Mediziner eine Informierung oder Beeinflussung der Patienten erwartet wird und ob ihm ggf. weitere Ansprechpartner (z.B. Informations- oder auch Beschwerdestellen) zur Verfügung stehen. Aus ärztlicher Sicht ist das Hauptargument für Leitlinienanwendung der Patientennutzen, der dem Leitlinienanwender z.B. mittels wissenschaftlicher Studien, aber auch durch Erfahrungsberichte konkret dargestellt werden kann. Schließlich sollte die Leitlinienimplementierung dort beginnen, wo die geringsten Vorbehalte erwartet werden können. Dies ist v.a. dort der Fall, wo positive Erfahrungen mit evidenzbasierter Medizin bestehen, ein Bedarf an strukturierten Empfehlungen bereits erkannt wurde, die in Leitlinien behandelten Themen bzw. Entscheidungsfelder wenig komplex sind und die Handlungsempfehlungen in das jeweilige Praxisregime passen (v.a. erforderlicher Veränderungsaufwand).

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Verständnis erhöhen

Oftmals verhindert der wissenschaftlich-theoretische Blick der Leitlinienautoren ihr Verständnis in der Praxis. Zu bedenken ist, dass die Vorstellungen von Qualität grundsätzlich wie auch bezogen auf ein konkretes Versorgungsproblem interindividuell verschieden sind, was den Verständigungsprozess über Sinn und Zweck einer Leitlinie erschweren kann. Die wechselseitige Aufdeckung von Qualitätsvorstellungen und Entscheidungsgründen kann helfen, Routinen bewusst zu machen und Hemmnisse für leitlinenkonformes Handeln in der Arbeitswelt aufzudecken und auszuräumen. Deshalb muss es im Interesse der Autoren sein, Praxispartner (Chefärzte und andere Multiplikatoren) zu finden, die aufgrund ihres Einflusses, ihres Wissens und didaktischen Fähigkeiten inder Lage sind, die Leitlinienempfehlungen den potenziellen Anwendern zielführend zu erörtern. Es sollte möglich sein, sich begründet gegen Leitlinien oder einzelne Empfehlungen zu entscheiden, jedoch einmal beschlossene Leitlinienanwendung auch konsequent zu prüfen und zu fördern.

Anreize zu leitlinienkonformen Verhalten (z.B. als Sondervergütungen in Verträgen neuer Versorgungsformen) sollten hinreichend den Gestaltungsspielraum des Arztes berücksichtigen. Positiv oder negativ sanktioniert werden darf nur, was vom Mediziner als Anreizadressaten auch wirklich beeinflussbar ist. Die mit den Anreizen beabsichtigten Ziele sollten den Adressaten gegenüber offen gelegt sein.

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Umsetzung ist begrenzt

Bei aller Sympathie für Leitlinien darf nicht vergessen werden: Ihre Ausrichtung am Entscheidungsunterstützungsbedarf des Arztes findet ihre Grenze dort, wo es um komplexe Entscheidungen geht. In Leitlinien können nur die - teilweise in der Praxis bereits routinierten - typischen Fall-Situations-Konstellationen abgebildet werden. Kritisch ist vor und im Verlauf der Leitlinienanwendung zu fragen, inwiefern in welchen Entscheidungsfeldern welche Ärzte überhaupt einen Hilfebedarf aufweisen. Analysen der Versorgungsvarianz bei gleichen Leistungen (z.B. Medikation) können hierbei ebenso aufschlussreich sein wie Fehleranalysen (z.B. Komplikationsraten) oder die Analyse von Abläufen (z.B. im Rahmen der Entwicklung von klinischen Pfaden).

Beachtenswert ist, dass der Entscheidungshilfebedarf je nach Sektorenzugehörigkeit bei ein und demselben Entscheidungsproblem variieren kann. Vor allem Leitlinienherausgeber sind gefordert, verschiedene Leitlinien mit gleichen Themen (national) zu harmonisieren und Lösungsvorschläge für medizinisch und epidemiologisch miteinander verbundene Versorgungsprobleme (z.B. Hypertonie - Diabetes - kardiovaskuläre Erkrankungen und Schlaganfall) aufeinander abzustimmen. Bei regionalen Disparitäten hinsichtlich vorhandener Versorgungsstrukturen (z.B. Land-Stadt-Differenzen) sind Leitlinienherausgeber gefordert, diese entweder in den Leitlinien zu berücksichtigen, auf eine Änderung der Versorgungsstrukturen politisch oder praktisch (z.B. durch Modellverträge) hinzuwirken oder auf das entsprechende Handlungsfeld in der Leitlinie ganz zu verzichten. Diese Problematik verschärft sich mit Blick auf chronisch Kranke, deren Versorgung im Rahmen von Disease-Management-Programmen entsprechend der gesetzlichen Vorgaben leitliniengerecht erfolgen soll. Nicht nur fehlende oder widersprüchliche Evidenzlagen oder Multimorbidität, sondern auch das langfristige Zusammenwirken mehrerer Akteure lässt fragen, wie Entscheidungsfelder derart zu definieren sind, dass sie in Leitlinien gefasst werden können. Ausländische Erfahrungen wie auch der Leitlinienmanual der AWMF sprechen hier stark für eine Priorisierung der Leitlinienentwicklung und -aktualisierung.

Uwe Hasenbein, Magdeburg, Jutta Räbiger, Berlin

 
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Ärzte mit Erfahrungen im Qualitätsmanagement setzen Leitinien zielbewusster ein und verbessern damit auch die Prozessqualität (Bild: Archiv).