Aktuelle Urol 2004; 35(3): 181
DOI: 10.1055/s-2004-829476
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© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Klinische Evaluationsstudie im Netzwerk Intersexualität

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Publication Date:
03 August 2004 (online)

 
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Bei Intersexualität besteht eine Diskrepanz zwischen dem chromosomalen Geschlecht, den inneren Geschlechtsorganen und dem Erscheinungsbild der äußeren Geschlechtsorgane. Bei ca. 50% der Fälle ist die genaue Ursache der untypischen Geschlechtsentwicklung nicht bekannt. Aufgrund der Heterogenität der Ursachen und auch der Erscheinungsbilder fehlen genaue epidemiologische Daten über die Häufigkeit. Schätzungen gehen davon aus, dass etwa 1 von 2000 Menschen von leichteren Formen der Intersexualität und etwa 1/10 000 Menschen von schwereren Formen der Intersexualität betroffen sind. Frühere Behandlungsansätze wie die ”optimal gender theory“ nach Money postulierten eine frühe Zuweisung des Erziehungsgeschlechtes und eine entsprechende frühzeitige Operation, um die Geschlechtsdeterminierung eindeutig festzulegen. Teil des Paradigmas der ”optimal gender theory“ ist die Verheimlichung der Intersexualität gegenüber dem betroffenen Kind oder Jugendlichen.

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Ein Paradigmenwechsel deutet sich an

Diese Behandlungsdoktrin wird in den letzten Jahren von verschiedenen Seiten kritisch hinterfragt, insbesondere von betroffenen Menschen. Diese Bedenken haben zu einer breiten Diskussion innerhalb der Medizin und in der Öffentlichkeit geführt. Es zeichnet sich ein Paradigmenwechsel ab von der möglichst optimalen Erscheinung eines Menschen hin zur möglichst großen Lebenszufriedenheit. Da es sich bei der untypischen Geschlechtsentwicklung um ein seltenes Erscheinungsbild handelt, existieren Defizite sowohl im Bereich der Versorgung als auch in der Forschung. Das Versorgungsnetz ist noch nicht so geknüpft, dass alle betroffenen Menschen eine zufrieden stellende Betreuung erhalten.

Das Versorgungsnetz ist noch nicht so geknüpft, dass alle betroffenen Menschen eine zufriedenstellende Betreuung erhalten.

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Netzwerk soll Leitlinien entwickeln

Seit Oktober 2003 wird das ”Netzwerk Intersexualität“ im Rahmen des Programms ”Seltene Erkrankungen“ vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert. Fachleute aus den verschiedenen medizinischen Disziplinen (z.B. Kinderchirurgie, Pädiatrische Endokrinologie, Urologie, Gynäkologie, Genetik, Sexualmedizin) haben sich im ”Netzwerk Intersexualität“ zusammen- geschlossen, um im Rahmen von grundlagenwissenschaftlicher und klinischer Forschung, evidenzbasierte Leitlinien für Diagnostik, Therapie und den Umgang mit den Betroffenen zu entwickeln. Entsprechend der ”Deklaration von Helsinki“ werden auch Selbsthilfegruppen und Elterninitiativen in den Planungsprozess einbezogen. In einer multizentrischen, klinischen Beobachtungsstudie soll neben dem medizinischen Outcome insbesondere ein Schwerpunkt auf die funktionellen Endpunkte der medizinischen und chirurgischen Behandlung sowie auf die Aspekte der gesundheitsbezogenen Lebensqualität und der Behandlungszufriedenheit gelegt werden. Um auf eine breite Datenbasis zurückgreifen zu können, richtet sich die klinische Evaluationsstudie an Menschen aller Altersgruppen mit einer untypischen Geschlechtsentwicklung und deren Familien. Die Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer werden anhand standardisierter Fragebögen von Psychologinnen und Psychologen im persönlichen Kontakt befragt.

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Evaluation beginnt im September

Für eine detaillierte Erfassung der medizinischen Daten wird im Rahmen von Expertenbefragungen aus den verschiedenen medizinischen Breichen ein entsprechender Fragebogen entwickelt. Dieser soll von dem behandelnden Arzt bzw. der behandelnden Ärztin nach einer Schweigepflichtsentbindung bearbeitet werden.

Die Befragungen im Rahmen der Klinischen Evaluationsstudie werden im September 2004 beginnen. Das Netzwerk Intersexualität ist offen für weitere Interessierte aus sowohl der Kinder- als auch der Erwachsenenurologie. Das gemeinsame Ziel ist die Verbesserung der Situation der Betroffenen aller Altersgruppen in Diagnostik, Therapie, allgemeiner gesundheitlicher und psychosozialer Versorgung und gesellschaftlichem Respekt.

PD Dr. med. Ute Thyen, Dipl.-Psych. Eva Kleinemeier

Klinik für Kinder- und Jugendmedizin

Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck

Homepage: www.netzwerk-is.de

Literatur bei den Autoren

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Info

Intersexualität

Bei Störungen der somatosexuellen Differenzierung handelt es sich um eine heterogene Gruppe von Besonderheiten der Geschlechtsentwicklung. Die häufigsten der bekannten Ursachen für eine untypische Geschlechtsentwicklung sind das Adrenogenitale Syndrom (AGS), die Androgeninsensitivität (AIS) oder die Gonadendysgenesie. Neben Bezeichnungen wie untypische Geschlechtsentwicklung und Störung der somatosexuellen Differenzierung wird häufig der Begriff ”Intersexualität“ als Vereinfachung und Kurzform verwendet.

 
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