Der Klinikarzt 2004; 33(6): 162-166
DOI: 10.1055/s-2004-829859
In diesem Monat

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Grundlage für die Entwicklung neuer Therapiestrategien -Aktuelle Aspekte zur Pathophysiologie der Sepsis

Basis for the Design of New Therapeutic Strategies - Current Aspects of the Pathophysiology of SepsisN. Chr. Riedemann1 , Chr. Krettek2
  • 1Mit Unterstützung des Deutschen Kompetenznetzwerkes Sepsis (SepNet) (BMBF, Förderkennzeichen: 01 KI 0106)
  • 2Unfallchirurgische Klinik, Medizinische Hochschule Hannover (Klinikdirektor: Prof. Dr. Chr. Krettek)
Weitere Informationen
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Anschrift für die Verfasser

Dr. Niels Christoph Riedemann

Unfallchirurgische Klinik, Medizinische Hochschule Hannover

Carl-Neuberg-Str. 1

30625 Hannover

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
01. Juli 2004 (online)

Inhaltsübersicht #

Zusammenfassung

Seit fast 40 Jahren beschäftigt sich die Forschung intensiv damit, die Pathophysiologie der Sepsis besser zu verstehen und Ansätze für eine mögliche Behandlung zu definieren. Mit Ausnahme von einer Form von aktiviertem Protein C (APC) scheiterten alle zuvor durchgeführten Behandlungsversuche an septischen Patienten spätestens in den Phase-II- und -III-Studien.

Die Behandlungsansätze umfassten dabei ein ungewöhnlich breites Spektrum. Trotz des ersten Erfolges mit aktiviertem Protein C sind die immunologischen Veränderungen, die zu den septischen Symptomen von Patienten führen, nur ungenügend gut verstanden. Auch die Wirkweise von aktiviertem Protein C ist bislang nicht im Detail bekannt. Allgemeine Übereinkunft herrscht darüber, dass gewisse komplexe Systeme (Komplementsystem, Gerinnung, Akutphase-Proteine) sowie verschiedene proinflammatorische Schlüsselmediatoren (z.B. HMGB-1, MIF, TNFα, IL-6, C5a und andere) für die Entwicklung der Sepsis eine bedeutende Rolle spielen. Die Schwierigkeit liegt jedoch besonders darin, die Interaktion dieser Systeme, Zytokine und Proteine zu verstehen. Der folgende Artikel beschäftigt sich kritisch mit ausgewählten neuen Aspekten der Pathophysiologie im Anfangsstadium der Sepsis und beschreibt mögliche neue Behandlungsansätze und deren Hintergrund.

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Summary

For more than thirty years now, there have been attempts to treat sepsis with various different strategies, most of them pursuing anti-inflammatory concepts. Ever since, researchers have been struggling to obtain a better understanding of the pathophysiology of sepsis. With exception of a recombinant form of activated protein C (APC) all other clinical trials have failed to demonstrate significant benefits in larger phase II and III trials. Despite the first success with activated protein C, research is far from understanding the immunological changes leading to the clinical symptoms of sepsis, and even the mechanism by which activated protein C provides beneficial effects is not known so far. There is general agreement that various complex systems (complement system, coagulation, acute phase serum proteins) and certain key mediators (e.g. HMGB-1, MIF, IL-6, TNFα, C5a and others) play an important role for the onset of sepsis. It appears to be particularly difficult to understand how these complex systems and mediators interact and influence each other. The following article critically discusses selected aspects of pathophysiological changes during the onset of sepsis and describes emerging potential targets for the treatment of sepsis.

Sepsis ist noch immer eine der häufigsten Todesursachen auf Intensivstationen, trotz der nun über 30-jährigen Geschichte der klinischen Studien an septischen Patienten. Erstaunlicherweise steigt nach neueren Forschungen die Sepsis-Inzidenz. In den USA wird diese mit Steigerungsraten zwischen 1,5 und 8 % pro Jahr angegeben [1] [12].

Ursprünglich hat Hugo Schottmüller die Sepsis als Reaktion des Organismus auf eine Infektion definiert, wobei zunächst kein genaueres Keimspektrum beschrieben werden konnte. In der Zeitspanne von 1970 bis Ende 1980 waren gramnegative Erreger die am häufigsten festgestellte Ursache einer bakteriellen Sepsis. Interessanterweise gewannen dann zu Beginn der 90er Jahre grampositive Erreger die Oberhand [12]. Im gleichen Zeitraum nahmen die nachgewiesenen Pilzinfektionen um über 200 % zu. Diese und andere Entwicklungen lassen bereits vermuten, dass unsere Immunantwort einem Wandel unterzogen ist. Vor allem auch äußere Faktoren scheinen sie zu beeinflussen. All dies findet in einem andauernden Wandel im Schwerpunkt des Erregerspektrums Ausdruck.

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Wie kommt Sepsis zustande?

Eine globale Antwort auf diese Frage ist nicht möglich, da die Sepsis vor allem durch klinische Symptome definiert ist, aber eine Endstrecke unterschiedlicher Ausgangsproblematiken darstellt. Typische dynamische Phasen der Immunantwort, wie sie im Tierexperiment nachvollzogen werden können und auch für die bakterielle Sepsis beim Menschen beschrieben wurden, finden sich in der Klinik oft nicht. So kann es vorkommen, dass Patienten, die anderweitig immungeschwächt sind (z.B. nach einem Trauma), keine hyperdyname Kreislaufreaktion zeigen, sondern klinisch direkt in eine instabile hypodyname Kreislaufphase übergehen.

Daher sind die Entwicklungsstadien der Sepsis nicht einfach zu definieren, sie hängen vielmehr von der jeweiligen Fähigkeit des Organismus zur Immunantwort ab. In dieser Erkenntnis liegt vermutlich das größte Problem bei dem Versuch, septische Patienten mit verschiedenen antiinflammatorischen Strategien zu therapieren. Denn diese entspringen einem definierten Modell und setzen zumeist eine intakte Immunantwort voraus. Neben der kontinuierlichen Weiterentwicklung und Erforschung neuerer Behandlungsansätze wird daher vermutlich die Entwicklung von diagnostischen Werkzeugen, die es eher erlauben, den Status der Immunantwort einzuschätzen (z.B. Phagozytosefähigkeit neutrophiler Granulozyten, H2O2-Produktion), die Behandlungschancen septischer Patienten verbessern können.

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Konzepte der Sepsisbehandlung beim Menschen

Die Bemühungen, in die oft fatal endenden pathophysiologischen Veränderungen der Sepsis einzugreifen, gehen fast 40 Jahre zurück. Damals wurden die ersten Versuche mit hoch dosiertem Kortison durchgeführt. Anschließend wurden überwiegend antiinflammatorische Konzepte verfolgt. Diese gingen von der Überlegung aus, dass es während der Sepsis zu einer dramatischen Überaktivierung der Immunantwort kommen musste, die es zu bremsen galt. Konzepte, die versuchten, die Abwehrfunktionen des Organismus zu stärken, blieben die Ausnahme. Tabelle 1 fasst die unterschiedlichen Konzepte zusammen, die im Detail an anderer Stelle beschrieben wurden [16].

Oft gab es zunächst erfolgversprechende kleinere Studien mit einem neuen Konzept. Ging es aber um die Bestätigung der Ergebnisse in Phase II oder III, zeigten sich alle Konzepte - mit Ausnahme des aktivierten Protein C - als statistisch nicht signifikant in ihrer vermuteten Wirkung. Warum? Der vielleicht wichtigste Grund liegt in der großen Schwierigkeit, das septische Patientenkollektiv und damit die Einschlusskriterien für die Studien genau zu definieren. Zudem korreliert der Erfolg einer antiinflammatorischen Therapie direkt positiv mit dem Schweregrad der Sepsis [7], was im Tiermodel gezeigt und in retrospektiven Literaturanalysen klinischer Studien bestätigt werden konnte. Diese Erkenntnis trifft auch auf das aktivierte Protein C zu, das momentan nur für schwere Fälle (APACHE[1]-Score ≥ 25) zugelassen ist und neben koagulationsfördernden Effekten auch regulierend auf die Inflammation einwirkt.

Als weitere Gründe für das Scheitern von klinischen Studien sind zu nennen:

  • Ansätze, die auf nichtvaliden Tiermodellen (z.B. Lipopolisaccharidinfusion) oder falschen Annahmen basierten

  • Antikörper, die in späteren Analysen keine hemmende Aktivität in vitro zeigten (so geschehen bei anti-TNFα-Therapie)

  • möglicherweise falsch gewählter Zeitpunkt der therapeutischen Intervention

  • falsch gewählte Dosis.

Letzteres wird derzeit bei der Therapie mit Glukokortikoiden deutlich, die als Hochdosistherapie scheiterten. In jüngster Zeit jedoch macht die Substanzgruppe als Low-dose-Therapie wieder von sich reden [2].

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Neue Mediatoren der Sepsis

Im Folgenden werden einige pathophysiologische Vorgänge erläutert, wie sie während der experimentellen Sepsis im Tierversuch beobachtet und beschrieben wurden. So können andere schädigende Einflüsse wie beispielsweise ein Gewebe-Trauma oder eine Verbrennung sehr ähnliche Veränderungen hervorrufen und in der gemeinsamen Problematik eines nicht mehr aktiven Immunsystems enden.

Es sei darauf hingewiesen, dass die folgenden Ausführungen auf Ergebnissen in definierten Tiermodellen basieren. Noch ist nicht bei allen geklärt, inwieweit die Veränderungen auch beim Menschen stattfinden. Schon zwischen Nagetiergruppen - wie Maus und Ratte - kann es zu erheblichen Schwankungen beispielsweise von Zytokinproduktion und Serumwerten kommen. Im Allgemeinen muss man davon ausgehen, dass das Entwicklungsstadium der Sepsis beim Menschen eine längere Zeitspanne einnimmt als zum Beispiel bei Nagetieren.

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Zunächst wird das Komplementsystem aktiviert

Im Frühstadium der bakteriellen Sepsis kommt es zur Aktivierung von Mechanismen, die darauf abzielen, die eingedrungenen Erreger möglichst effektiv zu beseitigen. Dabei bedient sich das Immunsystem sowohl zellgebundener adaptiver als auch zellungebundener angeborener Mechanismen. Letztere sind in der frühen Entwicklungsphase der Sepsis besonders wichtig und effektiv.

Schon wenige Minuten nach dem Eindringen von Bakterien in den Organismus wird das Komplementsystem aktiviert. Es besteht im Wesentlichen aus neun Hauptfaktoren und vielen Kofaktoren im Serum, die im Rahmen einer Reaktionskaskade aktiviert werden, was die Abspaltung von starken Anaphylatoxinen (C3a und C5a) sowie die Bildung des terminalen „membrane attack complex” (MAC) zur Folge hat. Letzterer führt zur Porenbildung im Bakterium und damit zu dessen Lysis [Abb. 1].

Eine Aktivierung des Komplementsystems kann auf drei unterschiedlichen Wegen stattfinden:

  • klassisch, durch C1q über Antigen-Antikörper-Komplexe

  • über den Lectin-Weg, bei dem mannosebindendes Lectin (MBL) bakterielle Zuckeroberflächen erkennt (mithilfe von MBL-verbundenen Serin-Proteasen (MASP) erfolgt dann die C2-Aktivierung)

  • alternativ, mit direkter C3-Aktivierung durch fremde Oberflächen wie zum Beispiel Lipopolysaccharide (LPS).

Es gibt immer mehr Hinweise in der Literatur, dass das Komplementsystem, und hier besonders das Spaltprodukt C5a und dessen Rezeptor C5aR eine Schlüsselrolle in der Entstehungsphase der experimentellen Sepsis inne hat [6] [14]. So ist C5a ein extrem starker chemotaktischer Reiz für Granulozyten. Gleichzeitig führt es zur Produktion von Sauerstoffradikalen in Phagozyten, zur Erhöhung der Gefäßpermeabilität, zur Kontraktion der glatten Muskulatur und zur Regulation der Adhäsionsmolekülexpression auf Endothelzellen [Abb. 2]. Außerdem nimmt C5a eine bedeutende regulierende Rolle ein für die Produktion von proinflammatorischen Zytokinen in neutrophilen Granulozyten - speziell im Zusammenspiel mit Lipopolysacchariden [13].

Doch nicht nur das Komplementsystem, auch das Gerinnungssystem wird im Falle einer Sepsis bereits früh aktiviert. Auch aktivierte Gerinnungsfaktoren weisen starke proinflammatorische Eigenschaften auf, und es besteht eine enge Interaktion zwischen Inflammation und Gerinnungssystem. So existiert unter anderem auch eine Interaktion mit dem Komplementsystem, da C5a direkt die Gerinnung fördert ([Abb. 2]; [11]).

Bei der Aktivierung der Gerinnungskaskade bindet Thrombin an Thrombomodulin auf der Oberfläche von Endothelzellen und aktiviert danach Plasmaprotein C. Dieses wiederum wirkt in seiner aktivierten Form im Beisein des Kofaktors Protein S als proteolytischer Inhibitor der Gerinnungsfaktoren Va und VIIIa. Aktiviertes Protein C ist damit ein Kontrollmechanismus, der eine überschießende Gerinnung stoppt. Zudem hat die Substanz auch eine profibrinolytische Wirkung, da sie den Plasminogen-Aktivator-Inhibitor-1 (PAI-1) hemmt. Septische Patienten zeigten in Untersuchungen deutlich verminderte Plasmaprotein-C- und Protein-S-Werte, sowie eine Abnahme von Thrombomodulin auf Endothelzellen.

Neben den gerinnungsregulierenden Eigenschaften wirkt aktiviertes Protein C auch antiinflammatorisch, indem es die Synthese proinflammatorischer Zytokine wie Interleukin(IL)-6 oder Tumornekrosefaktor(TNF)a hemmt und die Adhäsion neutrophiler Granulozyten inhibiert. Ein weiterer antiinflammatorischer Effekt besteht in der Endothelzellprotektion [17]. Aus all diesen Eigenschaften von aktiviertem Protein C wird deutlich, dass eine Therapie vor allem mit Blutungskomplikationen behaftet sein kann.

Nach der Aktivierung von Komplement und Gerinnung kommt es zu einer raschen Produktion von proinflammatorischen Zytokinen - vor allem in phagozytischen Zellen, Epithelzellen und Endothelzellen [Abb. 2]. Einige dieser Mediatoren scheinen dabei eine besondere Rolle inne zu haben, da ihre Elimination mit Antikörpern zu Beginn der Sepsis zur dramatischen Überlebensverbesserung bei Versuchstieren führt, wie zum Beispiel IL-6 [15], TNFa [3] [18] und „macrophage-migration inhibitory factor” (MIF) [4]. IL-6 und TNFa sind dabei Mediatoren, die noch in den ersten Stunden der Sepsisentwicklung produziert werden, gefolgt von MIF.

In den letzten Jahren konnte gezeigt werden, dass C5a aber auch TNFa und IL-6 eine ambivalente Rolle spielen: Geringe Konzentrationen dieser Mediatoren im Serum scheinen einen positiven Effekt für das Überleben des erkrankten Organismus zu haben. Höhere Konzentration dagegen führen zu einer deutlichen Abnahme der Überlebenswahrscheinlichkeit.

Diese Mediatoren sind zusammen mit vielen anderen Zytokinen verantwortlich für eine Vielzahl proinflammatorischer Effekte. Sie erhöhen die Gefäßpermeabilität, was zu Gefäßleckage und zu Ödemen führt, sie führen zur Kontraktion glatter Muskulatur, sie fördern die Aktivität von Phagozyten (vor allem die Produktion von Sauerstoff-Radikalen, die Phagozytose und die Produktion von Entzündungsmediatoren), was bei überschießender Reaktion mit Gewebsschädigung einhergeht; sie fördern und regulieren die Expression von Adhäsionsmolekülen auf Endothelzellen, was ebenfalls zur vermehrten Aktivierung von Granulozyten beiträgt; und sie fördern im Sinne einer positiven Rückkopplung teilweise auch ihre gegenseitige Produktion in verschiedenen Zelltypen.

Ein interessanter Regelkreis konnte erst kürzlich beschrieben werden: Im Beisein von C5a wird IL-6 vermehrt produziert. Im Frühstadium der Sepsis ist IL-6 selbst jedoch maßgeblich verantwortlich für eine starke Zunahme der Expression von C5aR auf verschiedenen organgebundenen Zellen, und dies wiederum hat eine Zunahme der Empfindlichkeit dieser Zellen gegenüber C5a zur Folge.

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Interessante Mediatoren in der Spätphase

„High mobility group B1” (HMGB1) ist ein zelluläres Protein, das bereits seit 30 Jahren bekannt ist. Als zellkernbindendes Protein reguliert es unter anderem die Gentranskription. HMGB1 spielt jedoch auch im späteren Stadium der Sepsis eine wichtige Rolle: So konnte eine Hemmung von HMGB1 auch noch in der Spätphase einer im Tierexperiment ausgelösten Sepsis das Überleben bei Nagetieren signifikant verbessern (19).

HMGB1 wirkt über die Bindung an RAGE („receptor for advanced glucated endproducts”) und hat ähnliche proinflammatorische Effekte wie oben für andere Zytokine beschrieben. Erhöhte Werte finden sich auch im Serum septischer Patienten. Eine Blockade dieses Moleküls ist daher klinisch von großem Interesse, da eine Inhibition der meisten zuvor beschriebenen Mediatoren im Tierexperiment nur in den ersten Stunden einen positiven Effekt auf das Überleben hat.

Lymphozyten sind Zellen der adaptiven Immunität, die ebenfalls im späteren Entwicklungsstadium der Sepsis von Bedeutung sind - vor allem bei der Produktion von Antikörpern. Hierbei spielen angeborene und adaptive Immunität keine getrennten Rollen, da beide über verschiedenste Signalmechanismen miteinander verbunden sind [Abb. 2]. Einige Mediatoren, wie vor allem auch TNFa, sind bekannte Induktoren des programmierten Zelltodes (Apoptose). Dies macht sich während der Sepsis bemerkbar: Es kommt zur vermehrten Apoptose von Lymphozyten, während neutrophile Granulozyten länger als normal im Blut zirkulieren.

Verhindert man diese Lymphozyten-Apoptose während einer experimentellen Sepsis - so eine aktuelle Studie -, geht dies mit einer deutlich verbesserten Überlebensrate einher [9] [10]. Vor allem Caspase-Inhibitoren könnten daher eine interessante Therapieoption sein [8]. Ähnliches wurde auch für die Inhibition der Epithelzell-Apoptose im Intestinum nachgewiesen [5]. Interessanterweise wurde vor kurzem beschrieben, dass es bei septischen Patienten selektiv zur Apoptose von CD4+- und B-Zellen kommt, während natürliche Killerzellen und auch CD8+-Lymphozyten nicht davon betroffen sind. Natürlich hat die ungerichtete Inhibition der Apoptose gefährliche Nebeneffekte (z.B. unkontrolliertes Zellwachstum), sodass derzeit eine sorgfältige präklinische Evaluation durchgeführt wird.

Im Rahmen einer sich aufschaukelnden Entzündungsreaktion kommt es auch zur Produktion von antiinflammatorischen Zytokinen, die dem Geschehen entgegenwirken und so eine Balance wiederherstellen. Zudem sind einige der positiven Rückkopplungsmechanismen zeitlich limitiert. Dann setzt eine Refraktärphase ein, in der die Produktion von weiteren Zytokinen stark vermindert ist. Funktionieren diese Mechanismen harmonisch und nicht überschießend, kann das Primärziel der Elimination von Bakterien erreicht werden - mit einem akzeptablen Maß an Eigengewebsschädigung und einer Restaktivität der angeborenen Immunität, die dafür sorgt, dass zu diesem Zeitpunkt auch eine erneute Attacke von Bakterien noch abgewehrt werden kann.

Bei einer überschießenden Reaktion des Immunsystems kann es zu einer verlängerten und stärker ausgeprägten Phase der Immundepression kommen, welche mit eingeschränkten oder auch komplett aufgehobenen Abwehrfunktionen des angeborenen Immunsystems einhergeht. In dieser Phase sind insbesondere die Phagozytosefähigkeit von Phagozyten und auch die Abwehrfunktionen von neutrophilen Granulozyten außer Kraft gesetzt. Die Produktion von Entzündungsmediatoren kann dann zum Erliegen kommen, und Abwehrsysteme des Immunsystems können nicht mehr greifen. Dies alles hat zur Folge, dass der Organismus extrem anfällig wird für Infektionen, die dann nicht mehr adäquat abgewehrt werden können und im septischen Multiorganversagen enden.

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Fazit

Die pathophysiologischen Vorgänge im Frühstadium der Sepsis sind nur ansatzweise in definierten Tiermodellen untersucht. Ob diese Veränderungen bei der Entstehung der Sepsis beim Menschen in gleicher Weise ablaufen, ist bislang nicht bekannt. Durch die Ergebnisse mit aktiviertem Protein C hoffen wir heute, septische Patienten besser behandeln zu können - auch wenn die genauen Wirkmechanismen dieser Therapie noch nicht verstanden sind. Offensichtlich scheinen antiinflammatorische Strategien immer dann besonders gut zu greifen, wenn sie bei besonders schweren Fällen Einsatz finden. Auch diese Beobachtung ist nicht geklärt.

Die Bemühungen bei der Herstellung von neuen Therapien sollten die möglichst genaue Kenntnis des Wirkmechanismus sowie auch das bessere Verständnis der Pathophysiologie der Sepsisentstehung zum Ziel haben. Offensichtlich ist die Beeinträchtigung wesentlicher Abwehrfunktionen des Organismus ein auslösendes Element für das Überhandnehmen einer Infektion. Doch wie kann der Status des Immunsystems eines Patienten bestimmt werden? Eine essenzielle Verbesserung der Therapiechancen wird daher vermutlich mit der Entwicklung von Screeningmethoden einhergehen, die es dem Arzt erlauben, sich ein Bild über den Immunstatus seines Patienten zu machen, um dann gezielt eine gegebenenfalls antiinflammatorische Therapie einzuleiten. Die in diesem Artikel genauer dargestellten Mediatoren der Sepsisentstehung könnten dabei therapeutische Angriffspunkte von klinischem Interesse sein.

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Abb. 1 Die Komplementproteine (C1-C9) werden in einer Aktivierungskaskade dargestellt, die zur Bildung der Anaphylatoxine C4a, C3a und C5a sowie zum porenbildenden „membrane attack complex” (C5b-C9) führen. Sowohl der klassische als auch der Lectin-Weg benötigen C2 und C4, inklusive des „mannose binding lectins” (MBL) und der „MBL-associated serine proteases” (MASP1-3) im Lectin-Weg bzw. von C1q, C1r sowie C1s im klassischen Weg, während der alternative Aktivierungsweg nur C3 benötigt - inklusive der Kofaktoren Faktor D (D) und Properdin (P)

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Abb. 2

Tab. 1 Ziele und Strategien der Sepsisbehandlung in klinischen Studien

Immunmodulation

  • Glukokortikoide (Hemmung der Immunaktivierung)

  • IVIG (= i.v. Immunglobuline, Verbesserung der Immunität)

Endotoxin (LPS)

  • Anti-LPS-Antikörper (Elimination von LPS mit verschiedenen AK)

  • BPI (bactericidal/permeability increasing protein)

  • Hämofiltration (LPS-Elimination)

TNFα

  • TNFa-Antikörper (Elimination von TNF mit verschiedenen Antikörpern)

  • löslicher TNF-Rezeptor (TNF-Inhibition durch Kompetition)

IL-1

  • IL-1-Rezeptor-Antagonist (IL-1-Wirkungsabschwächung)

PAF

  • Phospholipase-A2-Antagonist (Reduzierung von PAF)

  • PAF-Antagonist

  • PAF-Acetylhydrolase (PAF-Inaktivierung)

Bradykinin

  • Bradykinin-Antagonist

Arachidonsäure-Metabolite

  • Prostaglandin (PG) E1 und gebundenes PGE1 (antiinflammatorisch)

  • Thromboxan-Inhibitor (antiinflammatorisch)

  • Ketokonazol (Thromboxan-Synthetase-Inhibitor)

  • Ibuprofen (Cyclooxygenase-Hemmung)

Sauerstoffradikale

  • N-Acetylcystein (Verbesserung des zellulären Oxidationsschutzes)

  • Selenium (seleniumabhängige Glutathionperoxidase fungiert als Sauerstofffänger)

NO

  • L-NAME (NOS-Inhibitor)

  • L-NMMA (iNOS-Inhibitior)

  • Methylenblau (Guanylylcyclase-Inhibitor)

  • PHP (NO-Fänger)

Phosphodiesterase

  • Pentoxyfyllin (Phosphodiesterase-Inhibitor, cAMP-Anstieg)

Granulozytenaktivierung

  • IFNγ (Wiederherstellung von Neutrophilen-Immun-Funktionen)

  • G-CSF, GM-CSF (Vermehrung von immunkompetenten Zellen)

  • PGG-Glukan (Erhöhung der Phagozytose und des „bacterial killing”)

Komplementsystem

  • C1-Inhibitor (Hemmung der klassischen und Lectin-Aktivierung)

Koagulation

  • AT III (Hemmung von Thrombin, Faktor IXa, Xa und XIa, XIIa)

  • TFPI (Hemmung von Faktor X and IX)

  • APC (Inaktivierung der Faktoren Va and VIIIa)

IVIG = intravenöses Immunglobulin G

PHP = pyridoxyliertes Hämoglobin-Poly-oxyethylen- Konjugat

LPS = Lipopolysaccharid

PAF = plättchenaktivierender Faktor

G(M)-CSF = Granulozyten(Monozyten)-Kolonie stimulierender Faktor

PGE1 = Prostaglandin E1

NO = Stickstoffmonoxid

PGG = poly-(1-6)-β-Glukotriosyl-(1-3)-β-Glukopyranose

NOS = Stickstoffmonoxidsynthase

cAMP = zyklisches Adenosinmonophosphat

TFPI = „tissue factor plasminogen inhibitor”

L-NAME = N-Nitro-L-Arginin-Methyl-Ester

APC = aktiviertes Protein C

L-NMMA = N(G)-Monomethyl-L-Arginin

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Literatur

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  • 19 Wang H, Bloom O, Zhang M. et al. . -1 as a late mediator of endotoxin lethality in mice.  HMG Science. 1999;  285 248-251

1 acute physiology and chronic health evaluation

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Anschrift für die Verfasser

Dr. Niels Christoph Riedemann

Unfallchirurgische Klinik, Medizinische Hochschule Hannover

Carl-Neuberg-Str. 1

30625 Hannover

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1 acute physiology and chronic health evaluation

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Dr. Niels Christoph Riedemann

Unfallchirurgische Klinik, Medizinische Hochschule Hannover

Carl-Neuberg-Str. 1

30625 Hannover

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Abb. 1 Die Komplementproteine (C1-C9) werden in einer Aktivierungskaskade dargestellt, die zur Bildung der Anaphylatoxine C4a, C3a und C5a sowie zum porenbildenden „membrane attack complex” (C5b-C9) führen. Sowohl der klassische als auch der Lectin-Weg benötigen C2 und C4, inklusive des „mannose binding lectins” (MBL) und der „MBL-associated serine proteases” (MASP1-3) im Lectin-Weg bzw. von C1q, C1r sowie C1s im klassischen Weg, während der alternative Aktivierungsweg nur C3 benötigt - inklusive der Kofaktoren Faktor D (D) und Properdin (P)

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Abb. 2