psychoneuro 2004; 30(7): 393-400
DOI: 10.1055/s-2004-831085
Schwerpunkt

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Symptomatische Therapie der Multiplen Sklerose

Thomas Henze1 [*]
  • 1Klinik am Regenbogen, Fachklinik für Neurologische Rehabilitation, Nittenau
Further Information
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Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Thomas Henze

Klinik am Regenbogen

Fachklinik für Neurologische Rehabilitation

Eichendorffstr. 21

93149 Nittenau

Email: t.henze@klinikamregenbogen.de

Publication History

Publication Date:
04 August 2004 (online)

Table of Contents #

Zusammenfassung

Die symptomatische Therapie ist neben der Immunmodulation und Immunsuppression ebenfalls wichtiger Baustein im Gesamtbehandlungskonzept der Multiplen Sklerose (MS). Ihre Ziele sind die Beseitigung oder Reduktion von Krankheitssymptomen, die die funktionellen Fähigkeiten der Betroffenen und ihre Lebensqualität beeinträchtigen, ebenso die Vermeidung sekundärer Schäden und damit weiterer Funktions- und Fähigkeitsstörungen. Die Behandlungsempfehlungen für einzelne Symptome der MS sind z.T. unübersehbar zahlreich, sodass klare und im Konsens erfahrener Neurologen entwickelte therapeutische Strategien dringend erforderlich sind. Diese werden im vorliegenden Beitrag, ausgehend von den soeben fertig gestellten Konsensusempfehlungen der MSTKG-Symptomatische Therapie der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft dargestellt.

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Summary

Besides immunomodulation and immunosuppression symptomatic treatment of multiple sclerosis (MS) is another important part of an overall therapeutic concept. Its goals are the elimination or - at least - the reduction of symptoms which impair the functional abilities and quality of life of the patients, as well as the avoidance of secondary damage. Treatment recommendations for the particular symptoms of MS are immense. Therefore clear and consensually developed therapeutic strategies are strictly needed. This paper will review some of the recommendations which just now had been generated by the Multiple Sclerosis Treatment Consensus Group (MSTCG) of the German MS Society.

Die Möglichkeiten der Behandlung von Symptomen der MS [Tab. 1] wurden in den vergangenen Jahren zwar deutlich verbessert. Diese Behandlung ist allerdings aus mehreren Gründen noch immer nicht ausreichend:

  • einige Symptome sind immer noch wenig bekannt (z.B. Fatigue) oder werden von Patienten und behandelnden Ärzten nicht in direkte Verbindung mit der MS gebracht (z.B. verschiedene Schmerzarten bei MS)

  • viele der zur Verfügung stehenden Medikamente sind für die Indikation „Multiple Sklerose” oder die Therapie spezieller Symptomenkomplexe nicht untersucht oder zugelassen

  • es besteht keine längere Zeiträume umfassende Dokumentation des individuellen Krankheitsverlaufes und der ggf. bereits versuchten Therapien

  • bislang existierten nur für wenige Symptome evidenz-basierte oder im Rahmen eines Expertenkonsensus entwickelte Behandlungsvorschläge.

Andererseits kann oftmals auf umfangreiche Erfahrungen von langjährig mit der Therapie der MS vertrauten Ärzten und Kliniken zurückgegriffen werden. Kürzlich wurden deshalb Leitlinien zur Symptomatischen Therapie der MS entwickelt, in dem die bestehenden Evidenzen und die Therapieerfahrungen von langjährig mit der MS-Therapie befassten Neurologen im Sinne einer Experten-Empfehlung zusammengestellt sind (42). Wichtig ist es dabei zu vermeiden, dass viele offenkundig wirksame, jedoch nicht evidenz-basierte Behandlungsmöglichkeiten im Rahmen von „off-label”-Regelungen künftig entfallen und damit erhebliche therapeutische Lücken entstehen. Zu einer umfassenden symptomatischen Therapie gehören auch eine effektive Rehabilitation sowie die palliative Therapie schwerkranker MS-Patienten. Diese beiden Bereiche können hier aus Platzgründen jedoch nicht dargestellt werden.

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Spastik

Spastik führt leicht zu einer ausgeprägten Beeinträchtigung körperlicher Funktionen und damit von Alltagsfähigkeiten, insbesondere zu erheblicher Einschränkung der Mobilität. Der Muskeltonus kann permanent (tonische Spastik) oder intermittierend (phasische Spastik) gesteigert sein. Letztere ist zudem nicht selten sehr schmerzhaft. Folgen der Spastik sind oft Kontrakturen sowie eine erschwerte Blasenentleerung und Intimpflege (z.B. bei Adduktorenspastik).

Therapieziele sind das Erlernen spastikvermeidender Techniken in Bezug auf Haltung, Lagerung und Transfer, die Verbesserung motorischer Funktionen unter Berücksichtigung einer oft wichtigen Stützfunktion der Spastik, Schmerzreduktion, ggf. Erleichterung pflegerischer Maßnahmen sowie die Vermeidung von Komplikationen (Kontrakturen, Dekubitalulzera). Ihre Therapie umfasst - neben der Vermeidung und Behandlung spastikauslösender Faktoren wie urogenitale Infekte, Störungen der Magen-Darm-Funktion, Schmerzen, etc. - zahlreiche physiotherapeutische Techniken und orale sowie parenterale Medikamente. Als ultima ratio kommen operative Methoden zum Einsatz, alternativmedizinische Methoden sind kaum evaluiert.

Die Physiotherapie ist die Basis jeglicher Spastik-Therapie. Am häufigsten werden die Verfahren nach Bobath, Vojta sowie die propriozeptive neuromuskuläre Fazilitation (PNF) angewandt. Wichtig sind dabei eine ausreichende Intensität und Häufigkeit (29). Neben diesen „konventionellen” Physiotherapie-Techniken kommen zunehmend auch apparative Methoden zur Anwendung, insbesondere Laufbandtraining mit Körpergewichtsentlastung und motorgetriebene Fahrräder zur Durchführung passiver und aktiver Tretbewegungen (24).

Passive Maßnahmen wie spezielle Lagerungen zur Dehnung spastischer Muskeln, regelmäßiges Bewegen aller wichtigen Gelenke, Benutzung dynamischer oder statischer Schienen sowie von Airsplints reduzieren den erhöhten Muskeltonus. Mit Eis- und Kältebehandlungen ist ebenfalls eine Tonusverminderung möglich (34).

Bei der medikamentösen Therapie ist die flexible Gabe von Antispastika wichtig. Da die Spastik gelegentlich paretische Extremitäten „stabilisieren” kann, sollte sie in einem solchen Fall nicht gänzlich ausgeschaltet werden. Medikamentös werden vor allem Baclofen und Tizanidin eingesetzt (u.a. 56, 62), seltener Dantrolen und Tolperison. Benzodiazepine haben einen guten antispastischen Effekt, sind aber auf Grund ihrer unerwünschten Wirkungen allenfalls Reservemedikamente (44, 60). Die Wirksamkeit von Gabapentin insbesondere bei der phasischen Spastik ist ebenfalls belegt (8), die Substanz ist in Deutschland allerdings nicht für diese Indikation zugelassen.

Cannabis-Präparate (siehe auch Beitrag von Neuhaus) können zu einer Besserung des Gehvermögens sowie einer subjektiven Schmerzreduktion führen, ein direkter antispastischer Effekt war bislang jedoch nicht sicher nachweisbar (70). Ihr Einsatz kann daher derzeit nur im Rahmen von Studien oder in Einzelfällen durch MS-Therapeuten mit großer Erfahrung empfohlen werden.

Botulinumtoxin A ist vor allem bei lokaler Spastik, z.B. ausgeprägter Adduktoren-Spastik indiziert. Bisherige Studien haben den Wert dieser Therapie zweifelsfrei belegt (27, 63). Auch diese Behandlung ist zumindest derzeit in Deutschland „off label”, der Arbeitskreis Botulinumtoxin e.V. der DGN empfiehlt sie auf Grund der vorliegenden Daten jedoch.

Auch die kontinuierliche Applikation von intrathekalem Baclofen mittels einer implantierbaren Pumpe ist bei schwerer und ansonsten therapieresistenter Spastik wirksam. Die Therapie führt zu einer deutlichen Reduktion des Muskeltonus sowie der Häufigkeit spontaner Muskelspasmen (35). Auf Grund der Gefahr auch schwerwiegender Komplikationen wie Muskelschwäche, Bewusstseinsstörungen, Infektionen oder Katheterdislokationen ist jedoch eine regelmäßige fachkundige Betreuung erforderlich.

Die intrathekale Gabe von Triamcinolon-Acetonid-Kristallsuspension ist zukünftig eventuell ein weiterer Weg zur Therapie einer spinalen Spastik, nachdem jüngst gezeigt werden konnte, dass hiermit eine Verlängerung der Gehstrecke sowie eine Verbesserung im EDSS nachweisbar sind und ernste Nebenwirkungen nicht auftraten (25). Auch diese Therapie sollte allerdings nur innerhalb von Studien oder in Kliniken mit besonderer Erfahrung erfolgen.

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Müdigkeit („Fatigue”)

Als Fatigue wird die z. T. stark behindernde, abnorme körperliche und kognitive Ermüdbarkeit bezeichnet, an der bis zu 75 % aller MS-Patienten im Krankheitsverlauf leiden. Wärme verschlechtert die Beschwerden oft; sie können eine wesentliche Einschränkung der Lebensqualität darstellen. Die Fatigue kann mit Hilfe mehrerer Skalen quantifiziert werden (33). Die Behandlung zielt auf eine Minderung der subjektiven Behinderung und die möglichst uneingeschränkte Teilnahme am Alltagsleben.

Die Behandlung der Fatigue umfasst vor allem Kühlung, körperliches Training, Rehabilitations- sowie medikamentöse Maßnahmen. Auch sollten andere Ursachen des Symptoms, z.B. Depression, Hypothyreose oder sedierende Medikamente, ausgeschlossen werden. Kühlung des Körpers oder der Gliedmaßen durch Kühlelemente, kühle Bäder oder externe Klimatisierung ist oft wirksam und rasch verfügbar. Entsprechende Untersuchungen berichten deutliche Verminderungen der „Fatigue” nach Kühlung über ca. 30-45 Minuten mit einer Dauer der Effekte über maximal wenige Stunden (43). Auch körperliches, insbesondere aerobes Training bessert das subjektive Befinden deutlich und führt zu nachweisbaren körperlichen Trainingseffekten (39).

Zur medikamentösen Therapie werden Amantadin, 4-Aminopyridin, 3,4-Diaminopyridin und Modafinil eingesetzt. Amantadinsulfat führt dabei zu moderaten Verbesserungen der subjektiven Ermüdbarkeit bei insgesamt guter Verträglichkeit, ist allerdings für diese Indikation bislang nicht zugelassen. 4-Aminopyridin (4-AP) wurde gegenüber 3,4-Di-Aminopyridin (3,4-DAP) als wirksamer bei der Verbesserung temperaturabhängiger MS-Symptome beschrieben (47). Die therapeutische Breite ist eher gering. Handelspräparate sind in Deutschland nicht verfügbar. 4-AP und 3,4-DAP-Kapseln können aber auf ärztliche Einzelverordnung von einem Apotheker zur Therapie angefertigt werden, wobei die schriftliche Aufklärung des Patienten erforderlich ist. 4-AP ist offenbar bei wärmeabhängigen motorischen Funktionsstörungen wirksam, insbesondere bei hohen Serumspiegeln (>30 ng/ml) (53). Auch für Modafinil, ein alpha-adrenerges Medikament zur Behandlung der Narkolepsie, wurden erste positive Erfahrungen berichtet (50, 71).

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Schmerzen

Relevante Schmerzzustände sind bei MS-Patienten sehr häufig (29 %-86 %). Andererseits werden sie von den Patienten oft nicht spontan berichtet, so dass sie gezielt erfragt werden sollten. Schmerzen bei MS sind klinisch außerordentlich unterschiedlich und lassen sich in vier Kategorien unterteilen:

  • Schmerz als direkte Folge der MS: akute Optikusneuritis, Kopfschmerz bei Herd im Hirnstamm oder Halsmark; paroxysmale Syndrome (Trigeminus- u.a. Neuralgien, paroxysmale Dyskinesien mit schmerzhafter Muskelverkrampfung: tonische Hirnstammanfälle, Lhermitte-Zeichen); chronische schmerzhafte Dys- und Parästhesien, pseudoradikuläre Schmerzen, Thalamusschmerz

  • Schmerz als indirekte Folge von MS-Symptomen: Gelenk-/Muskelschmerzen infolge Fehlhaltung; Spastik, Kontrakturen, chronisch-dystrophe Syndrome, Druckläsionen; Dekubitus; viszerale Schmerzen (Blasenstörungen, Obstipation); periphere Nervenläsionen (Fehlhaltung, ungeeignete Hilfsmittel)

  • Schmerzen unter medikamentöser Therapie: Beta-Interferone, Glatiramerazetat

  • MS-unabhängige Schmerzen: „Rückenschmerz” (multifaktoriell, oft indirekte MS-Folge); degenerative Knochenerkrankungen; Osteoporose, periphere Neuropathien, primäre Kopfschmerzen.

Schmerzen sollten hinsichtlich Dauer, Intensität, Begleiterscheinungen, möglicher Auslöser und angewandter Therapien dokumentiert werden, die Schmerzintensität kann mittels einer visuellen Analogskala abgeschätzt werden. Ziel der Behandlung ist die Reduktion der Schmerzen und der hierdurch bedingten Beeinträchtigung von Mobilität, Leistungsvermögen und seelischer Belastung sowie Besserung der Lebensqualität.

Therapie der Schmerzen bei MS:

  • Schmerz als direkte Folge der MS: Bei der akuten Retrobulbärneuritis ist die hochdosierte Kortikosteroid-Infusion nach den Empfehlungen der MSTKG Therapie der Wahl (41). Zur symptomatischen Behandlung der Trigeminusneuralgie und der sekundären paroxysmalen Dyskinesien mit schmerzhafter Verkrampfung der Extremitätenmuskulatur (tonische Hirnstammanfälle): s. Abschnitt „Paroxysmale Symptome”. Chronische Schmerzen als direkte MS-Folge manifestieren sich meist als unangenehme „brennende” Dysästhesien an Extremitäten und Rumpf, oft bilateral und asymmetrisch. Diese neuropathischen Schmerzen werden am besten mit trizyklischen Antidepressiva und Antikonvulsiva behandelt, während Serotonin-Reuptake hemmende Antidepressiva (SSRI) eher schlecht wirksam sind (61). Positive Berichte liegen auch zu Lamotrigin (7), ebenso für Topiramat, Amantadin und Gabapentin (55) vor. Für letzteres besteht eine Zulassung bei neuropathischen Schmerzen. Morphin ist bei zentralen Schmerzen zwar wirksam, wird aber von den Patienten nur selten als Langzeittherapie akzeptiert (3). Auch eine lokale Anwendung von Capsaicin (61) kann erwogen werden

  • Schmerz als indirekte Folge der MS: Ursächlich handelt es sich vor allem um fehlhaltungsbedingte Überlastungen von Gelenken und Muskeln, so dass eine intensive Physiotherapie zum Erlernen alternativer Strategien sowie die Optimierung der Hilfsmittelversorgung bedeutsam sind. Ergänzend kommt ggf. - vor allem bei Schulterschmerzen - die Ultraschallbehandlung bei kalzifizierter Tendinitis in Betracht (46). Die medikamentöse Therapie dieser Schmerzsyndrome erfolgt am besten nach den Empfehlungen der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AKDÄ) zur Behandlung der Schmerzen bei degenerativen Gelenkerkrankungen (www.akdae.de /35/10Hefte/87_Gelenkerkran kungen_2001_2Auflage.pdf).

Bei Schmerzen und schmerzhaften Sensibilitätsstörungen in Folge peripherer Druckläsionen ist ebenfalls die Anpassung vorhandener Hilfsmittel erforderlich. Zur Vorbeugung eines Dekubitus müssen Fehlhaltungen vermieden sowie ggf. die Lagerung optimiert werden.

Schmerzen durch therapeutische Maßnahmen beziehen sich auf lokale Schmerzen nach subkutan injizierten Beta-Interferonen bzw. Glatiramerazetat und können oft durch Kälte-Applikation vor und nach Gabe sowie eine optimale Injektionstechnik gebessert werden. Grippeähnliche Symptome bei der Interferontherapie mit Muskelschmerzen erfordern die Gabe von Paracetamol, Ibuprofen, anderen nicht-steroidalen Antirheumatika oder niedrigdosiertem Cortison (51). Bei Zunahme von Kopfschmerzen unter der Therapie erfolgt eine Optimierung der Attackenkupierung bzw. die Einleitung einer Prophylaxe nach DGN-Leitlinien.

Primär MS-unabhängige Schmerzen und Zweiterkrankungen: „Rückenschmerzen” kommen multifaktoriell bei bis zu 39 % der MS-Patienten in Folge von Immobilisation, Muskelverspannungen, Fehlhaltungen, Spastik der Rückenstrecker und auch degenerativen Wirbelsäulenveränderungen vor. Auch hier ist die Physiotherapie mit Haltungs- und Transferschulung sowie Tonusregulierung und die Verordnung geeigneter Hilfsmittel besonders wichtig, ggf. ist auch die Akupunkturmassage wirksam (16), während für die transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS) divergierende Daten vorliegen (37). Bei pseudoradikulären Schmerzen ist zunächst die entsprechende Differentialdiagnostik erforderlich. Nicht alle Schmerzen dürfen „automatisch” auf die MS zurückgeführt werden.

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Blasenfunktionsstörungen

Neurogene Blasenfunktionsstörungen (BFS) treten im Verlauf der Erkrankung bei bis zu 80 % aller MS-Betroffenen auf und schränken deren Lebensqualität erheblich ein (siehe auch Beitrag von Flachenecker). Selten einmal sind sie sogar erste oder einzige Manifestation einer MS. Man unterscheidet

  • die Detrusor-Hyperreflexie (spastische Blase) mit eingeschränkter Speicherfunktion und imperativem Harndrang, erhöhter Miktionsfrequenz und Inkontinenz als häufigster Form

  • die Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie mit Harndrang, verzögerter Blasenentleerung, Harnretention und Inkontinenz, sowie

  • die Blasen-Hyporeflexie mit unvollständiger Blasenentleerung und erhöhtem Restharn-Volumen.

BFS sind häufige Ursache rezidivierender Harnwegsinfekte sowie von Schlafstörungen durch Nykturie, ebenso von Blasen- und Unterbauchschmerzen mit assoziierter Spastik. Sie münden zumeist in eine Detrusorhyperreflexie mit obstruktiver Komponente.

Die Basisdiagnostik beinhaltet ein Miktionstagebuch, Retentionswerte, Urostix, Mikrobiologie, regelmäßige Restharn-Bestimmungen, ergänzend die Uroflowmetrie und Urosonographie der harnableitenden Organe, ggf. auch die Urodynamik. Diese ist vor allem bei der Erstdiagnostik einer BFS mit Inkontinenz und/oder deutlich erhöhten Restharn-Werten, bzw. auffälliger Uroflowmetrie, sowie zur Abschätzung des Risikos schon bestehender oder zu erwartender Sekundärschäden indiziert. Immer sollte die enge Zusammenarbeit mit einem erfahrenen Urologen angestrebt werden.

Therapieziele sind die Verbesserung der Speicherfunktion der Blase, ihre möglichst vollständige Entleerung, die Normalisierung der Miktionsfrequenz und die Wiederherstellung der Kontinenz und damit die Vermeidung von Komplikationen: rezidivierende Harnwegsinfekte, Schädigung der oberen Harnwege wie Urosepsis, Nierensteinbildung, eingeschränkte Nierenfunktion.

Grundlagen der Therapie sind die Aufklärung des Patienten über die Art der BFS sowie etwaige Komplikationsmöglichkeiten, die Notwendigkeit einer gleichmäßigen Verteilung der Trinkmenge auf den Tag (²2L/Tag), individuell geplante Miktionsintervalle, Vermeidung einer Verzögerung der Miktion bei Harndrang, ggf. Blasen- (52) oder Toilettentraining (13), ebenso die Beratung über Hilfsmittel wie Einlagen, Tropfenfänger, Windeln, Kondomurinale, etc.

Die Physiotherapie beinhaltet vor allem Beckenbodentraining, das eine Reduktion des imperativen Harndrangs und der Inkontinenz, nicht jedoch eine Verbesserung urodynamischer Untersuchungsparameter bewirkt (22). Auch die Kombination mit elektrischer Muskelstimulation ist wirksam (66). Mehrmals tägliche sakrale Stimulation mit TENS-Geräten führt zu einer deutlichen Reduktion von Harndrang und Inkontinenzepisoden. Auch mittels maximaler intraanaler/vaginaler Elektrostimulation können deutliche klinische und urodynamische Besserungen erzielt werden (48). Beim Vergleich TENS vs. Oxybutynin ist letzteres wirksamer (64).

Zur medikamentösen Behandlung stehen Anticholinergika und Alpha-Blocker, das antidiuretische Hormon zur Verringerung der Nykturie sowie Antibiotika zur Therapie akuter Harnwegsinfekte, ebenso auch Substanzen zur Vermeidung von Infekt-Rezidiven zur Verfügung.

Die detrusordämpfende Wirkung von Oxybutynin und Tolterodin ist dabei gut belegt (22). Anticholinerge Nebenwirkungen scheinen nach Tolterodin und Trospiumchlorid im Vergleich zu Oxybutynin geringer ausgeprägt. Für Propiverin wurde bei Dosierungen bis 45 mg/d ein positiver Effekt bei Detrusor-Hyperreflexie nachgewiesen, bei im Vergleich zu Oxybutynin ebenfalls geringeren anticholinergen Nebenwirkungen. Auch ZNS-Nebenwirkungen sind unter Trospiumchlorid und Tolterodin geringer als bei unretardiertem Oxybutynin.

Sphinkterhemmende Alphablocker wie Alfuzosin oder Tamsulosin können vor allem bei gleichzeitiger Detrusorhyperreflexie einen erhöhten Blasenauslasswiderstand senken. Die Datenlage ist hier allerdings widersprüchlich. Nur Phenoxybenzamin ist für die Therapie neurogener BFS zugelassen. Antispastika wie Baclofen sind hier lediglich Medikamente 2. Wahl.

Desmopressin, das antidiuretische Hormon, reduziert die Miktionsfrequenz bei Nykturie (26). Allerdings müssen Nieren- und Herzfunktion auf Grund möglicher Volumenbelastung intakt sein, eine Dosis von 20 μg intranasal sollte nicht überschritten werden. Die Substanz ist für die primäre Enuresis nocturna zugelassen.

Harnwegsinfekte sollten, da zumeist chronisch rezidivierend, nach Antibiogramm und ausreichend lange (mindestens 10 Tage) behandelt werden. Die Differenzierung einer Bakteriurie von einem signifikanten Infekt ist oft nur mittels Nachweis von Leukozyturie, Leukozytose oder Erhöhung der BSG und/oder des C-reaktiven Proteins möglich. Aufgrund kurzer Urinverweildauer in der Blase kann das Nitrit falsch negativ sein. Bei rezidivierenden Harnwegsinfekten ist eine Prophylaxe sinnvoll, z.B. mit Methenamin und Methionin, eventuell auch Preiselbeersaft, während Vitamin C wohl unwirksam ist. Wesentlichstes Risiko für komplizierte Harnwegsinfektionen bzw. ein Infektrezidiv ist die Dauerableitung über einen Katheter. Die antibiotische Langzeittherapie ist auf Grund häufiger Keimselektion umstritten (38). Wichtiger als die Antibiose ist die auf Dauer restharnarme Blasenentleerung.

Invasive und operative Therapiemaßnahmen: Bei hyperreflexiver Blase mit obstruktiver Komponente, aber auch hypo/areflexiven Blasenstörungen sollte möglichst immer der intermittierende Selbst-(Einmal)katheterismus (ISK) angestrebt werden, am ehesten unter Verwendung von Gleitmittel und nicht traumatisierender Einmalkatheter. Der ISK ist allerdings bei Visusstörungen, Ataxie mit feinmotorischen und sensiblen Defiziten der Arme und Hände sowie kognitiven Störungen zumeist nicht möglich. Immer müssen die Patienten intensiv angeleitet werden.

Eine intravesikale Therapie mit den Vanilloiden Capsaicin oder Resiniferatoxin ist bei Unverträglichkeit oraler Anticholinergika möglich (18), bei Capsaicin allerdings sehr schmerzhaft. Insgesamt reichen die bisherigen Erfahrungen noch nicht aus, um eine Therapieempfehlung für die Vanilloide zu geben. Auch Oxybutynin und Trospiumchlorid können intravesikal verabreicht werden und hemmen dort die unwillkürlichen Detrusorkontraktionen, ohne dass systemische Nebenwirkungen zu befürchten sind. Dies ist vor allem bei Patienten, die ohnehin regelmäßig den ISK durchführen, eine therapeutische Option. Insgesamt sollten intravesikale Behandlungen nur in erfahrenen Zentren durchgeführt werden.

Dauerharnableitung: Die transurethrale Dauerableitung sollte auf Grund hoher langfristiger Komplikationsraten (chronischer Infekt, Begünstigung eines vesikoureteralen Refluxes, Steinbildung, erhöhtes Blasenkarzinomrisiko) vermieden werden. Alternative ist die suprapubische Blasenfistel unter Verwendung geschlossener Systeme und optimaler Hygiene. Bei fortbestehender Hyperreflexie ist gelegentlich weiterhin auch eine anticholinerge Medikation erforderlich. Der Urin sollte angesäuert werden. Der Nutzen von Blasenspülungen oder niedrig dosierter Antibiotika-Dauertherapie ist unsicher.

Botulinumtoxin A wird bei spastischem Blasensphinkter zunehmend eingesetzt (45), größere Studien fehlen jedoch noch. Bei Detrusor-Hyperreflexie können Blasenvolumen, Compliance und Kontinenz positiv beeinflusst werden, der Effekt hält bis zu neun Monate an.

Neuromodulation und operative Verfahren: Die chronische S3-Stimulation mit implantierten Elektroden ist bei ansonsten therapieresistenten Patienten mit hyperreflexiver Blase viel versprechend (6), sollte aber nur in erfahrenen und spezialisierten Zentren erfolgen. Sphinkterotomien, Stent-Implantation bei Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie oder die Autoaugmentation der Blase können auf Grund des nicht vorhersehbaren Verlaufes einer MS nicht generell empfohlen werden, die Indikationsstellung sollte erfahrenen Zentren vorbehalten sein.

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Darmfunktionsstörungen

Therapieziele sind die Normalisierung der Entleerungsfrequenz und der Kontinenz sowie die Vermeidung von Komplikationen: (Sub)-Ileus, Dekubitus.

Bei im Vordergrund stehender Obstipation sind ausreichende Flüssigkeitszufuhr (1,5 - 2 L/Tag), ballaststoffreiche Mischkost, Physiotherapie (Stehständer, fremdkraftbetriebener Beintrainer, Kolonmassage, Beckenbodengymnastik zur gezielten Sphinkterrelaxation), ggf. Biofeedback sinnvoll. Bei hartem Stuhl sollten Lactulose oder Macrogol (Cave bei gleichzeitiger Inkontinenz!), zur Rektumentleerung auch Glycerinzäpfchen oder Klistiere gegeben werden. In Einzelfällen kann nach Möglichkeiten einer „Reflexentleerung” (Darmentleerung bei voller Blase, Suche nach perianalen Triggerpunkten, Vermeidung einer gröberen Sphinkterdehnung) gesucht werden. Metoclopramid oder Domperidon sind fraglich wirksam. Anticholinergika und Antispastika sollten möglichst vermieden werden. Bei schmerzhafter Sphinkterspastik bzw. Hinweis für paradoxe Sphinkter-/Puborektalis-Kontraktionen ist die Injektion von niedrigdosiertem Botulinumtoxin A möglich.

Bei im Vordergrund stehender Stuhlinkontinenz sollte ein regelmäßiges Abführen - z. B Klistier jeden 3. oder 4. Tag (Cave Pseudodiarrhoe bei massiver Obstipation und Kotsteinen) angestrebt werden. Bei Frauen mit Beckenbodenschwäche und noch partieller Sphinkterkontrolle ist Beckenbodentraining, ggf. in Kombination mit intraanaler Elektrotherapie gerechtfertigt. Ist eine wesentliche Beeinflussung der Inkontinenz nicht möglich, sollten vor allem bei gehfähigen Patienten Hilfsmittel, z.B. intraanale Tampons verwendet werden. In jedem Fall sind eine intensive Hautpflege und Dekubitusprophylaxe erforderlich.

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Störungen der Sexualität

Bei bis zu 80 % der MS-Patienten treten im Krankheitsverlauf sexuelle Dysfunktionen auf. Neben den folgenden Therapiemöglichkeiten wird MS-Patienten auch die probatorische Anwendung besonderer Sexualpraktiken empfohlen, bei denen die vordergründig beeinträchtigten Funktionen (Spastik, Schmerz) ausgeschaltet werden.

Männliche Sexualstörungen: Die erektile Dysfunktion wird heute vor allem mit Sildenafil behandelt. Dosierungen von 25, 50 und 100 mg Sildenafil ca. eine Stunde vor dem Geschlechtsverkehr sind zumeist gut verträglich (15). Kontraindikationen mit eventuell lebensbedrohlichen Komplikationen sind eine vorbestehende koronare Herzkrankheit, frische Herz- und Hirninfarkte sowie eine Vormedikation mit Nitraten oder Molsidomin. Die neueren Phosphodiesterase-5-Inhibitoren Vardenafil und Tadalafil werden möglicherweise hinsichtlich Wirkdauer und Nebenwirkungsprofil vorteilhafter sein.

Bei Patienten mit kardialer Vorschädigung kann auch Apomorphin sublingual ca. 20 min. vor dem Sexualverkehr genommen werden (40). Die Wirksamkeit ist geringer als diejenige von Sildenafil, auch die potentiellen Nebenwirkungen wie Übelkeit und Müdigkeit limitieren ggf. den Einsatz des Apomorphin. Yohimbin soll insbesondere bei Patienten mit überwiegend psychogener erektiler Dysfunktion zu verbesserter Erektion führen (67).

Die Schwellkörper-Autoinjektions-Therapie (SKAT) mit Prostaglandinen (Alprostadil) (31) und auch dessen transurethrale Applikation (SKIT) werden gelegentlich eingesetzt. Nebenwirkungen sind vor allem Penisschmerzen, Schwindelsensationen und ein Priapismus. Hierüber müssen die Patienten ausführlich informiert werden, ebenso über die genaue Handhabung dieser Therapien. Es sollte mit niedrigen Dosierungen begonnen werden.

Weitere nichtmedikamentöse Alternativen sind trotz ihres den Sexualverkehr erheblich störenden Charakters Vakuumpumpen, seltener noch Penisprothesen.

Bei weiblichen Sexualstörungen kann lediglich die Anwendung von Hormonpräparaten (Tibolon, östrogenhaltige Salben) empfohlen werden (9).

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Ataxie und Tremor

Etwa 80 % der MS-Patienten leiden im Verlauf ihrer Erkrankung an ataktischen Symptomen. Besonders behindernd ist die gliedkinetische Ataxie der Arme und Hände mit Intentionstremor. Ihre Ausprägung variiert oft im Tagesverlauf und ist auch von der körperlichen und seelischen Beanspruchung der Patienten abhängig. Therapieziel ist die Besserung der Ataxie und dabei besonders deren Folgen auf alltags-, sozial- und berufsrelevante Fähigkeiten.

Die spezifische Therapie umfasst Physio- und Ergotherapie, medikamentöse sowie - seltener - operative Behandlungen. Inhalte der Physiotherapie und Ergotherapie sind u.a. die Tonusregulation, der Abbau fixierender Kompensationsmechanismen, Rumpfstabilisierung und Sensibilitätsschulung, das Erarbeiten koordinierter Bewegungsabläufe, die Arbeit mit möglichst großen und dann allmählich reduzierten Unterstützungsflächen (58), sowie eine adäquate Hilfsmittelversorgung, z.B. Besteck mit verdickten Griffen und verbreiterten Auflageflächen. Bei zusätzlichen Armparesen und/oder Rumpfinstabilität werden propriozeptive Fazilitationsverfahren zum gezielten Tonusaufbau eingesetzt. Der Einsatz von Handgelenksgewichten z.B. beim Haltetremor ist unwirksam, während entspannende Verfahren, z.B. Autogenes Training und Progressive Muskelrelaxation nach Jacobsen hilfreich sind. Eine deutliche Reduktion des Intentionstremors ist durch kurzzeitige (1 Minute) lokale Kühlung (Eisanwendung) zu erzielen (1), die als Eigentherapie gezielt vor Aktivitäten wie Einnahme einer Mahlzeit, Ankleiden, Selbstkatheterismus etc. eingesetzt werden kann.

An medikamentösen Therapien stehen nur wenige Substanzen zur Verfügung, die zudem häufig nicht ausreichend wirksam sind und z.T. erhebliche Nebenwirkungen nach sich ziehen können. Bei einigen Patienten sind Betarezeptorenblocker wirksam, die insbesondere den Tremor im Rahmen psychischer Anspannung lindern können. Das Antiepileptikum Primidon führt gelegentlich zu einer Tremorreduktion, die Wirkung ist allerdings nur beim essentiellen Tremor nachgewiesen, ebenso wie für Gabapentin. Carbamazepin zeigte einen positiven Effekt bei zerebellären Tremorformen. In einigen Fallberichten wurde auch für Clonazepam eine positive Wirkung beim zerebellären Tremor berichtet. Oxitriptan wirkt bei Stand- und Gangataxie oft erst nach mehreren Wochen Behandlung mit suffizienten Dosen (3 x 300 mg/d) (65). Für Ondansetron und Isoniazid liegen widersprüchliche Ergebnisse vor (4, 17, 20).

Operative Therapiemaßnahmen: Die chronische VIM-Stimulation nach Sondenimplantation führt zu insgesamt besseren Ergebnissen als VIM-Thalamotomien. Allerdings müssen die Stimulationsparameter häufiger optimiert werden. Peri- und postoperative Komplikationen sind selten. Es gelingt vor allem eine Besserung des Tremors und der Aktivitäten des täglichen Lebens (69). Am ehesten profitieren wahrscheinlich Patienten mit ausgeprägtem, aber stabilen Armtremor und gleichzeitiger Rumpfataxie (2).

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Kognitive Störungen

Einschränkungen der kognitiven Leistungen werden bei 40 % und mehr aller MS-Patienten berichtet. Sie können sich in einigen Fällen bereits früh im Krankheitsverlauf entwickeln. Betroffen sind vor allem Aufmerksamkeits- und Gedächtnisfunktionen, exekutive Funktionen und visuokonstruktive Fähigkeiten, in geringerem Maß auch implizite Funktionen oder Sprache. Die Diagnose wird - neben einer spezifischen alltags- und berufsbezogenen Leistungsanamnese - mittels differenzierter neuropsychologischer Testverfahren für die verschiedenen kognitiven Domänen gestellt. Der inzwischen viel benutzte PASAT (paced auditory serial addition test) kann erste Hinweise auf kognitive Einschränkungen bringen. Therapieziele sind die Besserung bzw. der Erhalt neuropsychologischer Funktionen, das Erlernen von Kompensationsstrategien und damit die Vermeidung sekundärer Partizipationsstörungen.

Nicht-medikamentöse Therapie: Meist müssen mehrere kognitive Bereiche und affektive Störungen zugleich behandelt werden. Dies geschieht heute vor allem mit Hilfe computer-gestützter Verfahren, z.B. zum Training selektiver Aufmerksamkeitskomponenten wie Daueraufmerksamkeit, selektiver Aufmerksamkeit, Aufmerksamkeitsaktivierung oder erhöhter Resistenz gegen Störreize. Der Behandlungserfolg ist u.a. von der Häufigkeit des Trainings abhängig. Ein unspezifisches „Gedächtnistraining” ist oft wirkungslos, ebenso rein repetitives Üben von Lernaufgaben. Bei leicht betroffenen Patienten können Mnemotechniken hilfreich sein, schwer Betroffene benötigen externe Gedächtnishilfen (Notizbücher, „NeuroPage”). Sinnvoll ist auch die Kombination spezifischer neurokognitiver Therapien mit Entspannungsverfahren und Kompensationsstrategien für verbleibende Defizite, ebenso die Einbeziehung von Bezugspersonen.

Medikamentöse Therapie: Bislang wurden nur vereinzelte Untersuchungen u.a. mit Donepezil an MS-Patienten durchgeführt (19), so dass gezielte Empfehlungen derzeit nicht gegeben werden können. Erwähnt sei, dass während immunmodulatorischer Therapien nicht nur eine Stabilisierung der Schubzahl oder der Behinderungsprogression, sondern auch von kognitiven Funktionen beobachtet wurde. Die Ergebnisse sind jedoch uneinheitlich (14, 59).

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Paroxysmale Störungen

Bei der MS werden zahlreiche paroxysmale sensorische und motorische Symptome beschrieben [Tab. 2], die nicht immer leicht von epileptischen Phänomenen differenziert werden können. Bekanntestes Symptom ist die Trigeminusneuralgie. Die oft stereotypen Symptome dauern zumeist nur einige Sekunden bis zu wenigen Minuten und werden durch sensorische Reize, Bewegung, Lageänderung oder Hyperventilation getriggert. Sie können sich bis zu mehreren hundert mal täglich wiederholen. Angaben zur Häufigkeit variieren, je nachdem welche Symptome erfasst werden. Die Diagnose ergibt sich durch Häufigkeit, Lokalisation, Qualität, Dauer, Intensität, Triggerfaktoren und Begleitsymptome (z.B. Patiententagebuch). Therapieziel ist die Vermeidung der jeweiligen Symptome ohne Beeinträchtigung durch die Therapie.

Therapie: Soweit möglich, sollten Patienten wissen, wie sie auslösende Situationen ihrer paroxysmalen Symptome vermeiden können, z.B. bestimmte Bewegungen, sensorische Reize oder Hitze. Die medikamentöse Behandlung beinhaltet vor allem Antikonvulsiva, speziell Carbamazepin und Gabapentin.

Für die Trigeminusneuralgie bei MS gelten ebenfalls die Empfehlungen nach Leitlinien der DGN. Danach ist Carbamazepin (CBZ) weiterhin Mittel der 1. Wahl (68). Bei CBZ sollte jedoch berücksichtigt werden, dass es gelegentlich MS-Symptome verstärken kann (30). Bei Unwirksamkeit oder Unverträglichkeit von CBZ stehen Baclofen, Lamotrigin, Gabapentin, Topiramat, Oxcarbazepin, Valproat und Phenytoin zur Verfügung, letzteres ggf. auch parenteral. Lamotrigin ist auch in Kombination mit Carbamazepin wirksam, muss jedoch langsam aufdosiert werden. Misoprostol, ein Prostaglandin E 1-Analogon ist in einer Dosierung von 600 μg/d eine mögliche Behandlungsalternative (11). Die genannten Therapien gehören fast ausnahmslos zur „off-label”-Kategorie. Auf Grund der bei MS oft erheblichen Schmerzen sind immer wieder auch Kombinationsbehandlungen erforderlich.

Bei nicht ausreichender Wirkung sind ggf. operative Therapien wie die Thermokoagulation und die Glyzerolinstillation ins Cavum Meckeli indiziert (28). Auch die mikrovaskuläre Dekompression ist schon erfolgreich durchgeführt worden, z.T. jedoch nur bei gleichzeitiger Durchtrennung des Nervs (5). Die Radiochirurgie ist ebenfalls wirksam und verursacht nur in ca. 10 % Hyp-/Dysästhesien.

Andere paroxysmale Symptome: Paroxysmale Parästhesien und Schmerzen betreffen in der Regel einen Teil einer Extremität, dauern oft mehrere Minuten und reagieren schlechter auf CBZ, wobei diese Substanz weiterhin das am häufigsten verwendete Medikament ist, zumeist in Dosierungen bis 300 mg/d. Alternativen sind Gabapentin, Lamotrigin, Phenytoin oder Valproat. Auch für Clonazepam und Lidocain wurden bei verschiedenen motorischen und sensorischen paroxysmalen Symptomen gute Ergebnisse berichtet (54).

Beim Uhthoff-Phänomen sollte - nach Ausschluss eines MS-Schubes - Wärme möglichst vermieden werden, oft sind kühlende Maßnahmen sowie 4-Aminopyridin wirksam. Beim Hemispasmus facialis ist Botulinumtoxin A die Therapie der Wahl.

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Augenbewegungsstörungen

Auch Störungen der Okulomotorik sind häufig, oft sogar erstes MS-Symptom, z.B. bei einem Schub. Des weiteren treten eine internukleäre Ophthalmoplegie sowie verschiedene Formen von Nystagmus auf, insbesondere der Upbeat-/Downbeat-Nystagmus sowie der Fixationspendelnystagmus (FPN), die Oszillopsien und Verschwommensehen hervorrufen.

Therapie: Beim Auftreten von Okulomotorikstörungen im Schub erfolgt die hochdosierte intravenöse Steroidtherapie, 1 Auge sollte jeweils abgedeckt werden. Ein FPN kann mit Memantine (40-60 mg/d) oder Gabapentin (900-1200 mg/d) behandelt werden, während Scopolaminpflaster oder Baclofen nicht wirksam sind. Auch Injektionen von Botulinumtoxin A in die Augenmuskeln sowie Cannabis wurden versucht (23,57). Beim Upbeat-/Downbeat-Nystagmus ist ein Versuch mit Baclofen (z.B. 3 x 5 mg/d) gerechtfertigt (10). Bei der internukleären Ophthalmoplegie werden Doppelbilder oft nicht störend wahrgenommen.

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Dysarthrie und Dysphonie

Eine Dysarthrie kann von der kaum wahrnehmbaren Sprechstörung bis zur kompletten Unverständlichkeit reichen. Teilsymptome sind u.a. die gestörte Lautstärkesteuerung, eine Rauhigkeit der Stimme, Artikulationsstörungen und eine verminderte Vitalkapazität. Die Diagnose erfolgt mittels verschiedener Tests, u.a. dem Münchner Verständlichkeits-Profil. Behandlungsziele sind die Verbesserung der Kommunikationsfähigkeit durch Maximierung kompensatorischer sprechmotorischer Fähigkeiten sowie die Verbesserung der Atmungskoordination. Eine Behandlung ist immer dann angezeigt, wenn Sprech- und Stimmstörung von der übermittelten Botschaft ablenken, Sprechfähigkeit und Stimme die Kommunikationsfähigkeit behindern und damit die Lebensqualität einschränken oder von Patient oder seiner Familie als belastend empfunden werden.

Die Therapie, an der Neurologe, HNO-Arzt und Sprechtherapeut (Logopäde/Neurophonetiker/Linguist) beteiligt sind, beinhaltet:

  • verhaltensmodifizierende Maßnahmen: Steuerung der Sprechgeschwindigkeit, des Stimmtons, der Phrasenübergänge, Reduktion der Phrasenlänge und Verstärkung der Stimme, u.a. über Feedbacktechniken oder PC- Programme

  • medikamentöse Behandlung entsprechend dem der Dysarthrie zu Grunde liegenden Hauptcharakteristikum Spastik, Ataxie, Stimmtremor oder Fatigue

  • Kommunikationshilfen: bei <50 % Verstehbarkeit Einsatz von Kommunikationstafeln, Stimmverstärkern, Sprech- und anderen Computern; zuvor Überprüfung der kognitiven, motorischen, visuellen und akustischen Fähigkeiten des Patienten.

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Dysphagie

Folgen klinisch manifester Schluckstörungen sind Hustenreiz, Speichelfluss, ggf. Dehydratation, Mangelernährung, (stille) Aspiration sowie z.T. schwere Aspirationspneumonien, ebenso die Einschränkung der Lebensqualität durch Verlust des Ess- und Trinkgenusses. Dysphagien treten insbesondere bei schwer behinderten Patienten in bis zu 65 % der Fälle, seltener auch bei nur geringer Behinderung auf. Die Diagnostik umfasst eine ausführliche Anamnese zu spezifischen Dysphagiesymptomen, eine neurologische und HNO-ärztliche Untersuchung, einen funktionellen Schlucktest sowie die Videofluoroskopie und/oder Pharyngolaryngoskopie. Der Schweregrad wird nach klinischen und radiologisch-endoskopischen Kriterien eingestuft (21) eingestuft. Durch die Therapie sollen eine ausreichende Aufnahme von Nahrung und Flüssigkeit gesichert, eine Aspiration vermieden und gleichzeitig die Lebensqualität wieder erhöht werden.

Eine Therapie ist immer bei Exsikkose, Mangelernährung, nachgewiesener Aspiration bzw. rezidivierender Aspirationspneumonie erforderlich und besteht aus funktionellen, medikamentösen und palliativen Maßnahmen.

Funktionelle Therapie (Schlucktherapie): Fazilitation oder Hemmung von Bewegungsfunktionen: Haltungsänderungen des Kopfes, verschiedene Schlucktechniken, Optimierung der Nahrung wie Pürierung, Andicken von Flüssigkeiten, Änderung der Nahrungstemperatur, Ansäuerung des Speisebolus, Ess- und Trinkhilfen, Verhaltensregeln (49).

Medikamentöse Therapie: anticholinerge Medikamente bei ausgeprägter Hypersalivation (36).

Palliative Therapie: Bei schwerer und irreversibler Dysphagie perkutane endoskopische Gastrostomie (PEG), insbesondere bei mangelhafter Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme und Aspirationen trotz konservativer therapeutischer Maßnahmen (32). Im Einzelfall müssen bei dieser Maßnahme jedoch immer potentielle Komplikationen berücksichtigt werden: leichte Komplikationen in 13 % bis 43 % der Fälle, schwere Komplikationen bei 0,4 % bis 8,4 % mit einer Mortalität von 0 % bis 2 % (12). Eine transnasale Magensonde ist nur bei zu erwartender rascher Rückbildung der Dysphagie, etwa im Rahmen eines MS-Schubes, sinnvoll.

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Epileptische Anfälle

Bis zu ca. 7,5 % der MS-Patienten leiden an epileptischen Anfällen, sie treten in jedem Krankheitsstadium auf und können auch Symptom eines akuten Schubes sein. Häufigste Anfallstypen sind generalisierte tonisch-klonische sowie komplex-partielle Anfälle. Auch epileptische Status im Rahmen der MS wurden beschrieben. Anfälle können sowohl Erstmanifestation als auch alleiniges Symptom einer MS sein. Therapieziel ist die vollständige oder weitgehende Anfallsfreiheit.

Therapie: Studien zur antiepileptischen Therapie bei Patienten mit MS liegen nicht vor. Tritt ein einzelner Anfall im Rahmen eines gesicherten Schubes auf, kann - nach Schubtherapie - ggf. auf eine Dauertherapie verzichtet werden. Ansonsten wird entsprechend den Empfehlungen der DGN für Patienten mit multiplen zerebralen Läsionen geraten, nach dem ersten Anfall mit einer antiepileptischen Therapie zu beginnen, unabhängig davon, ob es sich um einen provozierten oder unprovozierten Anfall handelte (DGN-Leitlinien „Erstmaliger epileptischer Anfall”: www.dgn.org/54.0. html). Auch die Langzeitbehandlung folgt den DGN-Leitlinien ( www.dgn.org/50.0.html?&no_cache =1&sword_list[]=epilepsie). Bei einem späteren Absetzversuch ist zu berücksichtigen, dass die zerebralen Veränderungen im Krankheitsverlauf zumeist zunehmen und MS-Patienten aufgrund ihrer zusätzlichen Funktionsstörungen, insbesondere Gangstörungen, kognitive Störungen, Osteoporose beim Auftreten eines Anfalls einer deutlich erhöhten Verletzungsgefahr ausgesetzt sind.

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Mitglieder und Autoren der MSTKG Symptomatische Therapie

H. Albrecht (Berg), W. Feneberg (Berg) J. Haas (Berlin), M. Haupts (Bochum), T. Henze (Nittenau), C. Kabus (Berlin), J. Kesselring (Valens), N. König (Berg), W. Kristoferitsch (Wien), K.H. Mauritz (Berlin), M. Pette (Dresden), W. Pöllmann (Berg), P. Rieckmann (Würzburg), D. Seidel (Isselburg), M. Starck (Berg), A. Steinbrecher (Regensburg), R. Voltz (München), U. K. Zettl (Rostock), K.V. Toyka (Würzburg)

Tab. 1 Symptome der MS
  • Störungen der Motorik und Koordination (Spastik, Muskelschwäche, Ataxie, Tremor)

  • Störungen im Bereich der Hirnnerven (Augenbewegungsstörungen, Dysarthrie, Dysphagie)

  • Vegetative Funktionsstörungen (Blasen- und Darmentleerungsstörungen, Störungen der Sexualität)

  • Neuropsychologische Symptome (kognitive Defizite, Fatigue, Depression)

  • Schmerzen und paroxysmale Symptome, epileptische Anfälle

Tab. 2 Paroxysmale Symptome
  • Trigeminus-, Glossopharyngeus- und andere Neuralgien

  • Sensible Symptome: Parästhesien, Dysästhesien, Lhermitte-Zeichen

  • Paroxysmale Ataxie und Dysarthrie

  • Dyskinesien: Dystonie (früher: tonische Hirnstammanfälle) incl. Hemispasmus facialis, Tremor, Akinese

  • Faziale Myokymien, Myoklonien, Singultus

  • Doppelbilder und Oszillopsien: Konvergenzspasmus u.a., ocular flutter

  • Uhthoff Phänomen

1 Dieser Beitrag ist an die Arbeit der MS-Therapie Konsensus Gruppe (MSTKG) Symptomatische Therapie der Multiplen Sklerose im Auftrag der Deutschen MS-Gesellschaft (DMSG) angelehnt. Alle Mitglieder sind am Ende dieser Arbeit genannt.

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Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Thomas Henze

Klinik am Regenbogen

Fachklinik für Neurologische Rehabilitation

Eichendorffstr. 21

93149 Nittenau

Email: t.henze@klinikamregenbogen.de

1 Dieser Beitrag ist an die Arbeit der MS-Therapie Konsensus Gruppe (MSTKG) Symptomatische Therapie der Multiplen Sklerose im Auftrag der Deutschen MS-Gesellschaft (DMSG) angelehnt. Alle Mitglieder sind am Ende dieser Arbeit genannt.

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Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Thomas Henze

Klinik am Regenbogen

Fachklinik für Neurologische Rehabilitation

Eichendorffstr. 21

93149 Nittenau

Email: t.henze@klinikamregenbogen.de