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DOI: 10.1055/s-2004-831367
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Ethische Probleme der Placebobenutzung
Ethical problems of the clinical placebo usePublikationsverlauf
eingereicht: 7.4.2004
akzeptiert: 8.7.2004
Publikationsdatum:
15. September 2004 (online)

Glossar
Dreiarmige randomisierte kontrollierte Untersuchungen enthalten drei „Studienarme”, z. B. chinesische Akupunktur (1.Arm), Scheinakupunktur als Placebofunktion (2. Arm) und eine Gruppe ohne Intervention (3. Arm).
Empathie: (Ärztliche) Einfühlung in einen anderen Menschen (Patienten).
Ganzheitliche Medizin erfasst nicht nur Krankheiten und Organbefunde, sondern auch den Patienten und berücksichtigt seinen biopsychosozialen Gesamtzustand.
Informed consent: Die Einwilligung des Kranken in eine diagnostische und therapeutische Maßnahme nach beratender ärztlicher Aufklärung über Vorteile, Nebenwirkungen, Optionen und Alternativen.
Inert oder untätig wird ein Arzneistoff genannt, wenn ein pharmakologischer Wirkungsmechanismus nicht anzunehmen ist.
Kontexteffekte tragen neben spezifischen pharmakologischen und chirurgischen Eingriffen durch die Qualität der Arzt-Patient-Beziehung zum therapeutischen Erfolg bei. Beachtenswert sind jedoch auch negative Kontexteffekte, z. B. Hetze, fehlende Zeit oder Unfreundlichkeit eines Arztes.
Nocebo („Ich werde schaden”)-Effekte: Unerwünschte Wirkungen eines Placebos („Ich werde gefallen”).
Scheinakupunktur: Eine Akupunktur, die nur nach äußerlichem Schein einer traditionellen chinesischen Akupunktur entspricht.
Spezifische Arzneimittelwirkungen sind durch genau umschriebene pharmakologische Wirkungsmechanismen zu erklären, z. B. durch Agonisten- oder Antagonistenaktivität an einem Rezeptor.
Placeboeffekte sind so alt wie die Medizin. Wenn ein Therapeut den Kranken umfassend betreut und ein Mittel als Zeichen bzw. Symbol dieser Betreuung verordnet, fühlt sich der Patient oft besser [11] [22] [37] [38]. Tausende von Jahren waren therapeutische Erfolge wahrscheinlich vor allem unspezifischen Placebowirkungen zuzuschreiben, während die moderne naturwissenschaftliche Medizin in erster Linie an spezifischen, molekularen Mechanismen interessiert ist. Reine Placebos sind Tabletten oder Kapseln, die Stärke oder Laktose, und Ampullen, die physiologische Kochsalzlösung enthalten. Unreine Placebos schließen zwar eine aktive Verbindung ein, z. B. Vitamin B12, das jedoch ohne einen vorliegenden B12-Mangel z. B. bei Rückenschmerzen injiziert wird [2] [16]. Von einem „Superplacebo” [12] wird gesprochen, wenn es sich um eine ineffektive Substanz handelt, von deren Wirksamkeit sowohl Patient als auch Therapeut überzeugt sind. Superplacebos maximieren die Macht des Placebos durch Suggestion.
30-40 % der Patienten mit Schmerzen [4] [25] [35] und 30-50 % der Patienten mit Depression [10] erleben nach Placebo eine Besserung ihrer Symptome. Der Placeboeffekt wird von den Erwartungen des Kranken beeinflusst. Asthmatiker, die glauben, eine inerte Substanz wirke erweiternd oder verengend auf die Bronchien, reagieren entsprechend [22]. Placebowirkungen sind besonders bei funktionellen Beschwerden, chronischen Krankheiten mit fluktuierendem Verlauf und affektiven Störungen zu erwarten. So genannte „Kontexteffekte” [9] einer spezifischen pharmakologischen oder chirurgischen Intervention, z. B. als Folge der Qualität einer Arzt-Patient-Interaktion mit Empathie, können Symptome und Krankheitsverlauf positiv beeinflussen.
Obwohl Placebowirkungen in randomisierten kontrollierten Studien oft groß sind, ist der logische Fehlschluss „Post hoc ergo propter hoc” (zeitlich danach, also verursacht) zu vermeiden. Eine Besserung nach Placebo kann durch Faktoren mitverursacht werden, die unabhängig von der Placebointervention sind. Dazu gehören der natürliche Verlauf der Krankheit mit spontanen Remissionen, die Fluktuation von Symptomen und die Tendenz krankhafter Befunde, zum Ausgangswert zurückzukehren [28] [30]. Andererseits zeigt sich der Placeboeffekt bei „dreiarmigen” Untersuchungen: Schwangere mit Nausea und Erbrechen hatten chinesische oder Scheinakupunktur, die sich im Ergebnis nicht signifikant unterschieden. Die Frauen dieser beiden Gruppen erfuhren jedoch eine Symptombesserung gegenüber der nicht behandelten dritten Gruppe [28]. Placebos können auch Nebenwirkungen (Noceboeffekte) wie Müdigkeit, Kopfschmerzen, Nervosität, Nausea, Diarrhoe oder Obstipation verursachen. Solche Noceboreaktionen sind häufiger, wenn ein verärgerter oder zurückweisender Arzt ein Mittel verordnet [8] [38].
Positive Placebophänomene sind Elemente fast jeder erfolgreichen Therapie. Sie treten dann auf, wenn der Patient emotionelle Unterstützung und Beistand erlebt, wenn ihm die Krankheit verständlich erklärt wird und wenn ihm dadurch der Eindruck vermittelt wird, seine Krankheit besser kontrollieren zu können [5].
kurzgefasst: Placebo- und Noceboeffekte sind in der täglichen Praxis von großer Bedeutung.
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Prof. Dr. med. Karlheinz Engelhardt
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