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DOI: 10.1055/s-2004-832350
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Friluftsliv und Herzfrequenzvariabilität
Ein diagnostischer Parameter zur Messung regenerativer Aspekte des vegetativen Nervensystems im Einsatz in NorwegenPublication History
Publication Date:
18 October 2004 (online)

Schon der chinesische Arzt Wang Shuhe, der im 3. Jahrhundert nach Christus Puls-Typen und ihre diagnostische Bedeutung analysierte, prägte den Satz: „Wenn der Herzschlag so regelmäßig wie das Klopfen des Spechts oder das Tröpfeln des Regens auf dem Dach wird, wird der Patient innerhalb von vier Tagen sterben.” Herzschläge, deren Abstände zeitlich variieren, wurden also als gesünder betrachtet. Dieses diagnostische Kriterium ist in der heutigen Zeit, bedingt durch moderne Mess- und Auswertungsmethoden, präziser messbar denn je.
Die Herzfrequenzvariabilität als Ausdruck der zeitlichen Abweichung des einzelnen Herzschlages vom Minutendurchschnitt deutet auf Fehlfunktionen oder Balancestörungen des vegetativen Nervensystems in seiner Auswirkung auf die Steuerung der Herzfunktion hin. Seit einigen Jahren wird im Bereich des (Hoch-)Leistungssports bereits an der diagnostischen Aussagekraft der HRV (Heart-Rate-Variability = Herzfrequenzvariabilität) geforscht, besonders unter der Fragestellung von optimaler Trainingssteuerung und Erkennung bzw. Verhinderung von Übertrainingseffekten.
Bereits seit 1965 lagen erste Erkenntnisse darüber vor, dass die natürliche Unregelmäßigkeit des Herzschlages, ausgedrückt durch die HRV, sich unter Stress verringert. 1970 zeigten Wolf et al. den Zusammenhang zwischen einer verringerten HRV und einem erhöhten Risiko für Herz- und Gefäßerkrankungen. Weitere Studien konnten insbesondere die erhöhte Sterblichkeit jener Patienten nach einen Herzinfarkt, die eine verminderte HRV gegenüber Kontrollgruppen mit normaler HRV zeigten, belegen. Der Einfluss eines gezielten Trainings, vor allem im Ausdauerbereich, wurde ebenfalls schon vor einigen Jahren beschrieben. So erhöht sich die HRV bei Probanden, die als Nichtsportler beginnen und nach einiger Zeit des Trainings erneut gemessen werden, zum Teil deutlich.
Besonders bedeutsam ist der Unterschied zwischen der reinen Varianzmessung und der Spektralanalyse bei speziellen Geräten in der medizinischen Diagnostik. Auch die modernen EKG-Geräte werten lediglich die Abstände einer Herzschlagfolge von definierter Dauer aus. Mit der Standardabweichung der Herzschlagfolge lassen sich rechnerisch grobe Aussagen über den Zustand des autonomen Nervensystems machen.
Bei modernen medizinischen Geräten zur Messung der HRV, z. B. bei dem von uns benutzten VarCor PF 5, wird mittels eines komplizierten mathematischen Algorithmus die Aufschlüsselung zugrundeliegender Frequenzmuster der Herzschlagunregelmäßigkeiten erreicht. Diese so ge-nannte Fast-Fourier-Transformation erlaubt wesentlich differenziertere Aussagen zur Situation des vegetativen Nervensystems von Patienten.
Anhand der verschiedenen Frequenzbänder der Analyse, so sind sich zahlreiche anerkannte Wissenschaftler im Rahmen themenspezifischer Kongresse und Symposien einig, sind erstmals Stresseinflüsse, die mit typischen Herzkreislauferkrankungen einhergehen können, eindeutig sichtbar zu machen. Die beiden relevanten Bestandteile des autonomen oder vegeta-tiven Nervensystems, der Sympathikus und der Parasympathikus, sind hier getrennt voneinander messbar und können so sowohl interne Fehlfunktionen als auch externe Einflussfaktoren verdeutlichen.
Großen Stellenwert haben bei allen Messungen also die verschiedenen Einflussfaktoren. Hier muss zunächst davon ausgegangen werden, dass alle für die Herzfrequenz relevanten Einflussgrößen auch die HRV beeinflussen können. Schlafdauer, Nikotin- und Koffeinkonsum, Alkoholgenuss, Medikamente, Nahrungsaufnahme, körperliche bzw. muskuläre Aktivität, seelischer Stress, Temperatur, Tageszeit, Körperlage, Atemfrequenz stellen eine zwar umfangreiche, aber nicht komplette Auswahl von Kriterien dar, die zur Beeinflussung der HRV beitragen können. Daher ist es zur Beurteilung verschiedener Messungen wichtig, diese unter standardisierten und reproduzierbaren äußeren und möglichst auch inneren Bedingungen durchzuführen.
Mit dem VarCor PF 5-System (Abb. [1]) unterliegen die Messungen einem einfachen und den Probanden wenig belastenden Prozedere: Zunächst erfolgt eine Messung von ca. 5 Minuten im Liegen, in deren Anschluss eine 5-minütige Phase des ruhigen Stehens folgt. Zum Abschluss legt sich der Untersuchte nochmals für ca. 5 Minuten hin. Die ca. 900-1 100 in diesem Zeitraum aufgezeichneten Herzschläge werden nach diesen drei Perioden der Ruhe und der körperlichen Belastung (Stehen) ausgewertet. Als „Nebenprodukt” fällt außerdem ein ca. 15-minütiges EKG an, das wie ein Standard-Ruhe-EKG Auskunft z. B. über Herzrhythmusstörungen geben kann.
Abb. 1: VarCor PF 5-Messgerät, bestehend aus Brustgurt und IPAQ-Computer.
Eine besondere Stellung wird der HRV in der Leistungsfähigkeitsuntersuchung beigemessen. Viele Sportmediziner und Trainingsexperten sind bereits von der Verwertbarkeit der Analysedaten in diesem Bereich überzeugt. Das deutliche Ansteigen von Spektrallinien, die dem parasympathischen/vagalen Anteil des autonomen Nervensystems zuzuordnen seien, habe sich in den Untersuchungen als guter Indikator für den Trainingszustand des Untersuchten erwiesen. Die Trainingssteuerung könnte also durch die gesteigerte, auf den individuellen Sportler zugeschnittene Diagnostik eine Ökonomisierung erfahren, Über- und Unterforderungen könnten vermieden und Regenerationsphasen besser genutzt werden.
Während sich die moderne Diagnostik in der Sportmedizin/Trainingslehre anbietet, besonders die mit bisherigen Mitteln nicht zufriedenstellend diagnostizierbaren Übertrainingseffekte zu entlarven, ist für den Bereich Prävention und Rehabilitation der Sportmedizin die Früherkennung von vegetativen Dysfunktionen, die nachweislich mit Herzkreislauferkrankungen in Zusammenhang stehen, denkbar.
Neue Aspekte durch die HRV dürfen, neben Erkenntnissen in der Sportmedizin, besonders in der Diagnostik und Prävention von kardiovaskulären Erkrankungen erwartet werden.
Hinsichtlich der Beurteilung regenerativer Vorgänge und hier vor allem der Einflüsse bestimmter äußerer Bedingungen auf diese Parameter sind unsere Forschungsarbeiten rund um den Friluftsliv-Lehrgang der Deutschen Sporthochschule Köln in Norwegen von besonderem Interesse.
Friluftsliv (wörtlich übersetzt „Freiluftleben”) ist eine originär norwegische Lebensphilosophie, die eine elementare und naturnahe sowie aktivitätsorientierte Lebensweise beschreibt. In Norwegen und zunehmend auch in anderen europäischen Ländern wird dieses Konzept als Ausbildungsschwerpunkt gelehrt und hat längst Einzug in das Alltagsleben gehalten. So müssen z. B. Schüler in Norwegen einen festen Teil ihres Wochenpensums an Unterrichtsstunden im Freien, also unter Friluftslivbedingungen, absolvieren.
Unsere ersten Untersuchungen der HRV in Norwegen fanden im Rahmen des Friluftsliv-Winterlehrgangs im März 2003 statt, dazu wurden freiwillige Probanden jeweils morgens vor dem Frühstück in der oben beschriebenen Art und Weise untersucht (Abb. [2]).
Abb. 2: Messung der Herzfrequenzvariabilität nach einer Nacht im Iglu. (Foto: Lila Fotopool)
Die Fragestellung zielte auf die individuellen Entwicklungen im Wochenverlauf ab, besonders vor dem Hintergrund einer ungewohnten körperlichen Aktivität hinsichtlich Intensität und Technik. An Aktivitäten wurden neben dem nordischen Skilauf das Wandern mit Schneeschuhen, das Bauen und Vorbereiten von Schneehöhlen und Iglus sowie die Übernachtung in diesen, also weitgehend unter freiem Himmel, ausgeführt. Dies war für nahezu alle Teilnehmer ungewohnt und technisch sowie körperlich bezüglich Intensität und Umfang der Belastung ungewohnt und somit zusätzlich mit einem gewissen Stress verbunden.
Neben der Messung der Herzfrequenzvariabiliät wurde vor jeder Messung ein Fragebogen ausgefüllt, der das momentane subjektive Empfinden und die evtl. vorhandenen körperlichen Einflussgrößen auf das Befinden und das Vegetativum evaluieren sollte. Besondere Bedeutung liegen hier auf der Nahrungsaufnahme, dem Getränkekonsum (v. a. Kaffee und Alkohol) dem subjektiven körperlichen Erholungszustand und dem Schlaf der letzten Nacht.
Im Wochenverlauf zeigten die hier ausgewählten sechs Probanden insgesamt einen inhomogenen Verlauf. Die unterschiedlichen Verläufe dürften allerdings größtenteils aus den individuell völlig verschiedenen Grundvoraussetzungen, auch hin-sichtlich körperlicher Aktivität, resultieren. So war beispielsweise eine Probandin als Hochleistungssportlerin im Schwimmen vor Beginn des Kurses im Trainingslager, hatte bis zu 6 Std./Tag trainiert und befand demzufolge die Belastungen des Lehrgangs als beinahe erholsam. Für einen anderen, dessen sportliche Aktivität sich auf ein Minimum beschränkte, war das Tagespensum, vor allem in den ersten Tagen des technischen Herantastens an den Skilanglauf, eine echte Herausforderung, die durchaus nicht ohne Blessuren vor sich ging, also körperlichen und mentalen Stress bedeutete.
Einen durchweg positiven Verlauf nahmen die gemessenen Total-Power-Werte der Probanden in den Tagen der Übernachtung im Freien, es führte also (mit Ausnahme VP 4) bei allen zu einer verbesserten nächtlichen Regeneration, diese im Freien bzw. einer Schneehöhle zu verbringen (Abb. [3]). Dies ist besonders erstaunlich, da dies eine durchschnittliche Temperaturdifferenz von mindestens 20 Grad Celsius zur ansonsten gewohnten Schlafumgebung bedeutete.
Es bleibt allerdings offen, ob die Außentemperatur als konkrete Ursache zu bezeichnen ist oder vielmehr andere Faktoren wie das Fehlen jeglicher beeinflus-sender menschlicher und umweltbedingter Faktoren. Hieraus ergibt sich die Fragestellung, die in den nächsten Friluftsliv-Lehrgängen im Winter, aber auch im Sommer beantwortet werden soll.
Abb. 3: Darstellung der Total-Power-Messung vor und nach der Übernachtung in den Schneehöhlen/Iglus.
Korrespondenzadressen
Jo Latsch
Institut für Kreislaufforschung und Sportmedizin · Deutsche Sporthochschule Köln
Carl-Diem-Weg 6
50933 Köln
Phone: 02 21/49 82 - 70 80
Fax: 02 21/49 82 - 9 06
Email: latsch@dshs-koeln.de
Dr. Dieter Lagerstrøm
Institut für Kreislaufforschung und Sportmedizin · Deutsche Sporthochschule Köln
Carl-Diem-Weg 6
50933 Köln