Zentralbl Chir 2005; 130(1): 1-6
DOI: 10.1055/s-2004-836267
Originalarbeiten und Übersichten

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Bedeutet Evidenz-basierte Chirurgie eine Abkehr von der ärztlichen Therapiefreiheit?

Does Evidence-based Surgery Harm Autonomy in Clinical Decision Making?J. Loss1 , E. Nagel1
  • 1Institut für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften, Universität Bayreuth
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Publication Date:
17 February 2005 (online)

Zusammenfassung

Der Evidenz-basierten Medizin (EbM), die in den Klinikalltag durch Evidenz-basierte Leitlinien Eingang findet, werden in der chirurgischen Ärzteschaft häufig Bedenken entgegengebracht. Befürchtet wird v. a. eine Einschränkung der Therapiefreiheit. Vor dem Hintergrund, dass die Medizin keine reine Naturwissenschaft darstellt, sondern sich auch als Kunst oder praktische Wissenschaft versteht, wird die EbM mit einer Schematisierung ärztlichen Handelns in Verbindung gebracht, die die Gefahr der Verrechtlichung bis hin zur Defensivmedizin birgt. Auch kann eine Behinderung des Fortschritts resultieren. Doch gerade um diesen Schwierigkeiten vorzubeugen, sollte die Ärzteschaft sich an die Spitze der Leitlinienbewegung setzen, um dabei einer zu starren Regulierung Einhalt zu gebieten. Denn auch das Fehlen medizinischer Standards kann die Therapiefreiheit dadurch bedrohen, dass den vorgegebenen ökonomischen Zwängen häufig zu wenige auf Evidenz beruhende medizinische Handlungsanweisungen gegenübergestellt werden können. Auch darf nicht übersehen werden, dass der Begriff der Therapiefreiheit immer wieder als berufspolitisches Instrument benutzt worden ist. In diesem Kontext ist eine Rückbesinnung auf die abendländische Tradition sinnvoll, die den Begriff der Freiheit untrennbar mit Gewissenhaftigkeit und vernünftigem Denken verbindet.

Abstract

Evidence-based clinical guidelines in surgery are frequently confronted with scepticism by the medical staff, especially because a confinement of free decision making in therapy is expected. Considering that medicine is not merely natural science, but can as well be comprehended as social science or art, evidence-based medicine (EbM) may lead to an oversimplified and rigid standardization in medical care (“cook book medicine”). In addition, scientific progress might be prevented by inflexible guidelines. However, it is important for surgeons to engage in the development of evidence-based guidelines in order to put forward their interests, because it is the lack of medical guidelines that might threaten free decision making in surgery - by not confronting economical pressure with decisive minimal standards in medical care. Therapeutical freedom is a substantial principle in medicine, but it should be considered that according to occidental tradition, “freedom” is necessarily involving reason and conscentiousness.

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Prof. Dr. med. Dr. phil. Eckhard Nagel

Institut für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften · Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät Universität Bayreuth

95444 Bayreuth

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Email: eckhard.nagel@uni-bayreuth.de

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