Z Sex Forsch 2005; 18(1): 10-13
DOI: 10.1055/s-2005-836417
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Ende einer Party[*]

H. Bech
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Publikationsdatum:
13. April 2005 (online)

Fabelhafter Freud

Freuds Erzählungen über die Sexualität sind wahrhaft fantastisch. Ihre, wenn man so will, empirische Substanz sind Kinderfantasien, mehrfach verfremdet: imaginierte Erinnerungen Erwachsener an kindliche Fantasien, hervorgelockt vom fabulierenden Freud. Noch dazu die Fantasien solcher Erwachsener, die „neurotisch” oder „pervers” genannt werden konnten und die unter den unglaublichen Körperregimen der bizarren Oberklasse der österreichischen, deutschen und anderer Reiche litten. Auf diesem wirklich fantastischen Fundament - unter Zugabe einer erheblichen Dosis kreativer Einbildungskraft - errichtete Freud seine erfinderischen Erzählungen über „Triebe”, „Phasen”, „Objektbesetzungen”, „ödipale Ängste” und mörderische Wünsche als Ausdruck einer imaginären Substanz, die er „Sexualität” nannte. So vervielfältigte er die Puppen in der Puppe seiner mitteleuropäischen Version der russischen Matrioschka. Dieser verblüffenden Konstruktion mussten nur noch die Erzählungen von den (erstaunlicherweise ererbten) kollektiven Erinnerungen an die tollen Szenen aus dem Leben der Urhorde als Stützmauer hinzugefügt werden.

Als pure Fiktionen sollten Freuds Erzählungen dann auch nach den Kriterien, die für Geschichten und Märchen maßgeblich sind, beurteilt werden. Eines dieser Kriterien ist, ob sie im Hinblick auf die Lebensführung (im Sinne Max Webers) ergiebig oder fruchtbar sind. Märchen und andere Geschichten können ein neues Licht auf die Bedingungen und Möglichkeiten des Lebens werfen, neue Horizonte öffnen für Verstehen, Träume, Sehnsüchte, Stimmungen und Handlungen. Man könnte von pragmatischen Kriterien im Hinblick auf die Qualität der Lebensführung sprechen. Gute Geschichten müssen nicht in erster Linie die Wirklichkeit „widerspiegeln” oder deren Ursachen und Wirkungen, deren Wesen und Oberflächenerscheinungen repräsentieren. Vielmehr weisen sie Horizonte auf, die helfen können, Veränderungen zum Besseren hervorzubringen. Wie steht es mit Freuds Sexualgeschichten in dieser Hinsicht? Betrachten wir zwei Beispiele.

Was der Homosexuelle in seiner Beziehung mit dem anderen Mann eigentlich sucht, ist - so das freudianische Märchen - die Vereinigung mit der Mutter und, zur selben Zeit, die Trennung von ihr. Von Kindheit an ist die Mutter die große, mächtige Figur in seinem Leben: Er liebt sie, er möchte mit ihr vereint sein, und zugleich hat er Angst davor, dass sie ihn verschlingt und dass er seine männliche Autonomie verliert. Deshalb möchte er sich von ihr trennen und seine Männlichkeit in einer Beziehung mit einer anderen Frau bestätigen. Doch davor hat er auch Angst, denn er riskiert, die Eifersucht der Mutter zu erregen und ihre Liebe zu verlieren. Was tun? Er findet einfach einen anderen Mann anstelle einer anderen Frau. So kann er seiner Mutter treu bleiben und seine Unabhängigkeit (= Geschlechtsdifferenz) ihr gegenüber durch einen Schuss Maskulinität aus dem Geschlechtsverkehr mit einem anderen Mann bestärken. Und vielleicht ist er bei der Fellatio sogar mit den mütterlichen Brüsten symbolisch vereinigt. Doch er ist seiner so unsicher, dass er auf die Bestätigung anderer vollkommen angewiesen ist, obwohl er nie wirklich von ihnen bestätigt werden kann, denn er kann sich nicht binden und nicht dulden, dass der andere sich an ihn bindet, weil er Angst hat, sich selbst zu verlieren, und ist sowieso unfähig, an irgendjemand anderem als an sich selbst Interesse zu finden. So muss er die Männer beständig auswechseln und versuchen, sich mit neuen Männlichkeitsschüssen selber Mut zu machen. Ziemlich lebenspragmatisch!

Unser zweites Beispiel betrifft „einen Fall von Fußfetischismus” (um den psychoanalytischen Jargon zu paraphrasieren). Ein Kopenhagener Fetisch-Club hat mich vor kurzem zu einem Vortrag eingeladen. Zur Belohnung durfte ich an der Nachtparty teilnehmen. Zu meiner Enttäuschung (so muss ich zugeben) war das Partythema „Regenbekleidung”. Glücklicherweise wurde diesem Dresscode nicht mit Nachdruck Geltung verschafft, obwohl mein Baumwollhemd beim Einlass Stirnrunzeln hervorrief. Unter den vielen interessanten Partygästen, die ich traf, war ein Mann, dessen Leidenschaft es war, Frauenfüße zu liebkosen. Früher, so erzählte er mir, sei es unerlässlich gewesen, dass die Zehennägel rot lackiert waren und keinesfalls durfte der zweite Zeh länger sein als der große. Mit den Jahren aber habe er diese strikten Kriterien gelockert, er habe sogar gelernt, auf den Körper der Frau oberhalb der Füße zu gucken. Dadurch werde sein Kontakt mit den Frauen intensiviert, die sich zuvor wohl etwas reduziert gefühlt hätten.

Dies alles, so stellte ich zufrieden fest, war ganz auf der Linie meiner strikt ästhetischen Betrachtungsweise des „Fetischismus”, die ich in meinem Vortrag am Nachmittag dargelegt hatte (und auf die ich zurückkomme). Dann aber sagte er: „Ich möchte wissen, warum ich so bin.” Ziemlich erstaunt und ein wenig verärgert fragte ich ihn, warum er das wissen wolle und welche Art von Erklärung ihn zufrieden stellen könne. Er fühle sich, so versicherte er, keineswegs beschämt, anders als die anderen zu sein, das habe er hinter sich. Er wollte es einfach nur wissen. Eher ein wenig garstig als liebevoll entschied ich mich, ihm eine Erklärung anzubieten, und zwar eine psychoanalytische: Er leide an exzessiven Kastrationsängsten und deshalb sei er unfähig, sich mit der Tatsache abzufinden, dass Frauen keinen Penis haben. Folglich - unterstützt vielleicht von dem zufälligen Anblick eines Fußes in einem Moment der Erregung - ersetze er den fehlenden Penis der Frau durch ihren Fuß. Der rote Glanz des gewichsten Fußnagels sei dabei ein symbolisches Äquivalent der roten Glans des gewichsten Penis. Ich fragte ihn, ob diese Erklärung seine Wissbegier zufrieden stellte. Sie tat es nicht, und irgendwie trieben uns die Wellen der Party auseinander.

Natürlich stellte ihn die Erklärung nicht zufrieden, so wenig wie die freudianische oder posthum-freudianische über Trennungen und Fellatio den „Homosexuellen” zufrieden stellt. Ungeachtet des fantastischen Anspruchs auf Wahrheit, mit dem solche Geschichten präsentiert werden, bieten sie keinerlei fruchtbare Perspektiven oder Bereicherungen, wie man sein Leben führen kann.

1 Aus dem Englischen von Gunter Schmidt, Hamburg, und Henning Bech, Kopenhagen.

1 Aus dem Englischen von Gunter Schmidt, Hamburg, und Henning Bech, Kopenhagen.

2 Zu den folgenden Ausführungen inspirierte mich die kritische Lektüre der Werke von Martin Heidegger, Maurice Merleau-Ponty, Walter Benjamin, Otto Friedrich Bollnow, Michel Foucault, Zygmunt Bauman und Gernot Böhme.

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