Z Sex Forsch 2005; 18(1): 67-69
DOI: 10.1055/s-2005-836422
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Der Mann auf dem Podest

R. Lautmann
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Publication Date:
14 April 2005 (online)

Mit den „Drei Abhandlungen” besitzen Überlegungen über sexuelle Interaktionen bis heute ein gedankliches Fundament. Allerdings gehen sie nicht mehr unmittelbar von Freuds Essay aus, dieser wirkt vielmehr aus dem Hintergrund. Selbst die bedeutendsten Werke verlieren ihre Aktualität, ja das müssen sie sogar, um zum „Klassiker” aufzusteigen und dann ins „Archiv” abzusinken. Das heißt nicht, dass sie an Qualität verlören, eher im Gegenteil. Nur die Art des Einflusses wandelt sich, sprechen doch Klassiker und denkarchäologisch grundlegende Werke vermittelt durch das seither Gedachte zu uns.

Die „Drei Abhandlungen” haben buchstäblich die Bahn gebrochen, um sexuelles Handeln als sozialen Vorgang betrachten zu können. Dies gilt keineswegs nur für die mikrotheoretische Sicht, also für die Frage, wie die Einzelnen in eine erotische Situation hineinfinden und dann sich etwa als Paar arrangieren. Structure & agency, das große Grundproblem aller Soziologie, empfängt für die Sexualität bereits 1905 entscheidende Impulse. Wie Freud hier das Geschlechterverhältnis differenziell zuspitzt (heute anstößig) und bis in die Aktionsdetails hinein verfolgt - ähnlich dann beim Generationenverhältnis (durch das bis heute stimulierende Ödipusgleichnis) -, klärt auf eine vorbildliche Weise das schwierige Verhältnis zwischen System und Aktion.

Daher konnte ich früher behaupten, Freud - bei allem, was er sonst noch ist - sei der wichtigste Sexualsoziologe. So geschrieben in den 1980er-Jahren, als ich die Sexualität in all ihren Facetten soziologisch aufzurollen begann. Wen sonst hätte man als Großautor benennen können? Entstehung, Verlauf und überindividuelle Bezüge des Sexuellen werden bereits in den „Drei Abhandlungen” als zwischenmenschliche Beziehung und gesellschaftliche Struktur gefasst. Zugleich aber war die Behauptung von „dem Größten” ein bisschen provozierend gemeint und an die Soziologie adressiert, die sich auf diesem Gebiet nie nachhaltig engagiert hat. Meine Lektüre soziologischer Klassiker, auf der Suche nach Bemerkungen zur erotisch-sexuellen Sphäre, verlief allzu enttäuschend. Ich landete bei der Familienforschung, die aber das Licht im Schlafzimmer ausknipst. Die Freud-Lektüre war hier eine Labsal - aber keine Soziologie.

Später entdeckte ich Georg Simmel, der sich nicht auf Freud bezieht und der den Platz des Klassikers in einer Sexualsoziologie beanspruchen könnte, allerdings noch nie dazu aufbereitet worden ist (vonnöten wegen der übers gesamte Werk verstreuten Bemerkungen). Und man darf all die Soziologen nicht vergessen, die von Freud gelernt haben: Norbert Elias, William Simon und John H. Gagnon vor allem. Der einzige Großsoziologe, der die Erkenntnisse der Psychoanalyse in seine Theorie eingebaut hat, war (vor einem halben Jahrhundert) Talcott Parsons. Den Platz des Außenseiter-Anregers, den Freud hier einmal innehatte, nimmt heute Michel Foucault ein.

Die erste Ausgabe der „Drei Abhandlungen”, die ich erwarb, war ein Fischer-Taschenbuch, gedruckt (und mutmaßlich gekauft) im Jahre 1955. Damals suchte ich aber keine Soziologie, sondern Aufklärung und Verständnis, nach dem Schock der Lektüre von Schelskys „Soziologie der Sexualität”. Bevor man nicht mit dem eigenen Verlangen und einer ihm gemäßen Lebensform im Reinen ist, wird man sich nicht wissenschaftlich, therapeutisch oder sonstwie professionell dem Thema Sexualität nähern können. Als Ratgeberliteratur sind die „Drei Abhandlungen” indes ungeeignet, und so haben sie bei mir zunächst auch versagt. Ich musste ohne Sachbücher meinen Weg finden (die Belletristik leuchtete heller voran).

Für eine im strengen Sinne soziologische Beschäftigung schreckt man vor Freuds Schriften deswegen zurück, weil sie klinisch konnotiert sind. Sie lenken den Blick auf Pathologisches und Problematisches - so scheint es jedenfalls dem Leser, so vermittelt es die Rezeptionsgeschichte. Vielleicht geschah dies auch nur mir so, als ich 1963 in der (etwas einseitigen) Liebesbeziehung zu einer klugen Psychologin erneut mit Freuds „Abhandlungen” konfrontiert wurde. Der Autor wurde jetzt auf ein hohes Podest gehoben; ich bewunderte ihn grenzenlos, ohne mich seinen Lehren unterwerfen zu wollen. (Nur auf die Couch begab ich mich für einige Jahre.) Allein das Deutsch, welches er schreibt! Und die unnachahmliche Mischung aus Empathie und Skepsis, die als ein Zugleich von Nähe und Distanz fasziniert.

Freud als Meister der Kur und als der „Biologe der Seele” (Sulloway) - lässt sich ihm ein „Soziologe der Libidinalität” an die Seite stellen? Versucht wurde das noch nicht, lohnen würde es, doch mittlerweile mag es dafür zu spät sein. Eine unübersehbare Schar von Gefolgsleuten hat an dieser Linie mitgewirkt; ich nenne nur die, die mir zuerst einfallen: Wilhelm Reich, Herbert Marcuse, Alfred Lorenzer, Volkmar Sigusch, Martin Dannecker. Ginge ich jetzt ans Bücherbord, schlüge in meiner Literaturkartei nach - zahlreiche weitere, von Freuds „Abhandlungen” beeindruckte SozialwissenschaftlerInnen kämen mit auf die Liste, angefangen bei den vielen in Frankreich. Da dieser Denkstrom keine Soziologie in einem engeren Sinne zu sein beansprucht bzw. nicht darauf reduziert werden möchte, holpert es mit den Anschlüssen der Psychoanalyse an die Soziologie bis heute.

In meiner Gesamtdarstellung zur „Soziologie der Sexualität” (2002) bekam kein Autor, keine Autorin ein Einzelkapitel. Das war mit dem Versuch einer Systematik nicht zu vereinbaren (und wurde vom Rezensenten dieser Zeitschrift nicht verstanden). Eine Wissenschaft wird zwar von Individuen betrieben und vorwärts gebracht, bestehen kann sie indessen nur als Gefüge von Erkenntnissen und Fragen. Im psychoanalytischen Schulenstreit geht es - für meinen Geschmack - zu oft um Namen, die dabei den unangenehmen Beigeschmack von Gurus annehmen. Solcher Personalisierung hat wohl auch Freud nicht widerstanden, wenngleich er sie taktisch verstand, weil eine veritable Fachdisziplin gegen heftige Anfeindungen zu etablieren war.

Der Wirkungserfolg eines einzelnen Autors und eines bestimmten Werks wird zwar von der Wissenschaftsforschung mit dem Citation Index gemessen; doch nur Anhänger der Quantifizierung werden das weise finden. Die Effekte der „Drei Abhandlungen” bestimmen sich nicht danach, wie häufig sie in Fußnoten auftauchen (sie tun es oft). Die Gedankenketten knüpfen sich komplizierter und vermittelter, wobei die Stifter oft vergessen werden. Eine ideengeschichtliche Analyse wird die „Abhandlungen” zwar nicht als den Urknall soziosexueller Forschung, wohl aber als eines von deren Schlüsselwerken benennen. So habe ich denn auch in meinem langen Überblick immer wieder die „Abhandlungen” angeführt - verstreut, in verschiedenen Zusammenhängen, mal kritisch, mal Bezug nehmend, und damit deren Strahlkraft belegend.

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