Z Sex Forsch 2005; 18(1): 70-72
DOI: 10.1055/s-2005-836423
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Freuds „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie” oder Wie man mit dem Hammer analysiert

S. Lewandowski
Further Information

Publication History

Publication Date:
14 April 2005 (online)

Von Nietzsche stammt der Hinweis, man müsse mit dem Hammer philosophieren, und zwar mit einem, der, wisse man ihn wie eine Stimmgabel zu gebrauchen, die Hohlheit der Götzen zum Tönen bringe. In seinen „Drei Abhandlungen” befragt Freud die Götzen der Heterosexualität, der kindlichen Unschuld und der Alltagsvorstellungen vom fortpflanzungsorientierten Sexualtrieb mit dem Hammer der Psychoanalyse.

Die „Drei Abhandlungen” markieren den Beginn der konstruktivistischen Sexualwissenschaft - gewissermaßen avant la lettre. In seiner berühmten - freilich erst später angefügten - Fußnote [1: S. 44, Fn. 1] reißt Freud die Grenzen zwischen dem scheinbar Normalen und dem Abweichenden, zwischen dem Normalen und dem scheinbar Abweichenden ein.[*] Dies geschieht mit einer Radikalität, die einem noch heute den Atem zu rauben vermag, sodass gegen das hohle Klingen der Götzen, hat man es einmal sirenengleich vernommen, kein Wachs mehr hilft und auch keine Fesselung an den Mast alltäglicher Vorstellungen: „Im Sinne der Psychoanalyse ist also auch das ausschließliche sexuelle Interesse des Mannes für das Weib ein der Aufklärung bedürftiges Problem und keine Selbstverständlichkeit, der eine im Grunde chemische Anziehung zu unterlegen ist” [1: ebd.].

Um nichts Geringeres als um eine Genealogie des Normalen aus dem Abweichenden geht es also. Freuds wahrhaft revolutionärer Paradigmenwechsel liegt darin, dass er das Normale - und nicht nur die Abweichungen - zu einem Erklärungsproblem macht und den ineinander verschlungenen Verwebungen und Verwurzelungen des Normalen und des Pathologischen nachspürt. Den sexualwissenschaftlichen Rubikon überschreitet Freud also gerade indem er veranschaulicht, dass zwischen Normalität und Perversion ein solcher gar nicht fließt - oder genauer: dass es sich eher um ein verzweigtes Delta denn um einen geraden Flusslauf handelt.

Freuds eigentliche Leistung liegt nicht so sehr in seinen Entdeckungen, sondern in dem radikalen Wechsel der Perspektive, den er vornimmt, obwohl sein Material einen solchen nicht erzwingt. Dieser Paradigmenwechsel ist das eigentliche Thema, das Fundament, der rote Faden, der Stachel und Kern der „Drei Abhandlungen”, und er nimmt die konstruktivistische Wende in der Sexualwissenschaft vorweg.

Als ob die These von der Relativität und der daraus folgenden Erklärungsbedürftigkeit des Normalen nicht schon mehr als genug wäre, erklärt Freud das Normale wie das Pathologische aus denselben Wurzeln, so dass nicht nur das Pathologische als Variante des Normalen, sondern auch das Normale lediglich als eine Variante des Pathologischen erscheint. Darüber hinaus erfährt das Verhältnis von Perversem und Normalem eine Umkehrung, indem Freud Perversionen nicht als Entartungen des Normalen beschreibt, sondern das Perverse als das Ursprünglichere, aus dem sich das Normale dadurch entwickelt, dass es von ihm abweicht. Am Beginn steht das polymorph-perverse Kind und am Ende - nach einer langen und in Freuds Augen ebenso gefahrvollen wie immer gefährdeten Entwicklung - der normale, heterosexuelle Erwachsene. Das Normale, das sich Freud - inkonsequenterweise - als heterosexuell vorstellt, ist ebenso wie das Abweichende eine psychische (und soziale) Konstruktionsleistung und fällt nicht vom Himmel.

Nach hundert Jahren und diversen sexuellen Revolutionen kann man sich freilich fragen, was von den „Drei Abhandlungen” noch bleibt - gerade heute, wo von Sexualität zu sprechen zumindest medial so selbstverständlich geworden ist, dass man kaum mehr hinhören mag; wo Perversionen veralltäglicht wurden; wo sich für infantile - es sei denn missbrauchte - Sexualität niemand mehr interessiert; wo die Normalität des Normalen brüchig geworden ist und man tagtäglich Wesen begegnet, die Krafft-Ebing das Fürchten gelehrt hätten und neben deren Normalität die von Freud angesprochenen Perversionen geradezu als niedlich erscheinen. Wieso sich also angesichts des Verfalls des Sexuellen, in Zeiten, in denen ein Spaziergang über die Hamburger Reeperbahn als „clean family entertainment” erscheint, Freuds „Drei Abhandlungen” zuwenden - wenn nicht aus nostalgischen Beweggründen oder um sich gegen alle Realität vorzuspielen, dass der Stachel des Sexuellen immer noch lockt?

Liest man als Soziologe die „Drei Abhandlungen”, so fallen erstaunliche Parallelen zwischen Freuds Analyse sexueller Perversionen als Dissoziation des Normalen und soziologischen Differenzierungstheorien auf, wenngleich die jeweils postulierten normalen Entwicklungslinien einander entgegengesetzt verlaufen. Während Freud zeigt, wie aus polymorph-pervers Differentem sich die normale Sexualität als Zusammengesetztes entwickelt und Perversionen als Verfehlen bzw. Zerfall dieser höheren Integrationsstufe, mithin als Desintegration oder Ausdifferenzierung zu verstehen sind, beschreibt das soziologische Differenzierungstheorem soziale Ausdifferenzierung, also die Zergliederung ehemals vorhandener Einheiten, als normale gesellschaftliche Entwicklungstendenz. In Freudscher Terminologie wäre somit die moderne, funktional differenzierte Gesellschaft als pervers zu beschreiben. Und tatsächlich bringt sie ja ein Aufblühen perverser Sexualitäten hervor, die sich nun allerdings als Lifestyles und sexuelle Optionen gewanden. Diese Öffnung des Normalen für das Abweichende und die Normalisierung des Abweichenden verdanken sich - ebenso wie der Zerfall der strikt heterosexuellen Ordnung und die zunehmende, zu Freuds Zeiten kaum für möglich gehaltene Toleranz bzw. Indifferenz gegenüber sexuellen Abweichungen - den Ausdifferenzierungsprozessen der modernen Gesellschaft. So befördern soziale Differenzierungsprozesse eine Ausdifferenzierung der „normalen”, von Freud als zusammengesetzt erkannten Sexualität.[*] Bei Freud bleiben freilich diejenigen gesellschaftlichen Kräfte weitgehend unthematisiert, die einerseits die Verlötungen hervorbrachten, die die „normale” Sexualität zusammenhielten, und andererseits die Abweichungen in Richtung Perversion drängten. Die seither erfolgten Differenzierungsschübe haben beides zerlegt: die normale Sexualität ebenso wie einen nicht geringen Teil der Perversionen - und doch ist der Hammer noch nicht gefunden, der die „Drei Abhandlungen” hohl klingen lässt.

Die offene Flanke der „Drei Abhandlungen” liegt jedoch darin, dass der soziale Wandel des Sexuellen unreflektiert bleibt - es fehlen gewissermaßen drei (oder mehr) Abhandlungen zur Sexualsoziologie. Freilich ist dies nicht Freuds Thema, aber eine Lektüre der „Drei Abhandlungen” macht dieses Fehlen schmerzlich bewusst. Insofern bleiben sie Stachel wie Ansporn, gerade auch weil sie einen Teil des Werkzeugs - oder sollte man sagen: den Hammer? - bereithalten, den eine gesellschaftstheoretisch informierte Soziologie des Sexuellen benötigt.[*] So sind sie in meinen eigenen Versuchen immer präsent - auch wenn sie nicht explizit genannt werden. Und bewusst bleibt auch, dass man noch immer von Freuds Licht zehrt und doch aus seinem Schatten nicht herauszutreten vermag.

  • 1 Freud S. Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Gesammelte Werke (1905). Bd. 5. London: Imago, 1942; 27-145
  • 2 Lewandowski S. Sexualität in den Zeiten funktionaler Differenzierung. Eine systemtheoretische Analyse. Bielefeld: transcript, 2004

1 Besagte Fußnote verdeutlicht die bereits im „Urtext” angelegten Aussagen und ist in ihrer Deutlichkeit wohl vor allem für diejenigen so formuliert, die die feineren Hohltöne der angeschlagenen Götzen nicht zu vernehmen wussten.

2 Nähere Ausführungen hierzu finden sich an anderer Stelle [2].

3 Darüber hinaus zeigen sie nicht zuletzt, was sich mit einigen nüchternen Differenzierungen und kühl angesetzten Schnitten alles erreichen lässt und wie wichtig es ist, Fußnoten genau zu lesen.