ZFA (Stuttgart) 2005; 81(4): 157-159
DOI: 10.1055/s-2005-836469
Kommentar/Meinung

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

IGEL: Ein Weg zu mehr Patientennähe in der Medizin

IGEL: An Approach to Patient Genteredness in MedicineC. Seeber1 , K. Weckbecker1
  • 1Akademische Lehrpraxis der Universität Göttingen
Further Information

Publication History

Publication Date:
14 April 2005 (online)

Allem vorangestellt sei der Paragraph aus dem Sozialgesetzbuch V, aufgrund dessen wir die Diskussion um die IGEL führen müssen. Es besteht nach SGB V § 12 ein Wirtschaftlichkeitsgebot. Im Absatz 1 heißt es: „Die Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen” [1].

Äußert ein Patient darüber hinaus Wünsche (und sei es der nur organisatorisch und nicht medizinisch notwendige Hausbesuch) so handelt es sich um eine Individuelle Gesundheitsleistung, für die der Patient selber zahlen muss, da sein Arzt diese Leistung nur unter besonderen Umständen umsonst erbringen darf. In der Musterberufsordnung der Bundesärztekammer heißt es: „Die Honorarforderung muss angemessen sein. Für die Bemessung ist die Amtliche Gebührenordnung (GOÄ) die Grundlage, soweit nicht andere gesetzliche Vergütungsregelungen gelten. Ärztinnen und Ärzte dürfen die Sätze nach der GOÄ nicht in unlauterer Weise unterschreiten […]. Ärztinnen und Ärzte können Verwandten, Kolleginnen und Kollegen, deren Angehörigen und mittellosen Patientinnen und Patienten das Honorar ganz oder teilweise erlassen [2].

Wenn wir als Ärzte Leistungen erbringen, die nicht über den EBM abgedeckt sind, so erbringen wir definitionsgemäß IGEL. Im Deutschen Ärzteblatt [3] heißt es hierzu: „Gebührenrechtlich betrachtet handelt es sich bei Individuellen Gesundheitsleistungen (IGEL) um privatärztliche Leistungen, die - wie in der Amtlichen Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) definiert - über das Maß einer medizinisch notwendigen ärztlichen Versorgung hinausgehen” und nur dann berechnet werden können, wenn „sie auf Verlangen des Zahlungspflichtigen erbracht worden sind”.

Soweit besteht sicher Einigkeit. Haarig wird die Sache erst jetzt. Ich möchte mich über das medizinisch Sinnvolle gar nicht streiten. Ich bin sicher, dass jeder Leser Berichte über anerkannte Therapien kennt, die nach Jahrzehnten in der Mottenkiste der Medizin verschwunden sind - und ich bin mir eben so sicher, dass jeder von uns sich an Methoden erinnert, die belächelt oder befehdet wurden und die heute Stand der Wissenschaft sind. In diesem Zusammenhang seien nur die Worte Digitalis und Semmelweis erwähnt.

Ich lege den Schwerpunkt meiner Betrachtung auf das ärztliche Verhalten gegenüber dem Patienten. Behandele ich als Arzt in erster Linie Menschen, die manchmal unvernünftige, nicht nachgewiesene oder einfach nur über das Notwendige hinausreichende Dinge wollen, dann werde ich um das IGEL-Konzept nicht herumkommen. Wenn ich jedoch ein Arzt bin, der in erster Linie Krankheiten behandelt, dann ist sicher in erster Linie wichtig, was die Leitlinien und die neueste Literatur empfehlen - und wie ich den Patienten dazu bringen kann, mir hier zu folgen.

Ich plädiere in der Diskussion um die IGEL für den Blick in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland [4]. Der Artikel 2 sagt: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit”.

Hat möglicherweise sogar ein Patient das Recht darauf, medizinisch nicht evidenzbasiertes Wissen bzw. Leistungen in Anspruch zu nehmen? Darf ein Patient entscheiden, dass er Dinge wünscht, die über das Notwendige hinausgehen oder sogar unsinnig sind? In der Regel ist der Parkplatz vor einem Veranstaltungsort, an dem eine ärztliche Fortbildung stattfindet, der schönste Beweis, dass das Notwendige nicht notwendiger Weise von allen begehrt und umgesetzt wird. Die Pannenstatistik des ADAC wird in diesem Jahr in der Klasse der Kleinwagen (größere sind für die meisten von uns sicher nicht notwendig) definitiv nicht von den Fahrzeugen angeführt, die ich hauptsächlich auf solchen Parkplätzen sehe [5].

In der Diskussion um die IGEL geht es häufig allein um das Sinnvolle, das Evidenzbasierte und das Gesicherte in Diagnostik und Therapie. Ich freue mich, dass so viele rationale Dinge in die Betrachtung einfließen. Und ich frage mich, wie es wäre, wenn wieder der Blick auf den Wunsch des Patienten den Mittelpunkt ausmachen würde, weil ich mir sicher bin, dass es die Patienten sind, die im Mittelpunkt unseres Bemühens stehen müssen.

Was habe ich als Arzt davon, einem Patienten von einem Wunsch abzuraten, der ihm nicht schadet? Der Patient wird sich einen anderen Anbieter suchen und bestenfalls beim Kollegen - schlechtestenfalls beim Gesundbeter - landen.

Als ich anfing, mich für die Auseinandersetzung mit dem Thema „IGEL” zu interessieren, da erzählte mir ein Krankenpfleger im Familienkreis, dass er nun eine Ausbildung zum Heilpraktiker mache. Diese dauere 500 Stunden, dann wolle er seine Praxis eröffnen. In wenigen Sekunden stellte ich fest: Da hab ich aber mehr gelernt! Das „Ökotest”-Februar-Heft 2005 enthält einen Test über die Qualität der Behandlung durch Heilpraktiker beim Thema „Rückenschmerz”. Bei 20 getesteten Heilpraktikern kommt der Tester zu folgendem Schluss: „Lediglich die Arbeit von vier Heilpraktikern stufte unser Berater als gut ein, vor fünf Therapeuten würde er aber regelrecht warnen […]. Anna W wollte den Blutdruck unserer Testperson partout durch den Pullover hindurch messen, da sonst Hautschuppen von Patienten mit Psoriasis übertragen werden könnten […]. Abschließend verschrieb sie eine Salbe, deren Verkehrsfähigkeit bereits am 30. Juni 2003 endete” [6].

Wer will meinen Patienten vorschreiben, mein Expertenwissen als Facharzt für Allgemeinmedizin nur im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung zu nutzen?

Eine private Krankenversicherung gibt jährliche Studien bei Emnid zum Gesundheitswesen in Auftrag. 2004 trägt sie den Titel: „Die Deutschen und ihr Gesundheitssystem: Unzufriedenheit und Ängste” [7]. Insgesamt 81 Prozent der GKV-Versicherten meinen, dass es eine ausreichende medizinische Versorgung durch die GKV nicht mehr gibt oder geben wird. 96 Prozent sagen, dass sie für eine gute Versorgung über die GKV-Beiträge hinaus viel Geld bezahlen müssen. - Ist es für uns als gut ausgebildete Ärzte nicht unsere Verpflichtung, unseren Patienten eine gute oder sogar sehr gute Versorgung anzubieten? Laut SGB V steht den Patienten nur eine ausreichende Versorgung zu. Auch eine Zuwendung über dieses ausreichende Maß hinaus ist nicht mehr vom SGB V abgedeckt - auch hier rutschen wir in den Bereich der IGEL. - Mithin: Mehr als Schulnote „vier” steht dem Patienten zulasten der GKV nicht zu. Ich selbst würde mir allerdings Medizin Note „eins plus” wünschen. Vielleicht auch der eine oder andere Kollege!

Als Mediziner tue ich gut daran, eine Nicht-Kassen-Sprechstunde anzubieten und hier für meine Patienten besondere Beratungsangebote zu ermöglichen, die sowohl zeitlich als auch inhaltlich (z. B. Raucherentwöhnung, Reiseimpfberatung, Coaching, Stressbewältigung, Gewichtsreduktion) den Rahmen der GKV sprengen. Meine Patienten können wählen, ob sie dies wahrnehmen wollen - oder nicht. Wichtig ist die Einstellung des Arztes: Will ich mit der IGEL neue Behandlungs- oder Beratungsmöglichkeiten eröffnen, die ich als Arzt für richtig und wichtig für diesen einen Patienten halte? Dann muss ich sie ihm anbieten, dann habe ich als Arzt die ethische Verpflichtung zu diesem Angebot. Wenn ich als Arzt hingegen ein Therapie- oder Beratungsangebot mache, weil ich mir erwarte, dass es meinen Geldbeutel füllt und der Patient derjenige ist, der eben diese meine Beutelfüllung vollziehen soll, dann handele ich zutiefst unärztlich, unethisch und verwerflich, mag die Maßnahme medizinisch gesehen 100 Prozent erfolgreich sein.

Maßstab ärztlichen Handelns muss der innere Kompass sein. Nur dann, wenn ich der Überzeugung bin, dass mein Angebot für den Patienten richtig und gut ist, dann kann ich einen IGEL anbieten. Ein solches Angebot ist zutiefst ärztlich. Für die moralische Bewertung ärztlichen Handels spielt das Ziel, mit dem die Handlung durchgeführt wird, die entscheidende Rolle. So ist die Morphingabe mit dem Ziel der Minderung des Symptoms Schmerzen im Sterbeprozess moralisch nicht verwerflich, auch wenn es durch den atemdepressiven Nebeneffekt des Morphins zu einem früheren Versterben des Patienten kommt. Hier ist für die moralische Bewertung das Ziel der Handlung (Minderung des Symptoms Schmerzen) entscheidend. Dieselbe Handlung wäre mit dem Ziel der aktiven Sterbehilfe in Deutschland strafbar. Dieser Exkurs in die Palliativmedizin hilft bei der Bewertung der IGEL. Nicht die angebotene Leistung selbst ist entscheidend, sondern das Ziel der Leistung. Wenn der Hausarzt seinem Patienten die Leistung anbietet, um den Patienten besser zu behandeln und weil er einen Vorteil für den Patienten sieht, ist dies eine ärztliche Handlung oder sogar Verpflichtung. Wenn das Ziel der Leistungserbringung jedoch vorrangig die Gewinnerhöhung ist, stellt diese IGEL einen Missbrauch der besonders schützenswerten Hausarzt-Patienten-Beziehung dar.

Dadurch, dass ich einen Patienten aufkläre, was ich anbiete - oder was ich für entbehrlich halte - räume ich dem Patienten mehr Wahlmöglichkeiten ein. Ich ermögliche eine bewusstere Entscheidung des Patienten. Und ich nehme ihn ernster mit seinen Bedürfnissen. Auch als Nicht-Experte in medizinischen Fragen respektiere ich seinen Experten-Status im Hinblick auf sich selbst. Und wenn ein Patient bestimmte Dinge nachfragt, die ich als Arzt unter Hinblick auf „primum nihil nocere” akzeptieren kann oder sogar sinnvoll finde - dann werde ich gerne sein Dienstleister.

Interessenkonflikte: keine angegeben

Literatur

  • 1 Sozialgesetzbuch (SGB) Fünftes Buch (V) - Gesetzliche Krankenversicherung. Vom 20. Dezember 1988 (BGBl. I S. 2477, 2482) zuletzt geändert durch Artikel 2 des Gesetzes vom 15. Dezember 2004 (BGBl. I S. 3445) Stand: 1. Januar 2005 zuletzt bearbeitet 22. Dezember 2004 § 12 Abs. 1
  • 2 § 12 Abs. 1 und 2 der (Muster-) Berufsordnung für die deutschen Ärztinnen und Ärzte (Stand 2004). In der Fassung der Beschlüsse des 100. Deutschen Ärztetages 1997 in Eisenach; geändert durch die Beschlüsse des 103. Deutschen Ärztetages 2000 in Köln; geändert durch die Beschlüsse des 105. Deutschen Ärztetages 2002 in Rostock; geändert durch die Beschlüsse des 106. Deutschen Ärztetages 2003 in Köln; geändert durch die Beschlüsse des 107. Deutschen Ärztetages 2004 in Bremen
  • 3 Klakow-Frank R. IgeL = Verlangensleistungen.  Dtsch Arztebl. 2004;  101 956
  • 4 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Art. 2 Abs. 1. Vom 23. Mai 1949 (BGBl. I S. 1), zuletzt geändert durch das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes am 16. Juli 1998 (BGBl. I S. 1822)
  • 5 ADAC .Pannenstatistik d. ADAC. Unter www.adac.de/Auto_Motorrad/pannen_und_maengel/PannenStatistik2003 (Internetzugriff am 15.02.2005)
  • 6 http://www.oekotest.de/cgi/ot/otgs.cgi?doc=34803 (Internetzugriff am 15.02.2005)
  • 7 Continentale-Studie 2004. http://www.continentale.de/cipp/continentale/lib/all/lob/return_download,ticket,guest/bid,397/no_mime_type,0/∼/continentale_studie_2004.pdf (Internetzugriff am 15.02.2005)

Dr. med. Christoph Seeber

Ostersteg 45

26789 Leer

Phone: 04 91/9 27/95 70

Fax: 04 91/6 73 83

Email: chseeber@doktor-seeber.de

URL: http://www.doktor-seeber.de