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DOI: 10.1055/s-2005-837833
Glottographische Verfahren: von der Wissenschaft zur evidenzbasierten Diagnostik und Therapieevaluation
Glottographic Measures from Science to Evidence-Based Clinical ApplicationPublication History
Publication Date:
15 April 2005 (online)
Sehr geehrte Leser,
wenn man ein Heft gestaltet über den aktuellen Stand der objektiven bildgebenden Verfahren zur Darstellung der Kehlkopffunktionen beim Singen und Sprechen, so muss man sich immer vor Augen halten, dass unsere Kenntnisse über die Physiologie der Stimmproduktion, d. h. also die Entstehung der Sprech- und Singstimme vergleichsweise neu sind.
Bis über die Renaissance hinaus wusste man nicht, wo und wie die Stimme produziert wird. Erst der Pariser Anatom Antoine Ferrein erkannte 1741 die wesentlichen Elemente der laryngealen Stimmproduktion. Zu dieser Zeit feierte die barocke Oper mit ihren auch heute noch bekannten Gesangsstars, wie z. B. dem berühmten Farinelli, bereits große Triumphe in ganz Europa. Es war also möglich, auch ohne Kenntnisse über deren Physiologie die Stimme gut auszubilden. Seit jedoch Mitte des 19ten Jahrhunderts der in Paris lebende Gesangespädagoge Manuel Garcia 1854 als erster eine indirekte Laryngoskopie seines eigenen Kehlkopfes beim Singen mittels eines Zahnarztspiegels beschrieb, hat diese Entdeckung zu einem lebhaften wissenschaftlichen Interesse an der Kehlkopfmorphologie und -physiologie geführt.
Seit den grundlegenden Arbeiten von Schönhärl zur praktischen Anwendung der Stroboskopie vor über 40 Jahren steht im klinischen Alltag ein brauchbares und nützliches Instrument zur Beobachtung der Stimmlippenschwingungen zur Verfügung, dessen Anwendung heute für Stimmärzte und Logopäden, aber auch für die Stimmpädagogen selbstverständlich erscheint. Dieses Verfahren stellt jedoch lediglich eine visuelle Darstellung eines Teils der Stimmlippenschwingungen dar. Die so erhobenen Befunde müssen vom Betrachter interpretiert werden, eine rechnerische Auswertung der Bilder steht nicht zur Verfügung. Im Zuge der rasanten Entwicklung der Computertechnologie, der Leistungsfähigkeit von handelsüblichen PCs und ihrer weiten Verbreitung, sind in den letzten Jahren mehrere Verfahren entwickelt worden, mit denen versucht wird, die Schwächen der Stroboskopie auszugleichen und objektive Daten über verschiedene stimmliche Parameter zu gewinnen.
Was können wir also heute tatsächlich über Methoden sagen zur visuellen Darstellung und Analyse des Schwingungsvorgangs im Kehlkopf - sog. glottographische Verfahren - im Sinne einer evidenzbasierten, d. h. auf einer sicheren, auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhenden Datenlage?
Das vorliegende Heft versucht den aktuellen Wissensstand zu den derzeit wichtigsten und auf dem Markt befindlichen glottographischen Verfahren zusammenzustellen und spezifische Problemstellungen herauszuarbeiten, für die eine Anwendung des jeweiligen Verfahrens besonders geeignet oder auch vielversprechend erscheint. Zur Veranschaulichung dienen auch die Farbabbildungen, die dankenswerterweise die Firma Wolf Endoskope ermöglicht hat.
Der Artikel zur Doppelbelichtungsstroboskopie (DBS) stellt ein Verfahren vor, welches als eine wesentliche Weiterentwicklung der Stroboskopie angesehen werden kann, da es durch die Kombination der DBS mit einer Laserabstandsmessung objektive Daten zur Verschlussgeschwindigkeit und zu Asymetrien der Stimmlippen geben kann. Die verschiedenen Verfahren zur Kymographie können für die wichtige Frage der Irregularität in den Stimmlippenschwingungen verwendet werden, auch wenn durch die nun auch kommerziell erhältlichen Systeme der Hochgeschwindigkeitsglottographie eine weitere Methode zur Verfügung steht, mit der wesentliche zusätzliche Informationen über die gesamte Stimmlippenschwingung gewonnen werden können. Auch die spannenden Fragen zur besonderen Physiologie der Sängerstimme (z. B. Registerwechsel, Glissando- und Staccatofunktion) können mittels der Hochgeschwindigkeitstechnik sinnvoll bearbeitet werden. Besonders interessant für die Anwendung dieser Methode im Praxisalltag erscheint die Möglichkeit, Hochgeschwindigkeitsaufnahmen in Zukunft auch farbig aufnehmen zu können.
Zur Klärung einer wesentliche Frage, die bisher mit der Stroboskopie diagnostisch abgeklärt wird, nämlich, ob die Stimmlippenoberfläche mit den darunter liegenden Gewebsschichten verwachsen ist, wie es bei Narbenbildungen oder Karzinomen im Frühstadium der Fall ist, könnte künftig das Verfahren der Optischen Kohärenztomographie einen wertvollen Beitrag leisten.
Erfreulicherweise ist allen hier vorgestellten neuen Methoden gemeinsam, dass sie in der Anwendung für den Patienten nicht belastender sind, als das herkömmliche Verfahren der Stroboskopie. Hinzu kommt, dass - im Gegensatz zur Stroboskopie - diese Technologien die Erhebung von objektiven Daten ermöglichen, welche künftig in Diagnostik und Evaluation von Stimmtherapien eine wesentliche Rolle spielen könnten.
Durch diese nun mögliche Erhebung objektiver Daten wird erstmals die wesentliche Forderung der evidenzbasierten Medizin erfüllt, dass therapeutische Maßnahmen durch wissenschaftlich fundierte Studien evaluiert werden müssen. Diese enge Verknüpfung von Theorie und Praxis wird künftig neue Perspektiven eröffnen.
Priv.-Doz. Dr. med. Bernhard Richter
Universitäts-Hals-, Nasen- und Ohrenklinik
Abteilung Phoniatrie und Pädaudiologie
Lehenerstr. 88
79106 Freiburg
Email: richter@hno1.ukl.uni-freiburg.de