PPH 2005; 11(1): 1-2
DOI: 10.1055/s-2005-857915
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Bildung, berufliche Identität und Qualität

H. Schädle-Deininger
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Publication Date:
16 February 2005 (online)

Wenn man psychiatrische Pflege in der Bundesrepublik im Kontext von Bildung und Bildungspolitik betrachtet, so stellt man fest, dass sie trotz aller Bemühungen in der beruflichen Diskussion in der Aus- und Weiterbildung nicht den ihr zustehenden Stellenwert hat, wenn man die Ausgaben für psychische Störungen und die Anzahl der psychiatrischen Krankenhausbetten betrachtet.

Vor gut einem Jahr ist das neue Krankenpflegegesetz in Kraft getreten. Wenn wir das Gesetz auf uns wirken lassen, so müssen wir zunächst festhalten, dass es weit hinter den angestrebten Reformbemühungen zurückgeblieben ist. Alle in der Pflege, gleich auf welcher Ebene, haben mehr erwartet. Umso unverständlicher wird der Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes, wenn in der Bologna-Erklärung vom 19. Juni 1999, die 29 europäische Staaten unterzeichneten, die Schaffung eines einheitlichen Hochschulraums bis zum Jahre 2010 angestrebt wird. In ihr heißt es: „Ein Europa des Wissens als unerlässliche Voraussetzung für gesellschaftliche und menschliche Entwicklung sowie als unverzichtbare Komponente der Festigung und Bereicherung der Europäischen Bürgerschaft […]” und „[…] Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit des Europäischen Hochschulsystems und die arbeitsmarktrelevanten Qualifikationen der europäischen Bürger [...]”.

Derzeit werden an den Hochschulen Bachelor-(BA) und Masters(MA)-Studiengänge in Folge der Bildungspolitik der Europäischen Union eingerichtet, was ein Schritt in Richtung Vereinheitlichung der Hochschulausbildung in Europa bedeutet. Die größere Vergleichbarkeit der Bildung soll dazu dienen, die Zusammenarbeit, Qualität und Vereinheitlichung in Europa auszubauen. In den europaweit vergleichbaren Abschlüssen und in dem zweistufigen System geht es im ersten Abschnitt, also beim Abschluss Bachelor, sozusagen um die berufliche Bildung, beim Abschluss Master um die Spezialisierung bzw. Vertiefung des Wissens. Beides ist mit „Leistungspunkten” messbar und vergleichbar. Die Punkte, die in jeder Bildungsleistung erworben und gesammelt werden können, erleichtern die internationale Anerkennung und den beruflichen Wechsel, beispielsweise durch Anerkennung bestimmter Punkte auf ein anderes Studienfach. Dadurch wird zwischen den beteiligten Ländern die Flexibilität und Mobilität erhöht, allerdings gleichzeitig auch die Konkurrenz. Aus diesen und sicher noch weiteren Gründen ist zu fragen, warum nicht die Chance für eine tiefer greifende Reform genutzt wurde, um die Ausbildung mehr an den Hochschulen zu verankern, wo doch diese Beschlüsse vor Inkrafttreten des neuen Krankenpflegegesetzes bekannt und unterzeichnet waren.

Bisher haben es jedoch „grundständige” Studiengänge, also die (Grund-)Ausbildung an Hochschulen, bei uns in Deutschland schwer: Sie lassen sich derzeit nur wenig oder gar nicht in die bildungs- und berufspolitische Pflegelandschaft und folglich auch in die Praxis integrieren. Außerdem können die Absolventen auf ihrem Hintergrund augenblicklich keine entsprechenden praktischen Tätigkeiten ausüben, geschweige denn ihrem Bildungsstand angemessene Rollen besetzen. Wenn sich beispielsweise die Ausbildung mehr an den Hochschulen etablieren würde, müssten selbstverständlich auch entsprechende Weiterbildungsstudiengänge in der Pflege etabliert werden, also auch für den Schwerpunkt Psychiatrie.

Da wir zusätzlich möglicherweise länger als vom Gesetzgeber beabsichtigt (er spricht von einer Übergangslösung) mit den Vorgaben arbeiten müssen, gilt es, Ansätze, die sich verändert haben, zu nutzen. Beispielsweise bedeutet dies, die vorgegebene wissenschaftliche Fundierung, die Kompetenzorientierung, Gesundheitsförderung, Prävention, Rehabilitation, Beratung und Anleitung sowie die Orientierung an ambulant vor stationär und an einem Prozess von geplanter Pflege als wesentliche Elemente pflegerischen Handelns zu begreifen.

Für die Ausbildung im psychiatrischen Einsatz bedeutet das, diese Schwerpunkte in der Praxis umzusetzen und in den Mittelpunkt der Lernziele und der Vermittlung in jeder Einrichtung zu stellen. Das heißt weiterhin, die Praxisanleitung und Praxisbegleitung in den zu bewältigenden Aufgaben den Besonderheiten der psychiatrischen Arbeit (Behandlungsverlauf, Beziehungs- und Milieugestaltung usw.) anzupassen, auszubauen und aktiv im beruflichen Alltag hervorzuheben und die Komplexität zu verdeutlichen.

Durch die Verschiebung der Akzente auf Rehabilitation und den ambulanten Bereich hat die Psychiatrie den Vorteil, dass ein differenziertes Versorgungssystem und die dazu gehörige Vernetzung seit längerer Zeit zur psychiatrischen Arbeitsweise gehören und entsprechend eingebracht werden können.

Diese wenigen genannten Veränderungen machen deutlich, dass sich schon allein durch die neuen Schwerpunkte und die neue Berufsbezeichnung (Gesundheits- und Krankenpflegerin) auch in den Fachweiterbildungen etwas in den nächsten Jahren verändern wird.

Deshalb lassen sich Qualitätsniveau und Tätigkeit nicht unabhängig von Bildungsaspekten betrachten und dies zeigt sich im Selbstverständnis und in der Ausübung des Berufes. Zusammengefasst zeigt sich Qualität in der psychiatrischen Pflege vor allem in der Übereinstimmung von geäußerten eigenen Wertvorstellungen und im jeweiligen zielgerichteten Handeln, im Wissen um die eigenen Stärken und Schwächen, im Umgang mit den eigenen Grenzen, in der flexiblen Anwendung von pflegerischen Zugangswegen zu psychisch kranken Menschen, beispielsweise im gemeinsamen Tun, in unterschiedlichen Gesprächsformen oder über körpernahe Tätigkeiten und/oder im geduldigen Begleiten beim Bewältigen der Krankheit. Außerdem zeigt sich psychiatrisch-pflegerisches Handeln besonders darin, wenn erkannt wird, dass viele Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen eine langfristige professionelle Begleitung und Unterstützung in unterschiedlichen Situationen und in unterschiedlicher Intensität brauchen oder auch darin, ob die Wiedererkrankung eines psychisch kranken Menschen als neue Chance oder als Scheitern begriffen wird. Wie, auf welche Art und Weise und auf welchem Hintergrund diese Grundlagen in die Praxis umgesetzt werden, ist wesentlicher Bestandteil einer am psychisch kranken Menschen orientierten psychosozialen Versorgung und einer daran orientierten Pflegebildung.

Wenn wir davon ausgehen, dass psychiatrische Pflege sich im Wesentlichen mit der Wiederherstellung und dem Ausbau der Beziehung zu sich selbst und zur Umgebung befasst, die Erweiterung der sozialen Kompetenz, vor allem der alltagspraktischen Fähigkeiten, anstrebt, die Gestaltung des Alltags trotz Krankheit oder Behinderung begleitet und unterstützt, Selbstbestimmung, Eigenverantwortung und Autonomie fördert und fordert den Erwerb von Strategien zum Umgang mit Krankheit und Behinderung und Vorbeugung als zentrale Aufgabe ansieht, muss es darum gehen, Methoden (weiter) zu entwickeln und deren Wirksamkeit wissenschaftlich nachzuweisen. Damit verbunden ist die Fragestellung, ob die vorhandenen Qualifikationen die Anforderungen an eine differenzierte, dem Pflegebedarf und den Pflegebedürfnissen von Betroffenen und deren Angehörigen entsprechende Ausübung psychiatrischer Pflege erfüllen oder ob der Anspruch an eine qualitativ hohe psychiatrische Pflege neu erarbeitet und den Veränderungen in allen Versorgungsbereichen angepasst werden muss. Außerdem sind die teilweise vorhandenen Qualitätskriterien an psychiatrische Pflege dahingehend zu überprüfen, ob die psychiatrischen Pflegeinterventionen wirksam sind, wo andere Konzepte angewandt werden müssten, und welchen Beitrag die Pflege in der Gesamtbehandlung leistet. Dabei gilt es sicher auch zu berücksichtigen, dass es nicht nur um Rationalität und finanzielle Grundlagen, sondern auch um Hilfen und Zuwendung geht. Inwieweit Pflegewissenschaft und Forschung neue andere Wege eröffnen und wir Pflegenden oder besser Pflegeexperten bereit sind, uns unterschiedliche Konzepte zu erschließen, Projekte begleitend zu fundieren, wird die Zukunft zeigen. Jedenfalls wäre es dringend erforderlich, dass psychiatrische Pflege mehr in den Blick von Pflegeforschung gerät und den ihr zustehenden Stellenwert bekommt.

Aus meiner Sicht stehen dabei vier Aspekte, in denen Handlungs- und Weiterentwicklungsbedarf besteht im Vordergrund: in der Qualität, in den Methoden, bezüglich Forschung und Ethik, beispielsweise:

Qualität: Das Qualitätsniveau muss weiter entwickelt und näher definiert werden; Qualitätssicherung darf sich nicht nur an Quantität festmachen, sondern muss sich inhaltlich manifestieren, außerdem nicht nur an politischen, wirtschaftlichen und ökonomischen Interessen orientieren; Pflege muss eine Qualitäts-Ethik entwickeln! Methoden: Pflegerisches Handeln und die dazu notwendigen Techniken müssen mehr den Bedürfnissen von Betroffenen und dem Umfeld angepasst werden und gleichzeitig Selbstbestimmung, Autonomie und Eigenverantwortung fordern und fördern; Stragien zum Umgang mit beispielsweise Krisen gemeinsam entwickeln und die Wirksamkeit von Maßnahmen wissenschaftlich nachweisen. Forschung: Es fehlen zum Teil elementäre Grundlagen und Daten wie Anzahl, Verteilung und Qualifikation psychiatrisch Pflegender, über Verhältnis von Anforderungen, Aufgabenerfüllung und Nützlichkeit bzw. Wirksamkeit von Pflegeinterventionen und deren Beitrag in der Gesamtbehandlung. Ethik: (Grund-) Haltung als Basis pflegerischen Handelns und das Bewusstsein verantwortlichen Tuns oder auch individuelle Freiheit und Entscheidungsfindung, Umgang mit komplexen ethischen Fragen und Fragestellungen, Bedeutung von Bewusstsein und Persönlichkeitsentwicklung.

In diesem Sinne müssen wir Altbewährtes in der Pflege bewahren, ethische und fachliche Inhalte ausbauen, reflektieren und es wagen, neue Wege zu gehen, denn: „Die Wissenschaft von heute ist der Irrtum von morgen” (Jakob von Uexküll).

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