PPH 2005; 11(2): 61
DOI: 10.1055/s-2005-858127
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Editorial

S. Schoppmann1
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Publication Date:
14 April 2005 (online)

Zurzeit bewege ich mich in meinem beruflichen Handlungsfeld nicht in der psychiatrischen Pflege, sondern bin mit der Qualität der allgemeinen ambulanten Pflege befasst. D.h. ich bearbeite ein ganz aktuelles Feld, denn Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement bewegen viele KollegInnen im Gesundheitswesen und auch in diesem Heft findet sich ein Beitrag zum Thema Qualität.

In der letzten Zeit habe ich zahlreiche Gespräche mit alten, gebrechlichen, pflegebedürftigen Menschen und ihren Angehörigen geführt, die von einem ambulanten Pflegedienst betreut werden. Dabei war ich sehr beeindruckt davon, wie wichtig es den Familienmitgliedern und Lebensgefährten war, mir begreiflich zu machen, dass ihre Angehörigen nicht immer so abhängig waren, sondern zu anderen Zeiten ein ganz selbstbestimmtes Leben geführt haben und tüchtige Menschen gewesen sind.

Ich habe diese Mitteilungen und die Art und Weise, wie sie gemacht wurden, so interpretiert, dass damit die Würde der Pflegebedürftigen wiederhergestellt und gewahrt werden sollte. Von den Pflegenden des ambulanten Pflegedienstes fühlten sich meine GesprächspartnerInnen durchweg freundlich behandelt und gut versorgt. Jetzt könnte man sagen: Das ist ja sehr schön und erfreulich, und es dabei bewenden lassen - aber Sie ahnen es sicher schon: Genau das habe ich nicht getan.

Auf weitere Nachfragen zeigte sich, dass die Pflegebedürftigen sich darum bemühen, sich und ihre Bedürfnisse den Pflegenden anzupassen, um durch ihre Wünsche keinen Mehraufwand zu verursachen.

Jetzt kann man natürlich Vermutungen anstellen, warum das wohl so ist: Wollen die Pflegebedürftigen nicht lästig sein, wollen sie die Pflegenden nicht verärgern oder gar die gute Beziehung nicht durch zu viele Ansprüche gefährden? In jedem Fall wird man den oft zitierten Satz: „Qualität ergibt sich aus der Übereinstimmung zwischen den Erwartungen hinsichtlich einer Leistung und der tatsächlich erbrachten Dienstleistung” [1] kritisch hinterfragen müssen.

In einem ganz anderen, privaten Zusammenhang habe ich eine häusliche Pflegesituation zwischen einem psychiatrischen Patienten und einer Pflegenden eines ambulanten psychiatrischen Pflegedienstes miterlebt. Es war eine Gesprächssituation am späten Vormittag, die Pflegekraft und der Pflegebedürftige, ein älterer Herr, saßen sich im Wohnzimmer gegenüber: Der ältere Herr trug lediglich ein Oberhemd, war ungewaschen, seine Hörgeräte und seine Zahnprothese lagen im Zimmer verstreut und er hatte auch noch nicht gefrühstückt. Nachdem die Pflegekraft sich verabschiedet hatte, sagte mir dieser ältere Herr, wie gut er sich von dieser Pflegenden betreut fühle, denn sie verstehe ihn und seine Erkrankung. Auch das ist sehr erfreulich!

Nun kenne ich diesen Herrn und seine Lebensgewohnheiten aber schon sehr lange und weiß ganz sicher, dass er sich in stabileren und gesünderen Lebensphasen niemals nur mit einem Oberhemd bekleidet, ungewaschen, unrasiert, ohne Zähne im Mund und ohne Hörgeräte im Ohr zu einem Gespräch im Wohnzimmer niedergelassen hätte. Ich habe mich in dieser Situation wie die oben beschriebenen Angehörigen gefühlt: Es war mir ein Anliegen, die Würde dieses Mannes wieder herzustellen.

Warum ich dies alles erzähle? Ich erzähle es, um die von Hilde Schädle-Deininger im Editorial des letzten Heftes aufgestellte Forderung: Pflege muss eine Qualitätsethik entwickeln, zu unterstützen und zu untermauern. Selbstverständlich muss Qualität sich auch inhaltlich orientieren und darf sich nicht nur an politischen und ökonomischen Forderungen orientieren, sie darf sich aber, zumindest wenn es um Qualität von Pflege geht, auch nicht aus der Verantwortung für die Aufrechterhaltung der Menschenwürde von Pflegebedürftigen stehlen.

Literatur

  • 1 Grams-Homolovà V. Entwicklung von Qualitätskriterien für die ambulante Arbeit am Beispiel der Hauspflege und der ambulanten Versorgung. Berlin; Paritätisches Bildungswerk 1991
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