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DOI: 10.1055/s-2005-858997
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
Von der „medicinischen Polizey” zu den Gesundheitswissenschaften: Zum Verhältnis von Gesundheitsexperten und Staat
From “Medicinische Polizey” to Public Health Sciences: Health Scientists and the StatePublication History
Publication Date:
15 February 2006 (online)


Zum normativen und politischen Rahmen gesundheitspolitischer Beratungsliteratur des 16. Jahrhunderts bis heute
Ratschläge an den Staat zum Umgang mit Gesundheitsfragen des Einzelnen oder der menschlichen Gemeinschaft, durch „Experten”, also jene, die auf dem in Frage kommenden Gebiet „besonders gut Bescheid” [1] wissen oder Fachautorität für sich beanspruchen, sind sehr alt. Bereits in der Staatslehre Platons (427 - 347 v. Ch.) finden sich ausführliche Positionsbestimmungen zu Umgang mit Gesundheit, Gesundheitsbildung, Krankenbehandlung und zur Rolle und Aufgabe der Ärzte oder privater oder öffentlicher Einrichtungen bei Gesundheitsfragen.
Platons gesundheitspolitische Gedanken sind Teilstücke einer übergeordneten Schau des Ganzen [2]. In Platons Vorstellungen haben größere (göttliche) Güter, nämlich: Weisheit, Mäßigung, Gerechtigkeit und Tapferkeit, Vorrang vor kleineren (menschlichen) Gütern, das sind: Gesundheit, Schönheit, Kraft, Reichtum. In der Konsequenz ist Gesundheit bei Platon nicht das „höchste Gut” und nicht einmal für alle Menschen gleichermaßen - aktiv oder passiv - wünschenswert [2]. Platons ethische Relativierung von Gesundheit ähnelt der mittelalterlich-christlichen Werteordnung, in der Gesundheit kein „Gut”, sondern eher, wie Schönheit und Reichtum, ein Hindernis zu einem im idealen Sinne gottgefälligen Leben ist und Krankheit eine unter Umständen für notwendig angesehene Prüfung des Menschen durch Gott [2].
Die nachgeordnete Stellung von Gesundheit in der sittlichen Werteordnung gleich welcher Herleitung führt dazu, dass die Heilung von Krankheiten keine Staatsangelegenheit, sondern Privatsache ist. Andererseits befürwortet auch bereits Platon allgemeine Gefahrenabwehr im Sinne öffentlicher Hygiene, so die Reinhaltung des Wassers oder die Sicherung gesunden Nachwuchses. Diese Betrachtungen antiker Ratschläge an eine staatliche Gesundheitspolitik wären zu vertiefen oder, z. B. mit Blick auf Aristotelische Auffassungen, zu differenzieren. Angesichts des großen Einflusses normativer antiker und später christlicher Staatslehren auf den Fortgang des europäischen Denkens im Hinblick auf staatliche Aufgaben sollen sie hier lediglich einleitende Erwähnung finden.
Springen wir in die frühe Neuzeit und befassen uns mit den Verwaltungsaufgaben der wachsenden Städte und der Staatstätigkeit der damals sich herausbildenden kleinen und großen mittel- und westeuropäischen Territorien in innenpolitischer, speziell gesundheitspolitischer Hinsicht, für die Begriff und Schrifttum zur „medicinischen Polizey” eine zentrale Rolle spielten. Dieser Begriff wurde sehr wahrscheinlich Ende des 15. Jahrhunderts der burgundisch-französischen, zentralistisch-obrigkeitlichen Behördenorganisation entlehnt [3] und taucht in Deutschland zuerst in einer Nürnberger Ratsverordnung von 1482 auf. Die führenden deutschen Reichsstädte erreichten früher als die agrarisch-feudalen Territorien den Charakter einheitlicher Staatsgebilde. Ihre neuen Ordnungsprobleme waren nicht mehr durch bloßes Herkommen und rechtliches „Weistum” zu bewältigen, sondern erforderten neue gebotsrechtliche Regelungen [4].
Mit der Ausdehnung der zentralen landesherrlichen Verwaltungstätigkeiten, die sich im Reichsgebiet gegen den feudalen, ständischen Partikularismus und gegen die städtische „Autonomie der kleinen Lebensbereiche” durchsetzte, weitete sich der Polizeibegriff aus. Im Absolutismus seit Ende des 17. Jahrhunderts schließlich wurde darunter die ganze nach innen gerichtete Staatstätigkeit verstanden Hierin spiegelt sich das Bemühen der Landesherren, die gesamte Staatsverwaltung der alten rechtlichen Kontrolle durch die Gerichte bzw. die ständischen Organe zu entziehen; denn in Polizeisachen gab es keine Appellation, die landesherrlichen „Verwaltungsentscheidungen” waren damit unanfechtbar [4].
Neben der territorialen politischen Entwicklung spielt für die Ausweitung des Polizeibegriffs auch der seit dem Humanismus erfolgende Rückgriff auf die antiken Wortwurzeln (gr. politeia, lat. politia) eine Rolle, mit ihrer Bedeutung von „Wohlordnung des Gemeinwesens”. Teils in Reaktion gegen die damit einhergehende humanistische Perzeption antiker Staatslehren, teils auch in Verteidigung der alten ständischen Rechtsordnungen verbinden sich in der frühen deutschsprachigen Literatur mit dem Begriff der „guten Polizei” ergänzend die Auffassung von einer christlichen Ständegesellschaft und einer christlichen Amtsführung, z. B. bei Veit Ludwig von Seckendorff, „Teutscher Fürstenstat” (1656). Diese christliche Amtsauffassung tradiert die altständische, wechselseitige Treuebindung zwischen Herrschaft und Untertanen (Gefolgsleuten). Sie wird als patriarchalische und später, unter dem wachsenden Einfluss des Naturrechts als aufgeklärt-fürsorgender Grundhaltung, ein spezifisches Attribut territorialer Herrschaft in Deutschland bis über das 18. Jahrhundert hinaus.
Diese christlich-patriarchalisch Haltung stand von Beginn an in Auseinandersetzung mit dem zunehmend aufkommenden rational-utilitaristischen Staatsbegriff, der mit nur wenig wechselnden Inhalten sich bis in die Staatslehre und darauf begründete Beratungsliteratur des späteren deutschen Kaiserreichs, der Weimarer Republik und später des Nationalsozialismus weiterverfolgen lässt.
In diesem rationalistischen Staatsbegriff vollzieht sich zunächst einmal nur ein funktionales Zweckdenken der kameralistisch-merkantilistischen Bürokratie. Er gerät in der frühen deutschen „Aufklärung” philosophisch unter den Einfluss des englischen „moralistischen” und des französischen „materialistischen” Utilitarismus. Er ist gekennzeichnet durch eine „vernünftige” Zweckmoral des Staatsganzen, in dem das „Glück” des Einzelnen sich im „höchsten Nutzen” des Ganzen erfüllt. Die Ausrichtung des gesamten staatlichen Lebens an der „salus publica” wird zu einem Grundgedanken der einheitlichen „polizeilichen” Staatsgewalt in dem neuzeitlichen absolutistischen Staat.
Jedoch wird wenig später in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts im Horizont des wachsenden bürgerlichen Selbstbewusstseins und des damit verknüpften Leitbegriffs des „Naturrechts” zunehmend das Einzelinteresse des Individuums zur Basis fortschrittlicher politischer Theorie. Der Begriff einer vom „Staat” abgegrenzten und der Staatsgewalt nur vertraglich verbundenen „Gesellschaft” von Individuen wird geboren.
Neben der naturrechtlichen Rechts- und Staatsphilosophie verbinden sich diese neuen Ideen mit zeittypischen Strömungen des Philanthropismus sowie der daraus sich ableitenden, aufkeimenden Sozialkritik und mit dem Sendungsbewusstsein einer auf das Individuum zielenden Pädagogik (Rousseau).
Diese Entwicklung vollzieht sich in einem neuen realpolitisch-ökonomischen Kontext, unter dem Einfluss der erstarkenden Mittelstandswirtschaft und des sich entfaltenden Privatkapitalismus, die sich von staatlicher Bevormundung und feudalen Vorrechten zu befreien suchen. Der erste und bis heute fortwirkende Höhepunkt dieser neuen Entwicklung manifestiert sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts in der Idee des „Selfgovernments”, in der liberalen Wirtschaftslehre des großen Schotten Adam Smith.
Auch die Theorie der „Polizei” unterliegt in der Folge diesem liberalen Bedeutungswandel, wird mit Beginn des 19. Jahrhunderts von einer umfassenden staatlichen Vorschriftenlehre zu einer bloßen staatlichen Garantie von privater und öffentlicher Sicherheit innerhalb eines sich wieder wesentlich auf Rechtswahrung beschränkenden Staates zurückgedrängt.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass bis zum Ende des 18. Jahrhunderts unter den aufgezählten Polizeibegriffen zunächst der „christlich-ständische”, dann der „kameralistisch-utilitaristische” vorherrschend waren und im 19. Jahrhundert zunehmend eine liberalere Polizeivorstellung Platz griff, um der vom Bürgertum getragenen erstarkenden Wirtschaft politischen Raum zu geben. Die gesundheitspolitische Beratungsliteratur aus staatswissenschaftlicher oder aus ärztlicher Sicht zu öffentlichen Gesundheitsfragen folgt jeweils eng jeweils diesen vorgegebenen Gesellschafts- und Politikvorstellungen. Diese gesundheitspolitische Beratungsliteratur ist nur aus diesem jeweiligen ideellen sowie dem korrespondierenden ökonomischen und politischen Kontext heraus zu verstehen. Es gehört zu den tragenden Hypothesen dieses Beitrags, dass dies bis in die gesundheitsbezogene Beratungsliteratur und gesundheitspolitische Beratungspraxis der Gegenwart gilt.