Einleitung
Zur artenreichsten Gattung der mehr als 2000 Arten umfassenden Wolfsmilchgewächse zählt die Euphorbie. Sie ist über die ganze Erde verbreitet. Hervorstechendes Merkmal ist der irritative, toxische und kokarzinogene Milchsaft, der der Familie den Namen eintrug. Weidetiere meiden die Pflanzen. Spielende Kinder können nach versehentlichem Kontakt mit dem Saft schwere Hautentzündungen entwickeln oder nach dem Verschlucken von Samen Erbrechen, Durchfall und Kreislaufkollaps erleiden. In früherer Zeit wurde der Milchsaft verschiedener Arten in Europa und Nordamerika als Haarwuchsmittel, zur Warzenentfernung und als Purgieröl, das Samenöl auch zur Behandlung von Verbrennungen verwandt [1]. Einige Euphorbien dienen heute als dekorative Zimmerpflanzen, wie z. B. der Christusdorn (E. milii Des Moul.) und der Weihnachtsstern (E. pulcherrima Willd. ex Klotzsch) oder werden als Schnittblumen für den Vasenschmuck kultiviert, wie z. B. die Korallenranke (E. fulgens Karw. ex Klotzsch).
Der Euphorbien-Milchsaft wirkt bei Mensch und Tier als akutes Gift. Daher besteht die weit verbreitete Ansicht, man könne mit diesen Pflanzen Maulwürfe und Wühlmäuse aus dem Garten vertreiben. Knabbern die Tiere die Wurzeln der Pflanzen an - die sie nicht sehen können - nehmen sie geringe Mengen des Milchsaftes auf. Brennen an der Schleimhaut, Magenschmerzen, Krämpfe, Erbrechen, Lähmungen und Schwindel sollen sie davon abhalten, den Garten des Hausbesitzers zu verunstalten. Umstritten bleibt, ob dieses Ziel wirklich erreicht wird. Mit Nebenwirkungen ist jedoch zu rechnen, wenn man - in Unkenntnis ihrer giftigen Wirkung - unvorsichtig mit diesen Pflanzen umgeht.
Kasuistik
Anlässlich des Arztbesuches einer 40-jährigen Patientin wurden auch die Hautveränderungen ihrer zweieinhalbjährigen Tochter begutachtet. Diese zeigte bräunlich pigmentierte runde Herde auf den Oberschenkeln, der linken Flanke und am Bauch sowie eine mehrere Zentimeter messende, längliche Hypopigmentierung mit bräunlichem Rand auf dem Rücken.
Die Mutter berichtete, vor zwei Jahren sechs Exemplare einer Pflanze gekauft zu haben, die als wirksames Abschreckmittel gegen Wühlmäuse und Maulwürfe für den Garten angepriesen wurden. Die ursprünglich nur 20 Zentimeter langen Pflänzchen wuchsen während des Sommers zu stattlichen 1,5 m hohen Pflanzen heran und vermehrten sich im darauf folgenden Jahr auf über 300 Exemplare. Die Mutter begann diese mit bloßen Händen auszureißen. Wenige Stunden nach dem Kontakt entwickelten sich kleine Bläschen an der Haut, die später in große Blasen übergingen. Eine Augenpartie schwoll durch versehentliches Berühren stark an. Auch beim mithelfenden Ehemann kam es zu gleichen Läsionen. In allen Fällen bestand ein sehr starker Juckreiz. Die Blasen hinterließen bräunliche Hyperpigmentierungen auf der Haut, die mehrere Wochen bestanden.
An einem warmen Julitag des Jahres 2004 saß die kleine Tochter in einem Planschbecken. Sie fühlte sich unbeobachtet. Die Bewegungen der Eltern nachahmend berührte sie eine der Pflanzen. Mit den Händen übertrug sie den aus der abgebrochenen Pflanze heraustropfenden Milchsaft auf verschiedene Körperteile. Da das auf dem Rücken berührte Areal besonders stark juckte, kratzte sie sich an dieser Stelle mehrere Male. Binnen kurzer Zeit entwickelten sich mehrere 3-5 Zentimeter große Blasen. Nach dem Aufplatzen und Übergang in das Schorfstadium hinterließen sie runde, bräunliche Herde und auf dem Rücken eine besonders auffällig hypopigmentierte Läsion. Diese war noch nach fünf Monaten deutlich zu erkennen.
Hautbefund
An der linken Flanke rundliche, bräunlich hyperpigmentierte Areale, auf dem Rücken eine 7 cm lange und 3 cm breite, mit dunklem Rande versehene Hypopigmentierung (Abb. [1]).
Abb. 1 Hypopigmentierung auf dem Rücken drei Monate nach dem Auftreten.
Therapie und Verlauf
Eine Therapie erwies sich als nicht notwendig. Die Pflanzen wurden, da sie sich weiter vermehrten, nur noch mit Handschuhen entfernt.
Die Mutter brachte sowohl ein ausgewachsenes Exemplar der Pflanze (Abb. [2]) als auch den alten Versandkatalog mit in die Klinik. Anhand der botanischen Bestimmung wurde die Art als Euphorbia lathyris L. aus der Familie der Wolfsmilchgewächse identifiziert. Charakteristisch für diese Art sind die gekreuzt gegenständigen Blätter; im jugendlichen Zustand präsentieren sie sich in länglich-linealischer Form (Abb. [3]). Der deutsche Artname lautet kreuzblättrige Springwolfsmilch(. Da die Früchte an Kapern erinnern, nennt man dieses Wolfsmilchgewächs im englischen Sprachraum auch Caper Spurge(. Auf die Wirksamkeit gegenüber Maulwürfen weist ihr zweiter Name Mole Plant( hin. Ihre massenhafte Vermehrung verdankt die Springwolfsmilch der Fähigkeit, ihre Samen beim Aufplatzen der Früchte weit in die Luft zu schleudern. Während der Lagerung der Pflanze auf dem Fensterbrett des Allergielabors machte sie ihrem Namen alle Ehre, da die Fruchtkapseln nach einigen Tagen aufbrachen und die Samen mit lautem Knall im Raum versprengten (Abb. [4]).
Abb. 2 Kreuzblättrige Springwolfsmilch in ausgewachsenem Zustand.
Abb. 3 Kreuzblättrige Springwolfsmilch in jugendlichem Zustand. Die Gegenständigkeit der Blätter ist deutlich zu erkennen.
Abb. 4 Aufgesprungene Fruchtkapseln mit Samen.
Diskussion
Das Verbreitungsgebiet der Kreuzblättrigen Springwolfsmilch erstreckt sich vom Mittelmeer bis zum Kaukasus, auf Nordwestafrika, den amerikanischen Kontinent und China. In vielen Ländern wird sie angepflanzt und kommt dort zum Teil auch verwildert vor.
Der Milchsaft der Wolfsmilchgewächse ist giftig. An Haut und Schleimhäuten wirkt er hochgradig irritativ, oral zugeführt verursacht er Brennen, Erbrechen, Lähmungen, Herzrhythmusstörungen, Krämpfe, Schwindel, Magenblutungen. Todesfälle nach absichtlicher oder versehentlicher Zufuhr in den Organismus sind beschrieben [2]. Der bekannte Toxikologe Louis Lewin hält es für wahrscheinlich, dass die berühmte Giftmischerin Catarina Sforza (1463 - 1509) Familienmitglieder und Ehegatten mit dem Gift der Springwolfsmilch aus dem Wege geräumt hat [3]. Karl der Große ließ das Springkraut wegen der gewebsentzündenden Eigenschaften in seinen Gärten unter dem Namen Lactaridae kultivieren [4]. In Afrika setzen die Eingeborenen den Milchsaft wegen seiner lähmenden und krampferregenden Wirkung als Jagdgift zur Erlegung von Wildtieren und beim Fischfang ein [2]. Erfahrene Weidetiere gehen der Springwolfsmilch gewöhnlich aus dem Wege, Jungtiere fressen jedoch gelegentlich die noch nicht ausgewachsenen Pflanzen. Sie erleiden dann die gleichen Vergiftungserscheinungen wie der Mensch. Nur Ziegen sollen davon ausgenommen sein [5]
[6].
Für die giftige und hautreizende Wirkung macht man Phorbolester verantwortlich, die bei Euphorbia lathyris zu den Ingenolderivaten gehören (Abb. [5]). Ihnen wird auch eine kokarzinogene Wirkung zugeschrieben [7].
Abb. 5 Grundstruktur der hautreizenden Phorbolester.
Hinweise auf irritative Kontaktdermatitiden finden sich in der amerikanischen Literatur aus den Jahren 1817 bis 1887 [8]. In Australien und Neuseeland wurde die aus England eingeführte Art wegen ihrer kapernartigen Früchte schon im 19. Jahrhundert als Zierpflanze kultiviert. Aufgrund der Verwechslung mit echten Kapern kam es nicht selten nach dem Verzehr der Samen zu schweren Vergiftungserscheinungen mit Brennen im Mund, Erbrechen, Durchfall, erweiterten Pupillen, Kollaps mit Blässe, Starre, Eiskälte des Körpers, kaltem Schweiß, arrhythmischem Puls, Schwindel, Delirium und Zuckungen [4]
[9]. Betroffen waren auch Kinder in Kalifornien, in einem anderen Fall fünf Frauen in England. Diese hatten „mixed pickles” mit den „falschen” Kapern gegessen [5]. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts setzte man die Samen auch medizinisch ein. Wurde dabei die empfohlene Dosis von 12 bis 15 Stück überschritten, kam es zu den oben beschriebenen heftigen Nebenwirkungen, zum Teil mit Todesfolge [6].
Ausführlich berichtete Geidel im Jahre 1962 über einen 62-jährigen Mann, der in seinem Garten mehrere Exemplare der Kreuzblättrigen Springwolfsmilch angebaut hatte, um Wühlmäuse zu vertreiben [10]. Bei der Beseitigung der zweijährigen Pflanzen mit dem Spaten kam er zu Fall und spritzte sich etwas Milchsaft in beide Augen. Der Augenarzt konstatierte eine starke Lidschwellung und Epitheldefekte an der Kornea. Die Pupillen waren bis auf Stecknadelkopfgröße verengt, der Visus eingeschränkt. Trotz medizinischer Behandlung heilten die Folgen der Verätzung erst nach drei Wochen ab, ohne jedoch Schäden zu hinterlassen. Geidel überprüfte daraufhin die Reizwirkung des Milchsaftes am Auge verschiedener Tierarten. Nur bei Meerschweinchen führte die Applikation zu starken Lidschwellungen, Blutungen und Hornhauttrübungen. Letztere verschwanden zwar nach 7 - 8 Tagen, doch die Vaskulisierung der Kornea war auch nach einem Vierteljahr noch nachweisbar.
In unserem Fall verschwanden die Wühlmäuse aus dem Garten der betroffenen Familie und den Gärten der Nachbarn, in die sich das Springkraut inzwischen ausgesät hatte. Es bleibt die Frage, ob es sich lohnt, die beschriebene Gefährdung durch den toxischen Milchsaft und die Mehrarbeit durch die massenhafte Ausbreitung der Pflanze in Kauf zu nehmen, nur um Wühlmäuse zu vertreiben.
Weder im Versandkatalog, noch auf der Verpackung der zugeschickten Exemplare fand sich ein Hinweis oder eine Warnung vor den irritativen Eigenschaften dieser Wolfsmilchart. Man kann sich unschwer ausmalen, welche Entstellung im Gesicht des kleinen Mädchens aufgetreten wäre, hätte sie das Auge mit dem Milchsaft kontaminiert.