Einleitung
Atypische Mykobakteriosen können unter einem breiten Spektrum unterschiedlicher klinischer
Bilder in Erscheinung treten. Die möglichen Infektionswege sind mannigfaltig und die
klinischen, mikrobiologischen und histologischen Befunde mitunter irreführend [1]
[2].
Aufgrund weltweit steigender Zahlen an iatrogenen Infektionen [3]
[4]
[5]
[6] sollten sie zunehmend bei differenzialdiagnostischen Erwägungen in Betracht gezogen
werden.
Angesichts der zunehmenden Anzahl an beschriebenen iatrogenen Infektionen im Rahmen
medizinischer Eingriffe - auch dermatologischer - und der Vielfalt an möglichen klinischen
Erscheinungsformen kommt atypischen Mykobakteriosen eine zunehmende differenzialdiagnostische
Bedeutung zu. Diese stellen auch in Hinblick auf Sterilisation und ärztliche Hygiene
erhöhte Anforderungen.
Fallbericht
Anamnese
Die 42-jährige Patientin stellte sich im Anschluss an einen Thailandaufenthalt dem
gynäkologischen Notdienst erstmals im Juni 2000 mit Unterleibsschmerzen vor. Von diesem
seien bei V. a. Mykose Itraconazol und Amoxicillin oral sowie topische Antimykotika
verordnet worden. Wenige Wochen später befand sich die Patientin erneut in Thailand.
Dort sei es zu einer weiteren Befundverschlechterung gekommen, so dass ein stationärer
Krankenhausaufenthalt notwendig wurde, in dessen Rahmen eine Therapie mit Metronidazol
erfolgt sei. Bei der Rückkehr nach Deutschland wurde ein Infekt mit Candida crusei
diagnostiziert und mit Amphotericin oral und Econazol lokal therapiert. Im Verlauf
erfolgte eine Vorstellung beim Hautarzt, der die Patientin mit V. a. Aktinomykose
zu uns überwies. Eine Rhinokonjunktivitis allergica war bekannt, ansonsten keine relevanten
Vorerkrankungen.
Befund
Bei Aufnahme fanden sich brettharte, bräunlich hyperpigmentierte, kutan-subkutane
Knoten inguinal, perigenital und am Mons pubis (Abb. [1]). Darin eingestreut zeigten sich multiple Fistelöffnungen mit spontaner Pusentleerung.
Die Patientin beklagte ausgesprochene Druckschmerzhaftigkeit. Das übrige Integument
sowie die Lymphknotenstationen waren unauffällig.
Abb. 1 Brettharte, druckschmerzhafte, kutan-subkutane Knoten in teils sporotrichoider Anordnung
mit multiplen Fistelöffnungen.
Labor
BKS 50/87 mm n. W., Leukozyten 11,7 Tsd/mic, Thrombozyten 551 Tsd/mic, Neutrophile
73,5 %, Lymphozyten 17,0 %, CRP 0,62 mg/dl.
Alle übrigen Laborparameter (Glucose, Harnstoff, Kreatinin, Harnsäure, Natrium, Kalium,
GOT, GPT, LDH, AP, γGT, restliches Blutbild, PTT, Quick, INR, Triglyzeride, Cholesterin,
Urinstatus, TPHA, HIV-Serologie) waren normwertig bzw. negativ.
Bei V.a. Aktinomykose und den Differenzialdiagnosen Tuberkulose und atypische Mykobakteriose
erfolgte eine weitergehende Diagnostik.
Multitest Immignost: grenzwertig positiv für Tetanus, Diphtherie, negativ für Tuberkulin und andere Bakterien.
Mykologische Untersuchung vom Wundmaterial: vereinzelt Sporen, keine Drusen.
Sputum auf säurefeste Stäbchen: negativ (2 x kontrolliert).
Mittelstrahlurin auf säurefeste Stäbchen: negativ (2 x kontrolliert).
3 bakteriologische Abstriche vom Pus: initial zweimalig Mykobakterium chelonae, zuletzt aerob und anaerob kein Wachstum.
Bakteriologischer Abstrich von Wundmaterial: Staph. epidermidis.
Histologie vom Labium majorum rechts: Im Fett-Bindegewebe ausgedehnte, landkartenartig gestaltete, zellarme Nekrosefelder
um die herum sich stellenweise ein lockerer Epitheloidzellwall entwickelt hat. Am
äußeren Saum des z. T. breiten Epitheloidzellwalls in mäßiger Zahl Lymphozyten, auch
einige Plasmazellen. Immer wieder mehrkernige histiozytäre Riesenzellen, wobei einzelne
davon sich auch an zugrundegehendes Elasticamaterial anlagern.
Die Ziehl-Neelsen-Färbung verläuft negativ. Pilze sind nicht nachweisbar. Auch andere
spezielle Erreger insbesondere Aktinomyzes-Drusen nicht nachweisbar.
Damit wird eine floride nekrotisierende granulomatöse Entzündung mit dem histologischen
Bild einer Tuberkulose beschrieben.
Die weiteren paraklinischen Untersuchungen, Thoraxröntgen, Abdomensonographie und im Rahmen eines gynäkologischen Konsils durchgeführter,
transvaginaler Ultraschall, waren, abgesehen von einer Hepatomegalie, unauffällig.
Therapie und Verlauf
Die stationäre Aufnahme erfolgte unter dem klinischen Verdacht einer Aktinomykose.
Initial wurde hochdosiert mit täglich 30 Mio. IE Penicillin G i. v. behandelt. Topisch
kam Ichthyol zum Einsatz.
Wir entließen die Patientin nach 4-wöchigem stationärem Aufenthalt mit rückläufigem
Befund unter oraler Antibiose mit Cefuroxim 500 2 × 1 und weiterer Lokaltherapie mit
Ichthyol pur. Im Rahmen einer nachfolgenden ambulanten Wiedervorstellung zeigte sich
eine anhaltende Befundbesserung.
Diskussion
Mykobakterien zeichnen sich durch eine dicke, lipidreiche, säurefeste Kapsel aus,
die sie sehr resistent gegen Umwelteinflüsse macht [3]
[4]
[7]
[8]
[9]
[10].
Mykobakterien kommen im Wasser, in Staub, Schmutz, fauligen Abfällen oder im Tierreich
[11]
[12] vor. M. chelonae wurde in Leitungswasser [3]
[5], Aqua destillata, Gentianaviolettlösung und Methylenblau [13] in Krankenhäusern isoliert. Übertragungen wurden durch kontaminierte medizinische
Instrumente (Venenverweilkanülen, Akupunkturnadeln [8]
[14], Insulinspritzen [15], Endoskopen [4]
[10]
[16]
[17]
[18]) und Bagatellverletzungen beschrieben.
Bei bis zu 18 % scheinbar Gesunder finden sich atypische Mykobakterien im Speichel
und Sputum, in ⅓ aller Fälle werden Primärdefekte als Ausgangspunkt der Infektion
geschildert. Eine Übertragung von Mensch zu Mensch ist unwahrscheinlich. Etwa 90 Spezies
sind bekannt, davon gelten etwa 30 als für den Menschen relevant [1].
Die Einteilung der Mykobakterien erfolgt in kultivierbare und nicht kultivierbare
(Abb. [2]), wie Mykobakterium leprae; in typische, wie M. tuberculosis und bovis, und atypische.
Zur Einteilung der atypischen dient die Runyon-Klassifikation (Tab. [1]), die nach der Wachstumsgeschwindigkeit und der Pigmentproduktion unterscheidet.
Nur einzelne, wie M. ulcerans sind obligat pathogen, die meisten Vertreter sind opportunistische
Keime, manche sind Saprophyten. Atypische Mykobakteriosen können sich als lokalisierte
[19]
[20] und auch als disseminierte Krankheitsbilder manifestieren. Disseminierte betreffen
vor allem die Lunge [1]
[21] und den Gastrointestinaltrakt und gehen mit Allgemeinsymptomen wie Fieber, Nachtschweiß,
Gewichtsverlust und Diarrhöen einher.
Tab. 1 Runyon-Klassifikation (Übersicht)
Runyon-Klassifikation atypischer Mykobakterien |
I. Photochromogen (Pigmentproduktion bei Tageslicht und 37 °C) - M. kansaii - M. marinum1 (Schwimmbadgranulom) |
II. Skotochromogen (Pigmentproduktion ohne Licht bei 37 °C) - M. scrofulaceum - M. szulgai |
III. Nichtchromogen (keine Pigmentproduktion bei 37 °C) - M. avium-intracellulare-Komplex - M. malmoense, M. xenopi - M. ulcerans1 (Buruli-Ulkus) |
IV. Schnellwachsend (Kolonien binnen 3 - 4 d bei 37 °C) - M. fortuitum-chelonae-Komplex - M. smegmatis (Saprophyt) |
1 Wachstumsoptimum bei 32 °C. |
Abb. 2 Einteilung der Mykobakterien.
Lokalisierte Formen betreffen vorwiegend die Haut oder die hautnahen, meist zervikalen
Lymphknoten [1] und verursachen hier meist erythematopapulöse, teils warzige Läsionen, infiltrierte
Knoten und Plaques wie im vorliegenden Fall, in ca. 20 % der Fälle in linearer, sporotrichoider
Anordnung, sowie schlecht heilende oberflächliche und tiefe Ulzerationen. Teils finden
sich Abszesse nach Injektionen [3]
[15], und die Zahl iatrogener Infekte steigt zusehend [3]
[4]
[5]
[6]
[8]
[13]
[14]
[18]
[19]
[20]
[21]
[22]
[23]
[24].
Atypische Mykobakteriosen können vor allem bei Immunsuppression lymphogen und hämatogen
streuen und führen bei Generalisation gewöhnlich zum Tode.
Histologisch finden sich teilweise verkäsende Granulome aus Epitheloid- und Fremdkörperriesenzellen
mit lymphohistiozytärem und plasmazellulärem Umgebungsinfiltrat. Die Unterscheidung
von den klassischen Mykobakteriosen ist auch in Spezialfärbungen schwierig. Bei immunsupprimierten
Patienten kann aufgrund der verminderten zellulären Immunantwort das histologische
Bild untypisch sein, mitunter finden sich nur diffuse Infiltrate.
Die Diagnose fußt auf der kulturellen Anzüchtung bei spezifischen Bedingungen aus
Biopsie- und Abstrichmaterial; eine Resistenzprüfung ist aufgrund unterschiedlicher
und meist nur geringer Empfindlichkeit gegenüber den herkömmlichen Antibiotika therapeutisch
indiziert. Auch gegen gebräuchliche Desinfektionsmaßnahmen wie Glutaraldehyd 2 % [4]
[10], Chlor [7] und Alkohol 75 % [3] zeigen Mykobakterien oft eine beharrliche Wiederstandsfähigkeit.
Das therapeutische Spektrum [2] reicht von der Exzision umschriebener Herde, der Monotherapie mit Trimethoprim/Sulfamethoxacol
und Doxycyclin, einer Kombination von Amikacin und Clarithromycin bis hin zur kombinierten,
an der Resistenzprüfung orientierten Antibiose und dem Einsatz der bewährten, klassischen
antituberkulösen Dreiertherapie mit Isoniazid, Rifampicin und Pyrazinamid. Auch Erfolge
mit Röntgenbestrahlung wurden beschrieben. In jedem Fall muss über die klinische Abheilung
hinaus behandelt werden.
Angesichts der zunehmenden Anzahl an beschriebenen iatrogenen Infektionen im Rahmen
medizinischer Eingriffe - auch dermatologischer - und der Vielfalt an möglichen klinischen
Erscheinungsformen kommt atypischen Mykobakteriosen eine zunehmende differenzialdiagnostische
Bedeutung zu. Diese stellen auch in Hinblick auf Sterilisation und ärztliche Hygiene
erhöhte Anforderungen.
Bei unserer Patientin gestaltete sich die endgültige Diagnosestellung schwierig. Anhand
des klinischen Befundes wurden sowohl eine Hauttuberkulose als auch eine Aktinomykose
diskutiert. Es konnten jedoch weder Drusen noch Mykobakterium tuberculosis nachgewiesen
werden. Das einzig nachgewiesene Mykobakterium chelonae war vom Forschungszentrum
Borstel, dem nationalen Referenzzentrum für Mykobakterien, als ohne klinische Bedeutung
eingestuft worden. Daraufhin legten wir uns auf die Diagnose einer Aktinomykose fest,
das Fehlen von Drusen interpretierten wir als Folge der prästationär erfolgten Antibiose.
Rückblickend betrachtet, muss hierbei jedoch von einer Fehleinschätzung ausgegangen
werden; die Vielzahl an vorliegenden Arbeiten und Kasuistiken belegt hinlänglich die
klinische Relevanz vom Mykobakterium chelonae.