psychoneuro 2005; 31(1): 16-20
DOI: 10.1055/s-2005-863095
Schwerpunkt

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Anpassungs- und Belastungsstörungen in der ICD-10

Adjustment disorders and reactions to severe stressRolf-Dieter Stieglitz1
  • 1Universitätsspital Basel, Psychiatrische Poliklinik
Further Information
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Korrespondenzadresse:

Prof. Dr. rer. nat. Dipl.-Psych. Rolf-Dieter Stieglitz

Universitätsspital Basel, Psychiatrische Poliklinik

Petersgraben 4

4031 Basel (Schweiz)

Email: rstieglitz@uhbs.ch

Publication History

Publication Date:
01 February 2005 (online)

Table of Contents #

Zusammenfassung

Anpassungs- und Belastungsstörungen gewinnen in der klinischen Praxis sowie Forschung zunehmend an Bedeutung, was sicherlich auch daran liegt, dass sie in den aktuellen Klassifikationssystemen ICD-10 und DSM-IV differenziert beschrieben sind. Epidemiologische Studien haben zudem die Relevanz dieser Störungsgruppen belegen können, so dass diese zuverlässig erfasst werden sollten, zumal es zwischenzeitlich effektive Behandlungsmöglichkeiten gibt.

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Summary

There is a growing interest in adjustment disorders and reactions to severe stress in clinical practice as well as research. One reason for this development is the possibility of assessing these disorders with the classification systems ICD-10 and DSM-IV, which are in current use, in a precise manner. Furthermore epidemiological studies have shown the relevance of this group of disorders, so a reliable diagnosis is of great importance especially as different kinds of effective therapy are available.

Zentrale Bestimmungsstücke der Definition der Anpassungs- und Belastungsstörungen sind die Begriffe der Anpassung und der Belastung. Unter Anpassung (Adaptation) versteht man den Prozess, durch den Individuen oder Bevölkerungen biologische, verhaltensbezogene oder psychologische Anpassungen entwickeln, um in einer speziellen Umwelt oder Kultur zu überleben. Der Begriff Belastung (Stress) wird verwendet, um unterschiedliche aversive Reize von starker Intensität zu beschreiben, ferner den Kontext, der die Begegnung zwischen dem Einzelnen und den belasteten Reizen vermittelt [12]. Eine Störung entsteht dann, wenn der Prozess der Anpassung versagt und Reize von starker Intensität (z.B. Traumata) die Schwelle der Belastungsfähigkeit bzw. Belastbarkeit einer Person überschreiten.

Zur Charakterisierung dieses Zusammenhanges zwischen einer belastenden Situation oder eines Ereignisses und einer überforderten Anpassung finden sich in den aktuellen Klassifikationssystemen ICD-10 und DSM-IV zahlreiche Möglichkeiten der Kodierung, wenn ein bestimmter Schweregrad der Beeinträchtigung erreicht bzw. überschritten wird.

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Belastungen und Trauma

Belastungen und Traumata werden individuell sehr unterschiedlich wahrgenommen und interpretiert. Folgende allgemeine Differenzierungen lassen sich treffen:

  • von sog. „daily hassels” als störende und frustrierende Ereignisse im Alltagsleben über

  • Lebensereignisse (sog. Life Events z.B. Arbeitsplatzverlust) bis hin zu

  • Traumata (z.B. Katastrophen).

Derartige Belastungsfaktoren lassen sich nicht nur hinsichtlich des Schweregrades, sondern auch hinsichtlich der Zeit, d.h. des zeitlichen Zusammenhangs der Symptomatik mit Auftreten von Belastungen und deren Dauer differenzieren. In [Tabelle 1] finden sich, orientiert an den in der ICD-10 enthaltenen Differenzierungen, einige Beispiele. Je nach Art der Belastungsfaktoren können sich dann entsprechend unterschiedliche Störungen entwickeln, wie dies aus Abbildung 1 zu erkennen ist.

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Möglichkeiten der Kodierung von Belastungen und Traumata in der ICD-10

Die ICD-10 bietet mit der Möglichkeit eines multiaxialen Klassifikationssystems [9] die Beschreibung eines Patienten über die Störung hinaus auf so genannten Achsen. Im Hinblick auf die Frage der Kodierung der Belastungsfaktoren und möglicher Traumata ist v.a. die Achse III „Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen und zur Beanspruchnahme des Gesundheitswesens führen” von besonderer Bedeutung. Die einzuschätzenden umgebungs- und situationsabhängigen Einflüsse, Probleme der Lebensführung und Bewältigung sind dann mit anzugeben, wenn sie von Relevanz für den aktuellen Zustand des Patienten sind, d.h. wenn sie einen Einfluss auf das Erscheinungsbild, den Verlauf, die Prognose und die Behandlung haben und den Zustand verursacht oder zumindest ausgelöst haben. Die Angabe vermuteter Faktoren erfolgt mittels der sogenannten Z-Kodierungen, die sich in den entsprechenden Bänden der ICD-10 finden. Beispiele für derartige Kodierungen sind:

  • Z60 Probleme in Verbindung mit der sozialen Umgebung wie Z60.5 Zielscheibe feindlicher Diskriminierung, Verfolgung

  • Z63 Andere Probleme mit Bezug auf die primäre Bezugsgruppe, einschließlich familiärer Umstände wie Z63.0 Probleme in der Beziehung zum (Ehe-)Partner

  • Z65 Probleme in Bezug auf sonstige soziale Umstände wie Z65.5 betroffen sein von Katastrophen, Krieg und sonstigen Feindseligkeiten.

Ein Beispiel für eine mögliche Z-Kodierung könnte dann wie folgt aussehen:

35jährige, berufstätige, verheiratete Patientin mit der Diagnose F43.20 Anpassungsstörung, kurze depressive Reaktion und ergänzende Z-Diagnosen Z63.0 Probleme in der Beziehung zum (Ehe-)Partner sowie Z56.2 drohender Arbeitsplatzverlust.

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Klassifikation einzelner Anpassungs- und Belastungsstörungen in der ICD-10

Der allgemeinen ICD-10-Logik folgend, Störungen mit gemeinsamen Merkmalen in einem Abschnitt zusammenzufassen, finden sich im Abschnitt F4 Neurotische, Belastungs- und Somatoforme Störungen solche Störungen, bei denen man annimmt, dass sie mit einem hohen Anteil psychologischer Verursachung verbunden sind. Die Störungen werden untergliedert hinsichtlich der Phänomenologie bzw. äußerer Belastungsfaktoren. In [Tabelle 1] sind die wichtigsten in der ICD-10 enthaltenen Störungen aufgelistet. Hinzu kommt noch die Störung F62.2 der andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung, die sich im Abschnitt F6 Persönlichkeits- und Verhaltensauffälligkeiten befindet. Auf einige der in [Tabelle 1] aufgeführten Besonderheiten soll nachfolgend kurz eingegangen werden.

In der klinischen Praxis, vor allen Dingen im ambulanten Bereich, ist die Gruppe der F43.2 Anpassungsstörungen von großer Wichtigkeit. Diese unterscheiden sich von den meisten anderen Störungen der ICD-10 dadurch, dass sie phänomenologisch vom Schweregrad her eher als subkategorial zu bewerten sind, es sich zum Teil um gemischte Störungskategorien handelt und damit eine Art Widerspruch zu dem in der ICD-10 propagierten Komorbiditätskonzept, d.h. das gemeinsame Auftreten verschiedener psychischer Störungen bei einem Patienten, darstellt. Zu nennen sind zum Beispiel F43.22 Angst und depressive Reaktion gemischt und F43.25 gemischte Störung von Gefühlen und Sozialverhalten. Typische Belastungsfaktoren, die im Kontext derartiger Anpassungsstörungen oft zu finden sind, stellen z.B. Ehe- und Beziehungsprobleme dar, Trennung oder Tod, Arbeitsplatzprobleme oder aber auch größere finanzielle Probleme.

Zunehmend von großer Bedeutung werden die Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS; engl. Posttraumatic Stress Disorder, PTSD). Die PTBS ist in der ICD-10 dadurch gekennzeichnet, dass zunächst das Traumakriterium erfüllt sein muss sowie in Folge des Traumas bestimmte Symptome resultieren (Symptomgruppen: Erinnern, Vermeidung und Arousal). Ein spezifisches Zeitkriterium für die Dauer gibt es nicht.

Hinsichtlich der Traumata lassen sich verschiedene Systematisierungen treffen, differenziert nach den Dimensionen wie menschlich verursacht versus zufällig, bzw. kurz- versus langfristig wirkend. Als Beispiele für menschlich verursachte Traumata sind sexueller Missbrauch, Vergewaltigung oder Folter zu nennen, eher als zufällig auftretend sind in der Regel Naturkatastrophen einzustufen (z.B. Flutkatastrophen, Erdbeben). Hinsichtlich der Schwere der Traumatisierung und der Differenzierung zwischen kurz- versus langfristig findet man in der Literatur häufig eine Unterscheidung zwischen sog. Typ-I- und Typ-II-Traumata. Zu den ersten zählen z.B. gravierende Unfälle, technische Katastrophen, Naturkatastrophen oder kriminelle Gewalttaten. Zu Typ-II- Traumata zu zählen sind z.B. Geiselhaft, KZ-Haft, Kriegsgefangenschaft, wiederholte Folterung oder sexueller Missbrauch. Versucht man eine Systematik auf dem Zeitkontinuum hinsichtlich von Belastung und Traumata, bieten sich die in Abbildung 2 aufgeführten Differenzierungen an.

Als Spezialfälle von traumabedingten Störungen zu nennen sind die Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung nach Herman (1993) sowie die andauernden Persönlichkeitsänderungen nach Extrembelastung (ICD-10 F62.0). Die Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung (Komplexe PTBS) ist zwar offiziell noch keine diagnostische Kategorie, hat sich aber in einer Reihe von Studien als nachweisbar erwiesen. Sie ist zu charakterisieren durch ein längeres Ausgeliefertsein gegenüber traumatischen Situationen (Typ II) mit daraus resultierenden spezifischen Veränderungen. Die Symptomatik lässt sich u.a. charakterisieren durch eine gestörte Affekt- und Impulsregulation, dissoziative Tendenzen, eine Beeinträchtigung des Identitätsgefühls, Reviktimierungstendenzen oder einen allgemeinen Sinnverlust. Vor allem die so genannten Typ-II-Traumata sind auch Voraussetzung für die Diagnostizierung einer andauernden Persönlichkeitsänderung. Zu nennen sind hier vor allem Extrembelastungen wie Konzentrationslager, Folter, Katastrophen oder anhaltende lebensbedrohliche Situationen. Resultierende Symptomatiken sind gekennzeichnet durch eine der Umwelt gegenüber misstrauische Haltung, sozialen Rückzug, ein überdauerndes Gefühl von Leere und/ oder Hoffnungslosigkeit, ein überdauerndes Gefühl von Nervosität und Bedrohung ohne äußere Anlässe sowie das Gefühl, verändert oder anders zu sein als andere Menschen.

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Instrumente zur Erfassung

In der Forschung, jedoch zunehmend auch in der klinischen Praxis, hat sich der Einsatz diagnostischer Instrumente bei der Diagnosestellung als hilfreich erwiesen, da klinische Interviews ohne entsprechende Systematisierung der Informationserhebung und -bewertung oft zu weniger zuverlässigen Einschätzungen kommen. In der Literatur finden sich verschiedene Systematisierungen von Untersuchungsverfahren, die im Kontext psychiatrischer Diagnostik Anwendung finden können (vgl. im Überblick 10). Zu nennen sind Checklisten sowie strukturierte und standardisierte Interviews. Exemplarisch zu erwähnen sind das Strukturierte Klinische Interview für DSM-IV (SKID) oder das Composite International Diagnostic Interview (CIDI), ein strukturiertes bzw. standardisiertes Interview (vgl. im Überblick 10). Im Hinblick auf Anpassungs- und Belastungsstörungen muss darauf hingewiesen werden, dass es bisher kein Instrument gibt, das alle Anpassungs- und Belastungsstörungen erfasst. Mit den strukturierten und standardisierten Interviews lassen sich vor allen Dingen die PTBS hinreichend zuverlässig erfassen. Die PTBS ist generell der Störungsbereich, zu dem zwischenzeitlich am meisten publizierte Verfahren vorliegen. Es existiert eine Vielzahl von Fremdbeurteilungsverfahren und Selbstbeurteilungsverfahren, die eine hinreichend zuverlässige Einschätzung des Vorliegens erlauben (vgl. im Überblick 10). Die meisten Verfahren orientieren sich an den diagnostischen Kriterien des DSM-IV und ermöglichen neben einer diagnostischen Einordnung oft auch eine Schweregradbestimmung der vorliegenden Symptomatik. Bezüglich der Anpassungsstörung besteht gegenwärtig noch ein Defizit, da keine expliziten diagnostischen Kriterien vorliegen, sondern es sich bei den Anpassungsstörungen lediglich um subkategorielle Schweregrade von anderen Störungen handelt (z.B. depressive Episode). Es stehen daher zu ihrer Erfassung keine expliziten Instrumente zur Verfügung bzw. die Störungskategorien sind in Interviews meist nicht enthalten.

Bezüglich des Einsatzes von Instrumenten, vor allem den strukturierten und standardisierten Interviews, ist auf einen wichtigen Aspekt hinzuweisen: die Möglichkeit der Erfassung komorbider Störungen. Anpassungs- und Belastungsstörungen treten oft in Komorbidität mit anderen Störungen auf (u.a. affektive Störungen, Angststörungen, Störungen durch psychotrope Substanzen). Diagnostische Interviews gewähren, auch diese mit zu erfassen.

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Diagnostische Probleme

Wie bei kaum einer anderen Störungsgruppe ergeben sich in der Diagnostik von Störungen aus dem Bereich der Anpassungs- und Belastungsstörungen Schwierigkeiten, die schon damit beginnen, zu bewerten, was als belastendes Ereignis oder Trauma anzusehen ist. Vor allem im Hinblick auf die Definition von Traumata besteht die Gefahr einer zunehmend inflationären Verwendung, da oft zu wenig auf die Definition des Traumas selbst geachtet wird.

Ein weiteres Problem ergibt sich daraus, dass natürlich auch bei anderen psychischen Störungen Belastungen vorkommen, d.h. auch dort Belastungsfaktoren beim Auftreten eine wichtige Rolle spielen können. Exemplarisch sind die dissoziativen Störungen oder die affektiven Störungen zu nennen. So findet sich zum Beispiel bei den dissoziativen Störungen der ICD-10 (F44) der Hinweis, dass ein überzeugender zeitlicher Zusammenhang zwischen dem dissoziativen Syndrom und belastenden Ereignissen oder Bedürfnissen bestehen muss. Aber auch bei den affektiven Störungen der ICD-10 (Abschnitt F3) können im Vorfeld Belastungen und Lebensereignisse eine wichtige Rolle spielen. Dabei ist zu beachten, dass, wenn eine Belastung auftritt und zumindest die Diagnose einer leichten depressiven Episode gestellt werden muss, dann die Diagnose einer Anpassungsstörung nicht mehr möglich ist!

Gerade im Kontext der Diagnostik von Belastung und Traumata spielt die Gefahr einer möglichen Verfälschung eine wichtige Rolle. Zentrale Begriffe in diesem Zusammenhang sind die Simulation und Aggravation. Unter Simulation versteht man eine bewusste, zielgerichtete Vortäuschung von Sachverhalten bzw. gezielte Nachahmung von Beschwerden, um als krank zu gelten und bestimmte Absichten dabei in den Vordergrund zu stellen (ICD-10 Z76.5 Simulation). Unter Aggravation wird die Verstärkung bzw. Übertreibung tatsächlich vorhandener, aber in der Regel nicht schwerwiegender Krankheitssymptome verstanden. Der Unterschied zur Simulation besteht darin, dass hier wirkliche Beschwerden und Befunde vorliegen.

Als ein spezieller Aspekt zu nennen sind die sogenannten Pseudoerinnerungen (false memory syndrome). So weisen Stoffels und Ernst [11] auf das so genannte Suggestivpotential im Trauma hin, unter anderem durch die Reduktion der komplexen Wirklichkeit durch die Aufteilung der Welt in Gut und Böse/Opfer und Täter sowie das Ziel, Aufmerksamkeit, Zuwendung, Trost und Mitleid zu bekommen.

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Epidemiologie

Bezüglich der Abschätzung von Prävalenzraten zu den Anpassungsstörungen gibt es zwischenzeitlich immer noch keine zuverlässigen Angaben, da in den meisten Studien aufgrund der fehlenden bzw. schwierigen Operationalisierung derartige Störungen nicht mit erfasst werden.

Nach Frommberger et al. [5] liegt die Anpassungsstörung mit einer depressiven Symptomatik bei einer Punktprävalenz von 0,6 % für Frauen, 0,3 % für Männer, wenn man die DSM-IV-Kriterien zugrunde legt und 0,3 %, wenn man die ICD-10-Kriterien zugrunde legt. Im DSM-IV-TR [2] werden Angaben von 10-30 % aller psychiatrischen Patienten gemacht, bzw. 8-12 % von Patienten im Konsil-Liaison-Dienst. Henriksson et al. [6] kommen zu Schätzungen von 13 bis zu 63 % nach einem Suizidversuch, bzw. 5 % nach einem vollendeten Suizid. Flatten et al. [3] fassen verschiedene Studien zusammen und weisen darauf hin, dass man von einer Lebenszeitprävalenz von 0,6-9,2 % ausgehen kann.

Freyberger, Stieglitz und Dilling [4] fanden in der Feldstudie zur Einführung der ICD-10, dass fast die Hälfte aller gestellten Diagnosen aus dem Abschnitt F4 in die Gruppe der Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen (F43) entfielen, was insgesamt 7,6 % aller untersuchten Patienten in der multizentrischen Studie betraf.

Von besonderer Bedeutung ist die Epidemiologie der PTBS. Wichtige Informationen zum Zusammenhang zwischen der Häufigkeit einer PTBS und verschiedenen Traumata kann man der Studie von Kessler et al. [8] entnehmen, deren wichtigste Ergebnisse in [Tabelle 2] zusammengefasst sind. Daraus kann man erkennen, dass die Häufigkeit von Traumata in umgekehrter Relation zum Auftreten einer PTBS zu sehen ist. So werden zwar 25 % von Menschen irgendwann im Leben Zeuge eines Unfalls oder einer Gewalttat, aber „nur” 7 % davon entwickeln infolge dessen ein Trauma, während 5,5 % z.B. Opfer einer Vergewaltigung werden, aber davon über die Hälfte eine PTBS entwickelt.

Im Hinblick auf die Anwendung unterschiedlicher klassifikatorischer Systeme ist auf die Arbeit von Andrews et al. [1] hinzuweisen, welche die Häufigkeit einer PTBS in der ICD-10 und im DSM-IV verglichen. In einer Normalpopulation ergaben sich unter Anwendung des Composite International Diagnostic Interview (CIDI; s.o.) deutliche Unterschiede zwischen beiden Systemen. In der ICD-10 bekamen 6,9 % eine PTBS-Diagnose, im DSM-IV dagegen nur 3,2 %, wobei die Konkordanz lediglich bei 35 % lag. Mögliche Erklärungen für diese doch deutlichen Diskrepanzen sind u.a. darin zu sehen, dass im ICD-10 kein Zeitkriterium vorliegt und die Symptom- und Traumakriterien doch etwas divergieren.

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Fazit und Empfehlungen

Belastungsstörungen stellen klinisch wichtige Störungskategorien mit zunehmender Bedeutung in Forschung und Praxis dar, bedingt z.B. durch sich verschlechternde soziale Rahmenbedingungen als mögliche Belastungsfaktoren sowie ein weites Spektrum möglicher Traumata (vgl. Gewalt, Naturkatastrophen, Unfälle). Fallstricke in der Diagnostik liegen vor allen Dingen im Hinblick auf die PTBS im Zusammenhang mit dem Traumakriterium, bei der Anpassungsstörung, dass sie schlecht operationalisiert ist, oft nur eine Verlegenheitsdiagnose darstellt.

Allein die Existenz der Operationalisierung psychischer Störungen besagt nichts über die Reliabilität der Diagnose in der Praxis. Hier ist explizit darauf hin zu weisen, dass die Manuale der Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-IV und/oder Instrumente zu benutzen sind, vor allem auch bei diagnostisch schwierigen Personen.

Bei allen Störungen ist das Eingangskriterium zu beachten, d.h. zunächst zu prüfen, ob eine Belastung oder ein Trauma überhaupt vorliegt, und dann erst gilt es, die Symptomkriterien zu prüfen. Oft übersehen, jedoch von großer Bedeutung ist auch hier das Komorbiditätsprinzip, da oft verschiedene Störungen gemeinsam auftreten. Auch die Z-Kodierung als zusätzliche Möglichkeit der Beschreibung von Belastungen und Traumata muss stärker genutzt werden. Im Hinblick auf eine zuverlässige Diagnosenstellung ist oft erst nach Beendigung einer Behandlung sowohl im stationären wie auch im ambulanten Bereich eine zuverlässige Entlassungsdiagnose unter Berücksichtigung von Anamnese und Verlauf möglich. Bei bestimmten Störungen, wozu vor allem die PTBS gehört, sollte auch in Zukunft eher „konservativ” vorgegangen werden.

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Abb. 1

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Abb. 2

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Tab. 2

Tab. 1 Diagnostische Kategorien der ICD-10: Unterschiede

Kategorie

Belastung

Beginn der Symptomatik

Dauer der Symptomatik

F43.

Akute Belastungsreaktion

Außergewöhnliche psychische oder physische Belastung

Wenige Minuten nach Ereignis

Wenige Stunden bis Tage

F43.1 Posttraumatische Belastungsstörung

Kurz- oder langandauerndes Ereignis oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung oder mit katastrophalem Ausmaß

Innerhalb von 6 Monaten (ev. auch später)

Keine Angaben

F43.

Anpassungsstörungen

Psychosoziale Belastung von einem nicht außergewöhnlichen oder katastrophalen Ausmaß

Innerhalb eines Monats

1 Monat bis 2 Jahre

F62.

Andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung

Extrembelastung (Konzentrationslager, Folter, Katastrophen, anhaltende lebensbedrohliche Situationen)

Keine Angaben

Mindestens 2 Jahre

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Literatur

  • 1 Andrews G, Slade T, Peters L. Classification in psychiatry: ICD-10 versus DSM-IV.  Brit J Psychiat. 1999;  174 3-5
  • 2 APA .Diagnostic and statistical manual of mental disorders (4th ed., Text Revision). Washington: APA 2000
  • 3 Flatten G, Hofmann A, Liebermann P, Wöller W, Siol T, Petzold E. Posttraumatische Belastungsstörungen. Leitlinie und Quellentext. Stuttgart: Schattauer 2001
  • 4 Freyberger HJ, Stieglitz RD, Dilling H. Neurotische und psychosomatische Störungen (Abschnitte F4 und F5). In: Dittmann V, Dilling H, Freyberger HJ (Hrsg.). Psychiatrische Diagnostik nach ICD-10 - klinische Erfahrungen in der Anwendung. Bern: Huber 1992: 83-97
  • 5 Frommberger U, Hecht H, Bengel J. Anpassungsstörungen. In: Berger M (Hrsg.). Psychische Erkrankungen. Klinik und Therapie. München: Urban & Fischer 2004: 745-756
  • 6 Henriksson MM, Aro HM, Marttunen MJ, Heikkinen ME, Isometsa ET, Kuoppasalamio KI, Lonnquist JK. Mental disorders and comorbidity in suicide.  Am J Psychiatry. 1993;  150 935-940
  • 7 Herman JL. Complex PTSD: a syndrome of survivors of prolonged and repeated trauma.  J Trauma Stress. 1992;  5 377-391
  • 8 Kessler RC, Sonnega A, Bromet E, Hughes M, Nelson CB. Posttraumatic stress disorder in the national comorbidity survey.  Arch Gen Psychiatry. 1995;  52 1048-1060
  • 9 Siebel U, Michels R, Hoff P, Schaub R, Freyberger HJ, Dilling H. Multiaxiales System des Kapitels V (F) der ICD-10. Erste Ergebnisse der multizentrischen Praktikabilitäts- und Reliabilitätsstudie.  Nervenarzt. 1997;  68 231-238
  • 10 Stieglitz RD, Baumann U, Freyberger HJ. Psychodiagnostik in Klinischer Psychologie, Psychiatrie, Psychotherapie. Stuttgart: Thieme 2001
  • 11 Stoffels H, Ernst C. Erinnerung und Pseudoerinnerung.  Nervenarzt. 2002;  73 445-451
  • 12 WHO .Lexikon zur ICD-10-Klassifikation psychischer Störungen. Bern: Huber 2002
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Korrespondenzadresse:

Prof. Dr. rer. nat. Dipl.-Psych. Rolf-Dieter Stieglitz

Universitätsspital Basel, Psychiatrische Poliklinik

Petersgraben 4

4031 Basel (Schweiz)

Email: rstieglitz@uhbs.ch

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Literatur

  • 1 Andrews G, Slade T, Peters L. Classification in psychiatry: ICD-10 versus DSM-IV.  Brit J Psychiat. 1999;  174 3-5
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  • 12 WHO .Lexikon zur ICD-10-Klassifikation psychischer Störungen. Bern: Huber 2002
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Korrespondenzadresse:

Prof. Dr. rer. nat. Dipl.-Psych. Rolf-Dieter Stieglitz

Universitätsspital Basel, Psychiatrische Poliklinik

Petersgraben 4

4031 Basel (Schweiz)

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Tab. 2