psychoneuro 2005; 31(1): 35-41
DOI: 10.1055/s-2005-863099
Schwerpunkt

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Welche Prioritäten wollen wir setzen? - Psychosoziales Arbeiten in einer Gesellschaft im Umbruch

Psychosocial Work in a Society Undergoing Radical Change - What will our priorities be?Heiner Keupp1
  • 1Department Psychologie Sozialpsychologie der Ludwig-Maximilians-Universität München
Further Information
#

Korrespondenzadresse:

Prof. Dr. Heiner Keupp

Department Psychologie

Leopoldstraße 13

80802 München

Email: Keupp@psy.uni-muenchen.de

URL: http://www.lrz-muenchen.de/~Reflexive_Sozialpsychologie/

Publication History

Publication Date:
07 February 2005 (online)

Table of Contents #

Zusammenfassung

Gegenwärtige gesellschaftliche Strukturveränderungen konfrontieren die psychosoziale Arbeit mit neuen Herausforderungen: Fragen nach sozialer Ungleichheit von Erkrankungsrisiken, nach der Rolle von Arbeit als soziale Integrationsperspektive, nach sozialer Einbindung, Lebenssinn und Identität. Begriff und Methoden der Qualitätssicherung gewinnen in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung, auch in der Sozial- und Gemeindepsychiatrie. Therapeuten sollten dabei auf wirkliche Qualität achten und die gleichberechtigte Beteiligung und Mitbestimmung von Betroffenen. Sie sollten nicht für die Betroffenen definieren, was für sie gut und qualitätsvoll ist. Dies birgt die Gefahr der Bevormundung. Notwendig ist vielmehr eine Perspektive, die Lebenssouveränität und den „aufrechten Gang” fördern, also eine Empowerment-Perspektive und die ist ohne weitestgehende Einbeziehung der Betroffenen nicht vorstellbar.

#

Summary

Current structural changes are confronting psychosocial work with new challenges: questions dealing with social imbalance of illness risks, the role of work as a social integration perspective, the nature of social integration, the meaning of life and identity. In recent years, the notion and methods of quality assurance have been gaining in importance, and this also applies to social and community psychiatry. In this connection, psychiatrists should concentrate on ensuring genuine quality and preserving the integrity of the patient in terms of equality of involvement and codetermination. They should not take it upon themselves alone to define what is good and useful for the patient. Such an approach is associated with the risk of patronage. Instead, a perspective promoting patient sovereignty and a sense of „walking tall”, that is an empowerment perspective, is of the essence, and this is not implementable without the greatest possible involvement of the patient himself.

Das Sozialgesetzbuch IX regelt die Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen in rechtsverbindlicher Form und man könnte sagen, dass in dieses 2001 in-Kraft-getretene Gesetzeswerk der Geist der Gemeindepsychiatrie Einzug gehalten hat. Gleich im § 1 wird die Basis gelegt, wenn gesagt wird, dass sozialstaatliche Leistungen das Ziel haben müssen, bei behinderten oder von Behinderung bedrohten Menschen „Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern, Benachteiligungen zu vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken.” Im § 4, in dem die „Leistungen zur Teilhabe” weiter spezifiziert werden, dass diese die Aufgaben hätten, „die persönliche Entwicklung ganzheitlich zu fördern und die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft sowie eine möglichst selbständige und selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen oder zu erleichtern.” Dieses Sozialgesetzbuch IX zeichnet sich durch einen großen „utopischen Überschuss” aus. Das ist gut und schlecht zugleich. Es ist gut, weil in einem Gesetzbuch endlich die Ideen der Selbstbestimmung und gleichberechtigten Teilhabe am gesellschaftlichen Alltag ihren Niederschlag gefunden haben und die Diskurse des Schutzes der Gesellschaft vor den abweichenden Subjekten und deren Kontrolle durch den fürsorglichen Staat abgelöst haben. Die Lektüre dieser einführenden Grundprinzipien des Sozialgesetzbuches könnten den Eindruck erwecken, als hätte auch die Psychiatriereformbewegung ihren Gang durch die Institutionen erfolgreich abgeschlossen. Diese Ziele standen im Zentrum des sozialpsychiatrischen Projektes. Sind sie einst in Demonstrationen und provokativen Aktionen in den politischen Raum transportiert worden und sind sie immer wieder an bestehenden herrschaftlichen Hierarchien im psychiatrischen Feld abgeprallt, so stehen sie jetzt an prominentester Stelle in einem Gesetzbuch. Das ist gut so und auch ein bemerkenswerter Erfolg der Reformbewegung. Hier liegt aber auch genau das Problem solcher „utopischer Überschüsse”: Sie deklarieren einen normativen Zustand so, als wären wir in ihm schon angekommen und unter dem Deckmantel eines solchen schönen Scheins wird die hässliche Fratze der Realität gar nicht mehr sichtbar und mir scheint, dass die aktuelle Situation in Bezug auf Selbstbestimmung und Teilhabe von Menschen mit psychosozialen Lebensproblemen und die erkennbaren Tendenzen in diesen Bereichen wenig Anlass für eine zufrieden stellende Bilanz liefern.

Die Teilhabe an den Lebens- und Arbeitsformen, die in einer soziokulturellen Lebenswelt als selbstverständliche Normalitätsstandards angesehen werden, die Überwindung von Sonderbezirken für Menschen mit spezifischen Defiziten waren die Messlatte und Ziellinie für so unterschiedlich etikettierte Projekte wie das Programm der „Normalisierung” oder von „Community Care” und sie sind in wissenschaftlich fundierten Konzepten wie einer „Inklusions-” oder einer „Differenzpädagogik” erkenntnisleitend. Auch das Anliegen von Sozial- und Gemeindepsychiatrie lässt sich im Wesentlichen auf diesen Nenner bringen. Es wird von einem sich immer stärker vollziehenden Paradigmenwechsel gesprochen, in dessen Zentrum ein Teilhabekonzept steht, das einen Weg zurück in die Aussonderung spezieller Populationen in Spezialeinrichtungen irreversibel versperren würde.

Genau in dieser Phase, in der wichtige Erkenntnisse ins fachliche Bewusstsein der einschlägigen Disziplinen und Professionen eingesickert sind und dort eine wichtige Veränderung bewirkt haben, ist dieser Prozess bedroht - nicht in erster Linie durch eine ideologische Gegenbewegung in den Fachkulturen, sondern durch einen ökonomisch gesteuerten Globalisierungsprozess, der uns mit seiner neoliberalen Begleitmusik in Mitteleuropa mit einer Infragestellung von sozialen Standards konfrontiert, die uns glauben machen will, als hätten wir uns der Illusion hingegeben, dass wir auf einer „Insel der Seligen” leben würden. Und nun hätten wir uns endgültig davon zu verabschieden. Wir müssten die Imperative des Marktes akzeptieren und die würden spezifischen sozialpolitischen Errungenschaften heute keine Chance mehr lassen. Wer das nicht einzusehen vermöge, sei ein Traumtänzer, ein Sozialromantiker oder ein unverbesserlicher Sozialist. Wir müssten uns jetzt endgültig von sozialen „Hängematten” und Schonräumen verabschieden, die ja auch ohnehin nur dazu einladen, missbraucht zu werden. Der Staat sollte seine „Fürsorglichkeit” endlich aufgeben, damit auch die Menschen lernen könnten, mehr Selbstverantwortung zu übernehmen. Gepaart ist diese neoliberale „Dekonstruktion” einer solidarischen Sozialpolitik[1] mit einer Offensive der „Neuerfindung des Menschen”, die einen sozial „entfetteten” Menschen konstruiert, der eine allseitige Bereitschaft zeigt, sein Leben und auch seine psychische Innenausstattung vollkommen den Imperativen des Marktes auszuliefern. Er ist von einer geschmeidigen Anpassungsbereitschaft, stellt sich flexibel und mobil auf jede Marktveränderung ein und zeigt als Grundbereitschaft, unablässig an der Optimierung der eigenen mentalen und körperlichen Fitness zu arbeiten. Die Sperrigkeit einer eigenwilligen Biographie, die psychischen Folgewirkungen von belastenden Lebensereignissen, körperliche Spuren von Entwürdigungen und Misshandlungen, aber auch Werteprinzipien, die im Widerspruch zur Fitnessideologie stehen, sind zu entsorgen.

#

Zusammenfassende These 1

Jeden Tag kann man hören, dass die Zeiten, in denen sich soziale Reformbewegungen formiert hätten, endgültig vorbei seien. Es seien Bewegungen auf dem Plateau entwickelter Wohlfahrtsstaaten gewesen. Sie hätten im Wesentlichen einen weiteren Ausbau dieser Wohlfahrtssysteme gefordert und eine nachholende Modernisierung für gesellschaftliche Bereiche betrieben, die - wie Bildung oder psychosoziale Versorgung - den Vorstellungen von Chancengleichheit offenkundig nicht entsprachen. War das Projekt der Sozial- und Gemeindepsychiatrie, der Rekommunalisierung von psychischem Leid und den erforderlichen Hilfen, ein Teil dieser Illusion? Zeigt nicht das allmähliche Verblassen der Faszinationskraft, die gemeindepsychiatrische Projekte einst ausgezeichnet hat, dass ihre Zeit vorbei ist? In der Psychiatrie haben sich biologische Denkmodelle und Therapieverfahren, nach Jahren heftiger Kritik, wieder gut erholt und wohl eher an Bedeutung gewonnen. Und wo bleibt das gemeindepsychiatrische Projekt? Es war immer Anspruch der Gemeinde- oder Sozialpsychiatrie, das eigene Handeln als gesellschaftliches Handeln zu reflektieren. Die Vorsilbe „Sozial-” in der Sozialpsychiatrie hat den Reformgruppierungen Identität und eine kämpferische Perspektive ermöglicht und gleichzeitig hat sie etwas beunruhigendes, vor allem dann, wenn - wie gegenwärtig - dieses „Soziale” so unklar wird. Jedenfalls setzt es uns unter den Anspruch, immer wieder von neuem das „Sozialpsychiatrische Projekt” zu reflektieren.

Was sind denn die zentralen Veränderungsdynamiken, die das Leben der Menschen in diesen spätkapitalistischen Gesellschaften bestimmen, ihre Biographien und Identitäten umschreiben?

#

Zusammenfassende These 2

Im Unterschied zu einer sich naturwissenschaftlich verstehenden Psychiatrie schöpft die Gemeindepsychiatrie aus sozialwissenschaftlichen Quellen und muss ihr Selbstverständnis und ihre Handlungskonzepte immer wieder neu an gesellschaftlichen Veränderungsprozessen ausrichten. Sozialwissenschaftliche Gegenwartsanalysen zeigen dramatische gesellschaftlichen Umbrüche auf, die - so Manuel Castells - einen „qualitativen Wandel in der menschlichen Erfahrung” bedingen: Die Konsequenzen der entstehenden Netzwerkgesellschaft „breiten sich über den gesamten Bereich der menschlichen Aktivität aus, und transformieren die Art, wie wir produzieren, konsumieren, managen, organisieren, leben und sterben”. Im Unterschied zu neoliberalen Verheißungen schier grenzenloser neuer Chancen beschreiben die seriösen Gegenwartsdeutungen einen ambivalenten Prozess, der längst nicht alle gesellschaftlichen Gruppen positiv einbezieht (Inklusion) und eher die Gefahr des gesellschaftlichen Ausschlusses erhöht (Exklusion). Menschen, die den neuen Anforderungen an Hyperflexibilität, Mobilität und allseitiger Fitness nicht genügen können, sind von Exklusionsprozessen besonders betroffen. Berechtigterweise wird auch die Frage gestellt, ob diese Anforderungen nicht ihrerseits persönlichkeitszerstörend wirken.

#

Wie der globalisierte neue Kapitalismus unsere Lebens- und Arbeitsformen verändert

Die großen Gesellschaftsdiagnostiker der Gegenwart sind sich in ihrem Urteil relativ einig: Die aktuellen gesellschaftlichen Umbrüche gehen ans „Eingemachte” in der Ökonomie, in der Gesellschaft, in der Kultur, in den privaten Welten und auch an die Identität der Subjekte. In Frage stehen zentrale Grundprämissen der hinter uns liegenden gesellschaftlichen Epoche.

An den aktuellen Gesellschaftsdiagnosen hätte Heraklit seine Freude, der ja alles im Fließen sah. Heute wird uns eine „fluide Gesellschaft” oder die „liquid modernity” [3] zur Kenntnis gebracht, in der alles Statische und Stabile zu verabschieden ist.

Wir leben in einer Gesellschaft, die von einem Vorgang tief greifend verändert wird, den Giddens als „disembedding” bezeichnet hat. Dieser Prozess lässt sich einerseits als tief greifende Individualisierung und als explosive Pluralisierung andererseits beschreiben. Diese Trends hängen natürlich zusammen. In dem Maße, wie sich Menschen herauslösen aus vorgegebenen Schnittmustern der Lebensgestaltung und eher ein Stück eigenes Leben gestalten können, aber auch müssen, wächst die Zahl möglicher Lebensformen und damit die der möglichen Vorstellungen von Normalität und Identität [Abb. 1].

#

Zusammenfassende These 3

Wenn diese Gesellschaftsdiagnosen einigermaßen zutreffen, dann ist das für das Projekt der Gemeindepsychiatrie folgenreich. Es entstehen neue Risikolagen und es werden neue Kompetenzen von den Individuen gefordert, die in einer so charakterisierten Gesellschaft handlungsfähig sein sollen. Und da das Projekt der Gemeindepsychiatrie am „Normalisierungsprinzip” orientiert ist, heißt das, dass sich auch die Bezugspunkte für die Arbeit mit psychisch Kranken erheblich zu verändern beginnen.

Es steht auf jeden Fall die gesellschaftliche Frage im Raum, auf welches Ziel hin das sozialpsychiatrische Projekt angelegt ist. Wenn die neuen Normalitätsprinzipien von Mobilität, Flexibilität und multioptionaler Offenheit unkritisch zu Leitlinien unseres Handelns werden, wird ein großer Teil der Menschen mit psychischen Problemen auf der Strecke bleiben. Sie werden diese Ziellinien nie erreichen oder so spät, dass der gesellschaftliche Prozess schon längst wieder auf andere Ziele zusteuert. Wir können aber auch versuchen, uns dem Affirmationszwang an das neoliberale Menschenbild zu widersetzen und damit die Sozialpsychiatrie wieder als Teil einer gesellschaftlichen Oppositionsbewegung begreifen.

#

Prioritäten der Gemeindepsychiatrie in einer individualisierten Gesellschaft

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit lassen sich aus der Gegenwartsanalyse Prioritätensetzungen für das gemeindepsychiatrische Projekt in einer individualisierten Gesellschaft vornehmen:

  • Sozial ungleich verteilte Ressourcen als unverändert zentrales Krankheitsrisiko

  • Zum Normalitätswert von Arbeit

  • Gemeinschaft als rares Gut

  • Die Suche nach Lebenssinn als prekäres Projekt

  • Identitätskompetenz als Bedingung für Zukunftsfähigkeit

  • Qualität durch Empowerment und Partizipation.

#

These A

Eine sich weiter spaltende Gesellschaft führt zu einer sozialen Ungleichverteilung von zentralen Ressourcen für gelingendes Leben und damit zu einer sozialen Ungleichverteilung von Krankheitsrisiken.

#

These B

Der Normalitätswert von Arbeit, der in der Integrationsperspektive der Sozialpsychiatrie zentraler Bezugspunkt war, wird immer illusionärer und wirkt zynisch, wenn er Integrationsanstrengungen unverändert begründet, aber immer weniger Inklusionschancen eröffnet werden können.

Die Konjunktur sozialpsychiatrischer Reformziele war verbunden mit einer gesellschaftlich-ökonomischen Aufschwungphase, die es nahe legte, die Reform und endgültige Überwindung der ausgrenzenden traditionellen Psychiatrie auf die Tagesordnung zu setzen. Die Arbeitsmärkte schienen ungeahnte Entwicklungsmöglichkeiten zu offerieren und es wurde zu einer realistischen Option, möglichst vielen Menschen, auch und gerade solchen mit schweren lebensgeschichtlichen Hypotheken, Integrationsmöglichkeiten in diese Arbeitsmärkte zu verschaffen. Ausgrenzung sollte durch „Rekommunalisierung” überwunden werden und die Arbeitsintegration war ein bevorzugtes Ziel. Natürlich gab es auch den Diskurs über die „krankmachende”, zerstörerische Qualität von Arbeit, aber der damals so offensiv angelegte Versuch einer „Humanisierung der Arbeitswelt” schien diesem Diskurs seine Bedrohlichkeit zu nehmen. Das „sozialpsychiatrische Projekt” hatte auf die normalitätsspendende Kraft der „Erwerbsarbeit” gesetzt. Seit einiger Zeit werden in den Sozialwissenschaften Szenarien durchgespielt, die deutlich machen, welch unterschiedliche Entwicklungspfade für die deutsche „Arbeitsgesellschaft” denkbar sind. Neben positiven Varianten, die aber nur unter Bedingungen positiver ökonomischer Entwicklungsperspektiven bzw. einem durchgängigen Bewusstseins- und Politikwandel hin zu einer nicht mehr erwerbszentrierten gesellschaftlichen Ordnung eintreten können, gibt es Negativszenarien. Eine dramatische Abnahme des Erwerbsarbeitsvolumens würde bedeuten, dass die Menschen in Erwerbsarbeit von zwei Drittel auf bis zu einem Fünftel der arbeitsfähigen Bevölkerung zurückgehen würden. Soziale Ungleichheiten würden sich in Folge dieser Entwicklung weiter verschärfen, ohne dass sozialpolitisch gegengesteuert werden würde. Die gesteigerte Negativutopie würde noch über dieses Szenario hinausreichen und einen Zusammenbruch der Erwerbsgesellschaft zur Folge haben und damit eine der zentralen Bindekräfte unserer Gesellschaftsordnung zerstören.

Von diesen Negativentwicklungen würden neben vielen anderen Gruppen vor allem Menschen mit geringer psychischer Belastbarkeit betroffen sein, die ja auch schon in Zeiten besserer ökonomischer Kennziffern keine Chance mehr hatten, in den regulären Arbeitsmarkt integriert zu werden. Spezielle sozialpolitische Förderprogramme haben allerdings kompensatorische Arbeitsangebote ermöglicht, die zumindest in Spurenelementen auch das Gefühl der Teilhabe am „normalen” gesellschaftlichen Lebensprozess ermöglicht haben. Gerade die Praxisansätze, die auf der Basis freiwilliger Leistungen der Kommunen oder der Länder möglich waren, sind im Zuge der aktuellen fiskalischen Magersucht als erste gekürzt worden und die noch bestehenden Projekte werden - sollte die öffentliche Anorexie weiter anhalten - kaum überleben können. Manche Politiker haben den Abschuss bereits verbal vorbereitet. Es wird vom psychosozialen Wildwuchs gesprochen, dessen Beseitigung ja wohl mehr recht als billig sei. In diesem Feld ist aber eine Initiativenkultur gewachsen, eine psychosoziale Infrastruktur von Beratungsangeboten, kommunikativen Anlaufstellen, Lebens- und Arbeitsformen, die kleinräumige und damit überschaubare Formen der Teilhabe an kommunalen Lebenswelten ermöglicht haben. Neben den gesetzlich fixierten und einklagbaren sozialen und gesundheitlichen Sicherungssystemen ist es vor allem dieser psychosoziale Initiativenreichtum gewesen, der für Menschen mit schweren psychischen Belastungen und Einschränkungen soziale Erfahrungen von Respekt, Anerkennung, Würde und Zugehörigkeit ermöglicht hat. Was bleibt als Basis einer inklusiven Sozialpsychiatrie, wenn diese Infrastruktur zerbröselt?

#

These C

Gemeinschaft ist in einer individualisierten Gesellschaft ein rares Gut und es wird immer mehr zur Aufgabe des Einzelnen, sich seine „Gemeinde” zu schaffen. Hier ergeben sich für die Gemeindepsychiatrie spezielle Aufgaben der Netzwerkförderung und der Förderung der Fähigkeit zur Netzwerkbildung bei den Einzelnen.

#

These D

Die Suche nach Lebenssinn wird in einer Gesellschaft, die zunehmend den Glauben an traditionelle „Meta-Erzählungen” verliert, zum prekären Projekt. Gerade aber unser Wissen über Salutogenese zeigt, dass Gesundheit und Identitätsgewinnung entscheidend von Sinn- und Kohärenzfindung abhängen.

#

These E

Identitätskompetenz als subjektive Verarbeitungsmöglichkeit von gesellschaftlichen „Entbettungserfahrungen” und als eine unabschließbare Passungsarbeit zwischen innerer und äußerer Welt ist eine neue Bedingung für individuelle Zukunftsfähigkeit und bedarf der gezielten professionellen Unterstützung.

#

Anforderungsprofil

Wenn man die Thesen A bis E zusammenfasst, dann kommt ein spezifisches Anforderungsprofil für die Gemeindepsychiatrie heraus. Lebensbewältigung braucht Ressourcen, materielle, soziale und psychische, und diese sind gesellschaftlich sehr ungleich verteilt. Die Sozialpsychiatrie in der Zeit von annähernder Vollbeschäftigung hat ihr Ziel der sozialen Integration von Menschen mit schweren psychischen Hypotheken durch Arbeitsrehabilitation versucht. Das ist immer noch ein Weg, der weiterverfolgt werden sollte, und gleichzeitig führt er für viele Betroffene nicht mehr zum Ziel der gesellschaftlichen Teilhabe. Dies gilt zunehmend nicht nur für psychisch Kranke, sondern auch für immer mehr Menschen, die dann etwas zynisch als „Problemgruppen” des Arbeitsmarktes bezeichnet werden. Es bedarf anderer Formen der Förderung von sozialer Zugehörigkeit durch die Förderung von Netzwerkarbeit. Ein immer wieder nachgewiesener Befund zeigt, dass sozioökonomisch unterprivilegierte und gesellschaftlich marginalisierte Gruppen offensichtlich besondere Defizite aufweisen bei dieser gesellschaftlich zunehmend geforderten eigeninitiativen Beziehungsarbeit. Was bedeuten nun solche Befunde für unsere psychosoziale Arbeit? Gefordert sind professionelle Ziele und Kompetenzen, die Prozesse von solidarischer Vernetzung und Selbstorganisation vor allem dort zu initiieren und zu unterstützen versuchen, wo sie auf der Basis der vorhandenen psychischen und sozialen Ressourcen nicht von selbst entstehen können. Statt einer Förderung und Beschleunigung von Individualisierungsprozessen, gilt es Projekte zur Gewinnung kollektiver Handlungsfähigkeit zu unterstützen, speziell dort, wo die vorhandenen Ressourcen für einen autonomen Prozess von gesellschaftlicher Selbstorganisation nicht ausreichen. Zentrale Bedingungen für eine hilfreiche Unterstützung sieht beispielsweise Manfred Bleuler in folgenden Punkten: „Wichtig ist vorerst eine natürliche, stetige Beziehung, sei es zum Arzt, sei es zu einem Familienmitglied oder einer anderen Bezugsperson, eine Beziehung, die weder emotionell überladen noch bloß kalt und logisch geplant ist. Wichtig ist die Eingliederung des Kranken in eine ihm passende aktive Gemeinschaft. Wichtig ist, dass er in dieser Gemeinschaft seine Fähigkeiten und Interessen ausleben kann, aber auch im rechten Maße Ruhe findet”. Diese Empfehlung stammt aus einem Brief von Bleuer (1984) an einen jungen Kollegen in Gütersloh, in dem er zusammenfasst, was nach einem langen Forscherleben für ihn der Kern der Schizophrenie sei. Ich will den zentralen Satz daraus aufgreifen: „Nach unserem heutigen Wissen bedeutet Schizophrenie in den meisten Fällen die besondere Entwicklung, den besonderen Lebensweg eines Menschen unter besonders schwerwiegenden inneren und äußeren disharmonischen Bedingungen - welche Entwicklung einen Schwellenwert überschritten hat, nach welchem die Konfrontation der persönlichen inneren Welt mit der Realität und der Notwendigkeit zur Vereinheitlichung zu schwierig und zu schmerzhaft geworden ist und aufgegeben worden ist”. In dieser Formulierung wird Normalität als Produkt harter Arbeit angesprochen, die in der Vereinheitlichung von äußeren und inneren Realitäten zu leisten ist. Der/die Einzelne muss einzelne Lebensfragmente passförmig machen oder eine hohe Spaltungskompetenz entwickeln. Er/sie muss das eigene Drehbuch schreiben und herausfinden, was für sie/ihn stimmt. Es macht also Sinn, der Frage nachzugehen, ob die alltägliche Identitätsarbeit in einer postmodernen Gesellschaft etwas von der anstrengenden Passungsarbeit angenommen hat, die Bleuler in Bezug auf die Schizophrenie beschrieben hat. Aber es bleibt die Frage nach der „Schwelle”.

Für die Psychose knüpft Bleuler klar an die durchschnittlichen alltäglichen Balancierungs- und Synchronisierungsversuche an und setzt sich damit in Gegensatz zu allen Versuchen, eine Ontologie der Psychose zu formulieren, in deren Erfahrungsräume sich gar niemand hineinversetzen könnte. „Es geht im Leben darum, dass wir die verschiedenen, oft sich widersprechenden inneren Strebungen harmonisieren, so dass wir ihrer Widersprüchlichkeit zum Trotz ein Ich, eine ganze Persönlichkeit werden und bleiben. Gleichzeitig haben wir uns damit auseinander zu setzen, dass unsere äußeren Lebensverhältnisse nie den inneren Bedürfnissen voll entsprechen, dass wir uns an Umwelt und Realität anzupassen haben. Bis heute lässt sich nichts Objektives gegen die Feststellung vorbringen, dass sich der spätere Schizophrene vorgängig seiner Erkrankung mit diesen Problemen, die diejenigen von uns allen wesensähnlich sind, in einer Art auseinandersetzt, die unser aller inneren Entwicklung wesensähnlich ist”. Und es gibt für Bleuler trotzdem eine Differenz: „Der spätere Schizophrene hat präpsychotisch mit ungewöhnlich vielfältigen und ungewöhnlich schweren Kämpfen um die Harmonisierung seiner inneren Welt und um seine Anpassung an die äußere Welt zu schaffen”.

Erforderlich ist eine kontinuierliche Passungsarbeit deshalb, weil sich klassisch-moderne Vorstellung nicht mehr halten lassen, dass wir die „inneren Kapitalien”, die Besitzstände unserer Identität irgendwann im Projekt des Erwachsenwerdens beisammen hätten und auf der Basis dieses Besitzes dann unser Leben meistern. Auf einem solchen Hintergrund wird es zu einer wichtigen Frage, was Menschen heute für Grundqualifikationen benötigen, um mit ihrer alltäglichen Lebensführung und Identitätsarbeit im produktiven Sinne zurecht zu kommen. Die Bestimmung von aktuellen Bildungszielen sollte sich nach Oskar Negt [9] von folgender Frage leiten lassen: „Was müssen Menschen lernen, damit sie in der heutigen Krisensituation begreifen können, was vorgeht? Welche Möglichkeiten gibt es für sie, ihre Lebensbedingungen in solidarischer Kooperation zu verbessern und eine Grundhaltung zu entwickeln, dass Gemeinwohl mehr und anderes ist als nur die Summe betriebswirtschaftlicher Kosten-Nutzen-Kalkulationen?” Negt nennt als erste seiner fünf Schlüsselqualifikationen, welche durch die Verknüpfung von persönlicher Lebenserfahrung und allgemeinen Entwicklungen „Bewusstseinserweiterung” schaffen können: „1. Identitätskompetenz: Aufgeklärte Umgangsweise mit bedrohter und gebrochener Identität. „Die traditionelle Identität der Menschen, die in den Grundinstitutionen von Eigentum und Arbeit gebildet war, ist ausgehöhlt”. „Die Kompetenz einer aufgeklärten Umgangsweise mit bedrohter und gebrochener Identität gehört zu den Grundausstattungen der Lernprozesse, die auf die Zukunft gerichtet sind”. (...). „Zu dieser Anforderung gehört auch, dass Menschen aus ihren gewohnten Lebenszusammenhängen herausgerissen und mit Verlust von Selbstwertgefühl und Anerkennung konfrontiert werden. Wo aber Vertreibung aus gewachsenen Lebensverhältnissen, aus dem Erwerbssystem, aus der Heimat, aus dem gewohnten Wohnmilieu stattfindet, wo der Mensch kein zu Hause mehr hat, kein äußeres und kein inneres zu Hause, da wird lernender und wissender Umgang mit bedrohter und gebrochener Identität zur Lebensfrage”.

#

These F

Im Rahmen der Projekte zur Qualitätsentwicklung psychosozialer Arbeit sollte die Förderung von Empowerment und Partizipation zu einem zentralen Qualitätsmerkmal werden.

#

Förderung von Ressourcen: Die Empowerment-Perspektive

Abschließend möchte ich auf das eingehen, was ich als Basisphilosophie psychosozialer oder gemeindepsychiatrischer Arbeit ansehe. Sie verbirgt sich hinter dem Schlagwort „Empowerment”. In ihr ist jene sozialpsychiatrische oder gemeindepsychologische Grundhaltung ausgedrückt, über die sich Realisierungsversuche der benannten Prioritätensetzungen zu verstehen haben.

Das Kernstück dieser Überlegungen ist die Verbindung von Salutogenese und Empowerment-Perspektive. Beide richten ihre Aufmerksamkeit auf das aktiv-handelnde Individuum in seiner gesellschaftlichen Alltagswelt und sie eröffnen für die psychosoziale Praxis andere Perspektiven, als wenn Krankheit und Gesundheit als mechanisch ablaufende Prozesse betrachtet würden, denen der Einzelne ausgeliefert ist und die letztlich nur durch den kundigen Experten von außen beeinflusst werden können.

#

Was zeichnet diese Empowerment-Perspektive aus?

Die Empowerment-Perspektive bündelt wichtige Lernprozesse des letzten Jahrzehnts. Sie knüpft ein Netz von Ideen zu einer neuen Orientierung psychosozialen Handelns. Es sind vor allem die folgenden Lernprozesse:

  • Von der Defizit- oder Krankheitsperspektive zur Ressourcen- oder Kompetenz-Perspektive. Das Wissen um die Stärken der Menschen und der Glaube an ihre Fähigkeiten, in eigener Regie eine lebenswerte Lebenswelt und einen gelingenden Alltag herzustellen, führt mit Notwendigkeit zu einer anderen beruflichen Perspektive als im Falle eines professionellen Szenarios der Hilfebedürftigkeit

  • Nur jene Art von professionellem Angebot kann letztlich wirksam werden, die in das System des Selbst- und Weltverständnisses der Klienten integrierbar ist und die persönlich glaubwürdig und überzeugend vermittelt wird. Solche Einsichten führen mit Notwendigkeit zur Überwindung einer einseitigen Betonung professioneller Lösungskompetenzen und von der Orientierung an der Allmacht der Experten zu einer partnerschaftlichen Kooperation von Betroffenen und Fachleuten. Von Dauer können nur Veränderungen sein, die den Grundsatz „Hilfe zur Selbsthilfe” realisieren

  • Jede professionelle Aktivität, der es nicht gelingt, zur Überwindung des Erfahrungskomplexes der „gelernten Hilflosigkeit” oder „Demoralisierung” beizutragen, wird wirkungslos bleiben. Die Wirksamkeit professioneller Hilfe wird davon abhängen, ob das Gefühl gefördert werden kann, mehr Kontrolle über die eigenen Lebensbedingungen zu erlangen

  • Soziale Unterstützung im eigenen sozialen Beziehungsgefüge ist von großer Bedeutung bei der Bewältigung von Krisen, Krankheiten und Behinderungen sowie bei der Formulierung und Realisierung selbstbestimmter Lebensentwürfe. Gerade die Kräfte, die durch die Vernetzung von gleich Betroffenen entstehen können, sind von besonderer Qualität

  • Psychosoziale Praxis lässt sich nicht in Kategorien von Widerspruchsfreiheit oder im Funktionskreis instrumentellen Denkens adäquat erfassen. Anstelle eines Diskurses, der von der Unterstellung eines hehren Allgemeinwohls ausgeht, ist es notwendig, Widersprüche, Interessenunterschiede und unterschiedliche Bedürfnisse zum Thema zu machen. Hierzu gehören auch Themen wie die Janusköpfigkeit von Hilfe und Kontrolle in allen Formen psychosozialen Handelns; die Analyse unerwünschter Nebenfolgen „fürsorglicher Belagerung” und ihrer institutionellen Eigenlogiken und schließlich auch die Anerkennung unterschiedlicher und teilweise widersprüchlicher Interessen von Klienten und Professionellen

  • Die wichtigste Erkenntnis, die auf solchen Pfaden divergenten Denkens zu gewinnen ist, ist die Einsicht in die Dialektik von Rechten und Bedürftigkeiten. Die klassische wohlfahrtstaatliche Philosophie war ausschließlich von einer Definition von Bedürftigkeiten und auf sie bezogener sozialstaatlicher Hilfe- oder Präventionsprogramme bestimmt. Die meisten Therapie- und Präventionsprogramme gehen - in aller Regel mit guten und nachvollziehbaren Gründen - von einer Annahme spezifischer Defizite und Bedürftigkeiten aus, die im wohlverstandenen Interesse der Betroffenen verhindert, kompensiert oder verändert werden sollen. Erst in den 70er Jahren wurde - nicht zuletzt in Folge heftiger Konflikte zwischen wohlwollenden Helfern und zunehmend eigene Ansprüche formulierender Klienten - die Ebene der Rechte als unabhängiger Begründungsinstanz für Handeln oder dessen Unterlassung „entdeckt”. Es war sicher kein Zufall, dass diese Entdeckung in die Zeit der sich abzeichnenden Krise des Wohlfahrtsstaates fiel. In Zeiten wachsender Sozialbudgets ist eher die Vorstellung gewachsen, dass bei uns Professionellen die Angelegenheiten der Betroffenen in guten Händen seien. Die Segnungen immer neuer Spezialprogramme und -inrichtungen ließen sich beweiskräftig so verstehen. Die von uns so bereitgestellte „fürsorgliche Belagerung” hatte eine Qualität der tendenziellen Rund-um-Versorgung, bei der der Gedanke der Einschränkung von Klienten-Rechten und der Kontrolle von Lebenssouveränität wenig Nahrung erhielt. Die Krise des Sozialstaats hat auch für viele Betroffene sichtbar gemacht, dass ihre Rechte keineswegs in Wohlfahrtsleistungen gesichert sind und mit deren Abbau auch gefährdet sind und eigenständig vertreten und abgesichert werden müssen. Rappaport bringt die beiden Sichtweisen auf die Formel von „Kinder in Not” oder „Bürger mit Rechten”. Es handelt sich nicht um Entweder-Oder-Perspektiven, sie müssen in dem Spannungsverhältnis, in dem sie zueinander stehen, erhalten bleiben. Gerade an der Reaganschen Kahlschlagpolitik im Sozialbereich kann das aufgezeigt werden. Sie hat sich gerne mit Schlagworten wie Bürgerrechte oder „Freiheit” vom Staat drapiert und gleichzeitig wohlfahrtsstaatliche Leistungen abgebaut. Dazu bemerkt Rappaport treffend: „Rechte ohne Ressourcen zu besitzen, ist ein grausamer Scherz” [10].

Auf einer Tagung von Klinischen Psychologen in der Psychiatrie des Landschaftsverbandes Rheinland hat Wolfgang Voelzke, Psychiatrie-Erfahrener aus Bielefeld, eine sehr klare Position zu diesem Thema formuliert. In seiner Einleitung heißt es: „Sie merken vielleicht, dass ich nicht den Begriff der NutzerInnen verwandt habe, weil er den Menschen auf betriebswirtschaftliche Steuergrößen reduziert, es in der Psychiatrie selten eine echte Wahlmöglichkeit gibt und vor allem die persönliche Begegnung, die Basis jeder psychologischen Behandlung ist, damit ausgeblendet wird. Viele fühlen sich in der Psychiatrie weniger als „Nutzer” als vielmehr benutzt. (...) Egal ob Diagnosen erstellt und entsprechende Therapien verordnet und durchgeführt werden, ob Defizite, Problemlagen oder Bedürfnisse festgestellt und dazu adäquate psychosoziale Dienstleistungen zur Lösung oder Besserung erbracht werden, immer haben Betroffene weitestgehend eine passive Rolle im Rahmen eines Über- bzw. Unterordnungsverhältnisses einzunehmen und auf die Problemdefinitionen und Hilfen durch Profis zu warten. Die Rolle der Betroffenen und die Machtverteilung erreichen nie die Qualität einer echten Partnerschaft. Dies muss sich ändern!” (11). Und schließlich fordert er: „Begriff und Methoden der Qualitätssicherung gewinnen in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung. Psychologen sollten dabei auf wirkliche Qualität achten und darauf, dass gleichberechtigte Beteiligung und Mitbestimmung von Betroffenen, echte Partizipation von Angehörigen und Psychiatrie-Erfahrene in ihrem Bereich umgesetzt werden. Dazu sollten sie Psychiatrie-Erfahrenen in ihre Arbeitsgruppen zur Qualitätssicherung einladen, damit die Betroffenen ihre Bedürfnisse und Forderungen unmittelbar darlegen können”.

Gerade für die psychosozialen Professionellen, die sich als Teil der Reformbewegung des psychosozialen Feldes verstehen, ist dies der wichtigste Lernprozess der letzten Jahren. Wir haben kein Recht, für die Betroffenen unserer Handlungen zu definieren, was für sie gut und qualitätsvoll ist. Dieses Handeln im „wohlverstandenen Interesse”, auch das rein „anwaltschaftliche Handeln” bergen die Gefahr der Bevormundung, der „fürsorglichen Belagerung”. Notwendig ist vielmehr eine Perspektive, die Lebenssouveränität und den „aufrechten Gang” fördern, also eine Empowerment-Perspektive und die ist ohne weitestgehende Einbeziehung der Betroffenen nicht vorstellbar.

Zoom Image

Abb. 1

#

Literatur

  • 1 Antonovsky A. Unraveling the mystery of health. How people manage stress and stay well. San Francisco: Jossey-Bass 1987
  • 2 Barz H, Kampik W, Singer T, Teuber S. Neue Werte, neue Wünsche. Future Values. Düsseldorf/Berlin: Metropolitan 2001
  • 3 Bauman Z. Liquid modernity. Cambridge: Polity Press 2000
  • 4 Böhm I, Faltermaier T, Flick U, Krause-Jacob M. Gemeinde-psychologisches Handeln: ein Werkstattbuch. Freiburg: Lambertus 1992
  • 5 Keupp H. Psychosoziales Handeln im gesellschaftlichen Umbruch. Bonn: Psychiatrie-Verlag 1987
  • 6 Keupp H. Riskante Chancen. Das Subjekt zwischen Psychokultur und Selbstorganisation. Heidelberg: Asanger 1988
  • 7 Keupp H. Psychologisches Handeln in der Risikogesellschaft. München: Quintessenz 1994
  • 8 Keupp H, Ahbe T, Gmür W, Höfer R, Kraus W, Mitzscherlich B, Straus F. Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identität in der Spätmoderne. Reinbek: Rowohlt 2002
  • 9 Negt O. Lernen in einer Welt gesellschaftlicher Umbrüche. In: Dieckmann H, Schachtsiek B (Hrsg.). Lernkonzepte im Wandel. Stuttgart: Klett 1998: 21-44
  • 10 Rappaport J. In praise of paradox: A social policy of empowerment over prevention. American Journal of Community Psychology 1981; 9: 337-356; deutsch: Ein Plädoyer für die Widersprüchlichkeit.  Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis. 1985;  17 257-278
  • 11 Voelzke W. Psychotherapeutische Behandlung in der psychiatrischen Versorgung aus der Sicht Psychiatrie-Erfahrener.  Gemeindepsychologie-Rundbrief. 1998;  4 4-19

1 Diese Kampagne hat schon in eine aktuelle Deklaration der Deutsche Bischofskonferenz Eingang gefunden, in der von einer „komfortablen Normalität” die Rede ist, die unser Sozialstaat ermöglicht habe. Von der sozialdemokratisch geführten Regierung und ihrer Bereitschaft, diese Dekonstruktion politisch umzusetzen, soll gar nicht erst die Rede sein.

#

Korrespondenzadresse:

Prof. Dr. Heiner Keupp

Department Psychologie

Leopoldstraße 13

80802 München

Email: Keupp@psy.uni-muenchen.de

URL: http://www.lrz-muenchen.de/~Reflexive_Sozialpsychologie/

#

Literatur

  • 1 Antonovsky A. Unraveling the mystery of health. How people manage stress and stay well. San Francisco: Jossey-Bass 1987
  • 2 Barz H, Kampik W, Singer T, Teuber S. Neue Werte, neue Wünsche. Future Values. Düsseldorf/Berlin: Metropolitan 2001
  • 3 Bauman Z. Liquid modernity. Cambridge: Polity Press 2000
  • 4 Böhm I, Faltermaier T, Flick U, Krause-Jacob M. Gemeinde-psychologisches Handeln: ein Werkstattbuch. Freiburg: Lambertus 1992
  • 5 Keupp H. Psychosoziales Handeln im gesellschaftlichen Umbruch. Bonn: Psychiatrie-Verlag 1987
  • 6 Keupp H. Riskante Chancen. Das Subjekt zwischen Psychokultur und Selbstorganisation. Heidelberg: Asanger 1988
  • 7 Keupp H. Psychologisches Handeln in der Risikogesellschaft. München: Quintessenz 1994
  • 8 Keupp H, Ahbe T, Gmür W, Höfer R, Kraus W, Mitzscherlich B, Straus F. Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identität in der Spätmoderne. Reinbek: Rowohlt 2002
  • 9 Negt O. Lernen in einer Welt gesellschaftlicher Umbrüche. In: Dieckmann H, Schachtsiek B (Hrsg.). Lernkonzepte im Wandel. Stuttgart: Klett 1998: 21-44
  • 10 Rappaport J. In praise of paradox: A social policy of empowerment over prevention. American Journal of Community Psychology 1981; 9: 337-356; deutsch: Ein Plädoyer für die Widersprüchlichkeit.  Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis. 1985;  17 257-278
  • 11 Voelzke W. Psychotherapeutische Behandlung in der psychiatrischen Versorgung aus der Sicht Psychiatrie-Erfahrener.  Gemeindepsychologie-Rundbrief. 1998;  4 4-19

1 Diese Kampagne hat schon in eine aktuelle Deklaration der Deutsche Bischofskonferenz Eingang gefunden, in der von einer „komfortablen Normalität” die Rede ist, die unser Sozialstaat ermöglicht habe. Von der sozialdemokratisch geführten Regierung und ihrer Bereitschaft, diese Dekonstruktion politisch umzusetzen, soll gar nicht erst die Rede sein.

#

Korrespondenzadresse:

Prof. Dr. Heiner Keupp

Department Psychologie

Leopoldstraße 13

80802 München

Email: Keupp@psy.uni-muenchen.de

URL: http://www.lrz-muenchen.de/~Reflexive_Sozialpsychologie/

Zoom Image

Abb. 1