Der Klinikarzt 2005; 34(1/02): 24-28
DOI: 10.1055/s-2005-863598
In diesem Monat

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Stirbt die ganzheitliche Sicht des Menschen? - Das deutsche DRG-System und die Palliativmedizin

Does the Holistic View of Patients Die? - The German DRG System and Palliative MedicineJ. Wilmsen-Neumann
Weitere Informationen
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Anschrift des Verfassers

Jürgen Wilmsen-Neumann

Palliativstation SPES VIVA

Klinikum St. Georg

Krankenhaus St. Raphael

Bremer Str. 31

49179 Ostercappeln

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
03. Februar 2005 (online)

Inhaltsübersicht #

Zusammenfassung

Die so genannten DRGs („diagnosis related groups”) - also die Bezahlung einheitlicher Fallpauschalen für definierte Krankheitsbilder - wurden im Jahre 2004 mit dem Ziel in Deutschland eingeführt, alleinige Finanzierungsgrundlage der stationären Behandlung (mit Ausnahme der psychiatrischen und psychosomatischen Therapieformen) zu werden. Jedoch bilden die DRGs die aktuell vorherrschende mechanistische, technikorientierte naturwissenschaftliche Medizin im Sinne des cartesianischen Dualismus so sehr ab, dass andere Formen einer ganzheitlichen Medizin durch die finanziellen Konsequenzen des DRG-Systems vom Markt gedrängt werden. Erhebliche Benachteiligungen bis hin zu Gefährdungen von Patientengruppen, insbesondere von chronisch Kranken und alten Menschen, werden die Folge sein. Die Palliativmedizin ist aufgefordert, sich gegen die „Vereinseitigung” der Medizin als Folge des DRG-Finanzierungssystems zu wenden und alternative Finanzierungskonzepte zu fordern. In letzter Konsequenz sollte sie den Anstoß für eine „Philosophie der Medizin” geben, um einen klareren Blick darauf zu erhalten, was das Wesen der Medizin ist und worin die eigentlichen Leistungen des Arztes bestehen.

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Summary

In the year 2004, the so-called DRGs (diagnosis-related groups) - that is, the uniform reimbursement of defined illnesses - were introduced in Germany as the sole basis for the financing of hospital treatment, with the exception of psychiatric and psychosomatic forms of therapy. However, the DRGs so strongly reflect the currently predominant mechanistic, technology-oriented scientific medicine in the sense of Cartesian dualism, that other forms of holistic medicine are being forced off the market by the financial constraints of the DRG system. The result will be considerable discrimination and even endangerment of certain groups, in particular the chronically ill and old patients. Palliative medicine must combat the one-sidedness of medicine that threatens to occur as a consequence of the DRG financing system, and demand alternative financing concepts. In the last resort, it should prompt the development of a philosophy of medicine to establish a clear view of the true accomplishments of medicine and physicians.

DRGs („diagnosis related groups” oder die Vergütung gemäß Fallpauschalen) wurden 2004 in Deutschland erstmals verbindlich als Grundlage der Vergütung fast des gesamten Bereiches der stationären Behandlungen herangezogen - mit Ausnahme der psychiatrischen, psychotherapeutischen und psychosomatischen Therapieformen. Die deutsche Gesellschaft, zumindest aber ihre repräsentativ Regierenden, hat sich für eine Begrenzung der Ausgaben im Gesundheitswesen entschieden. Von einem Paradigmenwechsel ist die Rede: Das DRG System führt „weg vom humanitären Primat der Daseinsfürsorge hin zum Primat der Ökonomie” [8].

Doch bringt der Wechsel eines Finanzierungssystems im Gesundheitswesen - wie das Fallpauschalengesetz 2002 - moralisch relevante Veränderungen mit sich? Laut den Erfahrungen aus den USA und Australien verändert sich zum einen die Rolle des Arztes. Er wird vom Gesundheitsexperten, der (fast) ausschließlich das Wohl des Patienten im Auge haben soll, zum „Doppelagenten”, der im Widerstreit steht zwischen dem Wohl des Patienten und dem ökonomischen Wohlergehen seines Arbeitsplatzes im Krankenhaus [2] [14]. Zum anderen ergeben sich moralisch bedenkliche Benachteiligungen gerade der schwächsten Gruppen der Gesellschaft [13]

Der Palliativmedizin wird eine entscheidende Rolle in der Auseinandersetzung mit dem DRG-System zugesprochen. Sie hat sich in den letzten 40 Jahren mit einem holistisch geprägten Bild des (kranken) Menschen besonders für die leidenden und schwachen Mitmenschen eingesetzt. Dementsprechend muss die Palliativmedizin deutlich machen, auf welch einseitigem medizinischen Weltbild das DRG-System aufbaut und sich für die ergänzende (alternative) Finanzierung der Schwächsten und Bedürftigsten in der Gesellschaft einsetzen. In letzter Konsequenz bedeutet dies eine Besinnung auf die „Philosophie der Medizin” [7] [18].

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Finanzierungsgrundlage: der cartesianische Dualismus

Ein Vergütungssystem gemäß den DRGs gehört zur übergeordneten Gruppe des so genannten „managed care” - kurz gesagt: die Beeinflussung der Nutzung von Gesundheitsleistungen mithilfe von Management-Techniken, die zur Erbringung kosteneffektiver Gesundheitsfürsorge führen.

In den meisten westlichen Industriestaaten sind in den letzten 20-30 Jahren die Kosten im Gesundheitswesen deutlich gestiegen. So wurden für das deutsche Gesundheitswesen im Jahr 2001 225,9 Milliarden Euro, also 10,9 % des Bruttoinlandsprodukts, aufgewendet. Die Pro-Kopf-Ausgaben für Gesundheit beliefen sich auf 2740 Euro, 1992 lagen sie noch bei 2020 Euro [19] [22].

Dementsprechend haben die meisten Staaten mit unterschiedlichen Maßnahmen zur Restriktion der Ausgaben im Gesundheitswesen reagiert. Mehr und mehr Staaten vergüten die stationäre Behandlung gemäß einer Fallpauschale, also das DRG-System sowie begleitende, so genannte qualitätssichernde und leistungssteigernde (durch Konkurrenz) Maßnahmen. Grundidee des in den 70er Jahren in den USA entwickelten Systems ist dabei, dass die einheitliche Bezahlung einer Fallpauschale für ein Krankheitsbild starke Anreize zur Rationalisierung gibt. Je weniger Zeit, Personal und Hilfsmittel die Leistungsanbieter für eine Behandlung einsetzen müssen, desto größer ist der „Gewinn” für das jeweilige Krankenhaus.

DRGs dienen in erster Linie dazu, Krankheiten und das Geschehen von Diagnostik und Therapie für die Ökonomen greifbar zu machen. Dies geschieht durch vorgegebene Fallgruppen, die der Arzt lediglich noch bestätigen oder ablehnen kann. Der Vorteil für die Ökonomen: Mit den Fallpauschalen wird endlich der schwierig zu analysierende Bereich der Gesundheitsfürsorge „handelbar” und das, was die Ökonomen als die Barmherzigkeit der Intransparenz bezeichnen (womit sie ironisch auf die immer noch bestehende soziale Komponente des Krankenhauses hinweisen), verschwindet [15].

Die Orientierung am dualistischen Menschenbild, welches den Menschen als Nebeneinander eines mechanistisch organisierten, reparierbaren Körpers und einer unfassbaren Seele beschreibt, wird auch deutlich durch den Umfang oder auch die Auslassungen der Krankheitsbilder, die im DRG-System in Deutschland codiert sind. Dabei fällt auf, dass psychiatrische und psychosomatische Therapien von der Verschlüsselung in DRGs ausgenommen wurden. Andere medizinische Bereiche, die einer Fixierung auf ein dualistisches Menschenbild ablehnend gegenüberstehen - wie die Palliativmedizin -, sind so unzureichend repräsentiert, dass beispielsweise die Existenz der stationären palliativen Einrichtungen gefährdet erscheint [20]. Moralisch bedenklich ist dabei die Fixierung des dualistischen Weltbildes als die alleinige Finanzierungsgrundlage im Bereich der stationären Gesundheitsfürsorge.

Die Auswahl der von bereits eingetretenen (USA) und zu erwartenden (Deutschland) Benachteiligungen und Unterversorgungen betroffenen Bevölkerungsgruppen orientiert sich klar am dualistischen Weltbild der modernen, naturwissenschaftlichen Medizin. So lässt sich eine Vielzahl akuter Erkrankungen sehr gut bezüglich Pathologie, Diagnostik als auch Therapie darstellen - entsprechend effektiv ist ihre Einordnung in das Fallpauschalensystem. Je weniger sich die Krankheitsbilder klar mechanistisch abbilden lassen, desto ungenauer sind sie im DRG-System repräsentiert und desto unzureichender ist die Finanzierung.

Die Leidtragenden des Systems sind demnach insbesondere chronisch kranke oder alte Menschen sowie die palliativmedizinischen Patienten. Gar nicht im DRG-System abzubilden sind die in der Krankheit besonders wichtigen Formen der menschlichen Zuneigung, des Zuspruchs und jegliche Form einer guten Kommunikation mit Patienten und Angehörigen oder Freunden.

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Entstehende Interessens-konflikte

Edmund Pellegrino forderte [17]: „Der Arzt und auch andere in Gesundheitsberufen Stehende dürfen keine Türsteher oder Rationierer des Gesundheitswesens sein ... Sie sollten Anwälte ihrer Patienten bleiben!” Wenn jedoch das Wohl des Patienten zentraler Bestandteil des ärztlichen Berufsethos ist, warum muss dann in fast allen westlichen industrialisierten Staaten ärztliches Handeln begrenzt, effizienter gestaltet und leistungsorientierter bezahlt werden?

Im „Fee-for-Service”-System, so wird es dargestellt, haben Ärzte das Maß für das Gute verloren - nicht der Patient, sondern das „Mehr”, das „Besser”, das „Teurer” wurde zum Maßstab. Dabei war, bis auf Ausnahmen, nicht eine Verschiebung des Berufsethos von der Konzentration auf das Wohlwollen des Patienten hin zu persönlichem Gewinnstreben der Grund, sondern die bereits oben erwähnte Hypothese eines dualistischen Menschenbildes als alleinige Grundlage der Medizin.

Eben weil die Wiederherstellung der Gesundheit der Beweis des Wohlwollens gegenüber dem Patienten ist und dieses nur durch die Behebung einer Körperfunktionsstörung oder Fehlregulation des menschlichen Organismus erlangt werden kann: Eben deshalb ist es notwendig, alles erdenkliche zu tun, um diese Körperfunktionsstörung so früh wie möglich und so gut wie möglich erkennen und behandeln zu können - und eben deshalb ist es notwendig, immer bessere Techniken, immer genauere Instrumente und Geräte zu entwickeln und immer feinere Subspezialitäten zu schaffen.

„Begründet in der Spezialisierung der Medizin in verschiedene Subdisziplinen, gibt es heute für jeden Teil des Organismus einen eigenen Spezialisten. So erfolgreich diese spezifischen Kenntnisse in vielen Fällen auch genutzt werden können, so wird der Patient dennoch oft von verschiedenen Spezialisten gesehen, die, jeder für sich, den Patienten gemäß der Richtlinien ihrer Subspezialität behandeln. Diese Differenzierung und Subspezialisierung der Medizin führt in vielen Fällen zu der Tatsache, dass das menschliche Wesen als Ganzes, als Person in der Krankheit, ignoriert wird”[12].

Im DRG-System wird genauestens dokumentiert, was die Behandlung kostet. Diese so genannten Rohfallkostendaten sind dann, statistisch verarbeitet, Grundlage der Fallkostenpauschale. Somit geben die DRGs den aktuellen, mechanistisch ausgerichteten Stand der heutigen Medizin wider. Überspitzt gesagt erhalten wir mit dem DRG-System genau das Abrechnungssystem, das der zurzeit vorherrschenden naturwissenschaftlich orientierten Sicht von Krankheit und Gesundheit am meisten entspricht.

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Was geschieht mit dem Berufsethos?

„Weiter muss berücksichtigt werden, dass die individuellen Leistungen des Arztes, die persönliche Zuwendung, das Gespräch mit den Patienten, die zum Teil sehr aufwändigen Angehörigengespräche nur unzureichend in die Bewertung des Fallgewichts eingehen. Auch Zeitverluste, die durch mangelnde Compliance von Patienten verursacht werden, können nicht in der Bewertung eines Falles abgebildet werden” [15].

Noch gravierender ist, dass solche psychosozialen Leistungen sogar zu ökonomischen Verlusten führen können: „Wenn ein Patient die Behandlung von sich aus ... abbricht, fällt er automatisch in die Kategorie C, das heißt, alles, was an ihm geleistet wurde, geht nicht über das entsprechende niedrige Relativgewicht (für A und B wird mehr bezahlt, Anm. d. Verf.) hinaus” [15].

Auch beim Tod des Patienten werden Abzüge von der normal zu erzielenden Fallpauschale fällig, ganz so, als hätte es die Hospizbewegung und die Entwicklung der Palliativmedizin der letzten Jahrzehnte nicht gegeben: „Wie Menschen versterben, verbleibt als wichtige Erinnerung für diejenigen, die weiterleben ... Das was in den letzten Lebensstunden eines Menschen geschieht, kann früher erlebte Wunden heilen oder es kann als quälende Erinnerung verbleiben, die eine adäquate Trauer verhindert.” (21) - und damit Krankheiten verursacht!

Das DRG-System wird, wenn die Ärzte nicht selbst etwas dagegen unternehmen, über die Macht des Geldes ihre ethische Grundhaltung verändern. „Es wird immer wieder Fälle geben, die schwierige Probleme für den Arzt aufwerfen. Veranlasst er eine längere Verweildauer des Patienten im Krankenhaus, sodass die Kosten den Fallerlös übersteigen, bekommt er möglicherweise Druck von der Verwaltung. Er könnte versucht sein, den Patienten möglichst schnell zu entlassen” [15].

Die einzige andere Möglichkeit des Arztes vor Ort ist es, die Krankheitsrealitäten des Patienten „zu beugen” - ein Prozess, den das im DRG-System beschriebene „Upgraden” nicht eigentlich erfasst. Während „Upgrading” die ungerechtfertigte Zuschreibung einer besser finanzierten Fallpauschale für einen Patienten beschreibt (strafbar!), bedeutet „Beugung” eine Veränderung des Blickwinkels des Arztes auf seinen Patienten. Nahezu unbewusst wird die Vermutung zur Arbeitsdiagnose, die Andeutung zur Gewissheit und die Möglichkeit zur definitiven Erkrankung. Da es Aufnahmen aus sozialen Gründen nicht mehr gibt, „muss” es passende Krankheitsbilder aus dem DRG geben.

Diese Prozesse laufen, so meine Behauptung, in allen Kliniken und bei den meisten Ärzten ab - größtenteils unbewusst. Sie verändern tiefgreifend das ärztliche Selbstverständnis, das Bild des Patienten und den Umgang der im Gesundheitswesen Tätigen miteinander. Das DRG-System nötigt zur Unterversorgung bestimmter Patientengruppen oder Gefährdung der ärztlichen Glaubwürdigkeit.

Ein System, das den Arzt in vielen Situationen dazu zwingt, zwischen einer Handlung gegen das Wohlwollen des Patienten (z.B. „blutige Entlassung”), zu seinem eigenen Schaden (Gefährdung des Arbeitsplatzes) oder zum Schaden der ärztlichen Glaubwürdigkeit („Beugung”) zu handeln, kann moralisch nicht zu rechtfertigen sein. Insofern möchte ich das DRG-System per se - sofern es alleinige Finanzierungsgrundlage der stationären Gesundheitsfürsorge ist - als ein moralisch nicht zu akzeptierendes Finanzierungssystem im Gesundheitswesen bezeichnen.

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Palliativmedizin als alternatives Leitbild?

Die Palliativmedizin ist aus den Defiziten unseres heutigen Gesundheitssystems entstanden, aus dem ausschließlichen Glauben an die Fortschritte der technisierten Medizin und dem Vergessen der Menschen hinter der Diagnose. Wiederentdeckt wurden Kommunikation, Ethik, Mitmenschlichkeit, Teamarbeit und der Mensch in seiner ganzheitlichen Dimension [23].

Die Palliativmedizin hat sich in der Versorgung sterbenskranker Menschen etabliert und gibt menschlicher Zuwendung und Gesprächen einen besonderen Schwerpunkt auch in der Therapie. Der Arzt ist der Begleiter des Patienten in schwierigen Situationen mit besonderer Kompetenz in kommunikativen und ethischen Fragestellungen. Nicht „Reparatur” eines Organsystems, sondern die bestmögliche Lebensqualität trotz Krankheit ist ein formuliertes Ziel. Die Begriffe „Gesundheit” und „Krankheit” lassen sich nicht mehr auf Funktion oder Dysfunktion von Organen reduzieren: Der Mensch kann sich trotz schwerer Krankheit gesund fühlen - und umgekehrt.

Nichtsdestotrotz hat sich die Palliativmedizin ihren Platz in dieser Welt vorrangig, wenn nicht ausschließlich, durch ihren Beitrag zur Verbesserung der Schmerztherapie und der Kontrolle von plagenden Symptomen, meist mit Medikation oder „technischen Eingriffen”, erobert [10]. Andere konstitutionelle Bestandteile des palliativmedizinischen Konzeptes sind weniger akzeptiert, geschweige denn integriert.

Diese „weichen”, psychosozialen Aspekte der menschlichen Fürsorge, des ganzheitlichen Blickes auf den Menschen „bedeuten eine signifikante Herausforderung für andere (medizinische) Fachbereiche” [10]. Interessant ist die Beobachtung, dass die Differenzen über die Bedeutung, den Inhalt und den Bedarf an palliativer Medizin sich offensichtlich genau in diesen Punkten des ganzheitlichen Blickes auf den Menschen fokussieren - und genau hier Palliativmedizin ihre stärksten Befürworter und ihre stärksten Kritiker erfährt.

Solange sich „palliative care” als hospizliche Fürsorge außerhalb (auch räumlich = Hospize) der Mainstream-Medizin befunden hat, war eine Abgrenzung von anderen medizinischen Praktiken eher unproblematisch. „Das Paradox der Hospizbewegung ist, dass es immer ihre Absicht war, obschon sich aus der Mainstream-Gesundheitsfürsorge absondernd, die (hospizliche bzw. palliativmedizinische) Philosophie in eben diese Mainstream-Gesundheitsfürsorge wieder zu integrieren” [11]. Genau hier liegt meines Erachtens die Chance, aber auch die Verpflichtung der Palliativmedizin, sich gegen die Einseitigkeit der medizinischen und ökonomischen Fokussierungen des DRG-Systems als alleiniger Finanzierungsgrundlage der stationären Behandlung in Deutschland zu stellen.

Es steht außer Frage, dass es weitere und ältere ganzheitliche Ansätze in der Medizin gibt. Derzeit scheint jedoch die Palliativmedizin als einzige patientenzentrierte Konzeption innerhalb der deutschen Medizinlandschaft in der Lage zu sein, die einseitige krankheits- und technikzentrierte Orientierung der naturwissenschaftlichen Medizin zu konterkarieren. Wichtigster Faktor dabei ist sicherlich die oben beschriebene Akzeptanz der Palliativmedizin, die aufgrund ihrer eher technischen Beiträge in Bezug auf Symptomlinderung und Schmerztherapie zu einer zunehmenden Annahme in der übrigen medizinischen Welt führt (siehe Entschließung 106. Ärztetag 2003).

Eine oft gehörte Kritik der naturwissenschaftlich orientierten Medizin an der Palliativmedizin ist der Vorwurf des „therapeutischen Nihilismus”: Die Palliativmedizin beschränke sich auf Symptomkontrolle, wo kausale Therapie vielleicht doch noch helfen könnte. Hierzu sei an die Ursprünge der Palliativmedizin erinnert, deren Erscheinen auf der medizinischen Agenda mit den Statements der naturwissenschaftlich orientierten Ärzte („Wir können leider nichts mehr für Sie tun!”) in direktem Zusammenhang steht.

Doch soll hier keineswegs einer Umkehr der medizinischen Praxis mit Bevorzugung symptomlindernder Behandlung vor kausaler Therapie das Wort geredet werden. Ein guter Palliativmediziner braucht die ständige Korrektur von Seiten der naturwissenschaftlich-kurativ orientierten Medizin - nichts wäre fataler, als kurative Therapiemöglichkeiten dem Patienten erst gar nicht oder in unzureichendem Maße anzubieten.

Umgekehrt muss aber auch gelten: Die ganzheitliche, patientenzentrierte Sicht des Menschen in seiner Krankheit kann sehr wohl zum Verzicht auf kurative Maßnahmen führen [5]. Die palliative Fürsorge mit Kompetenz in kommunikativen, ethischen und symptomlindernden Elementen ist dann aber mindestens genauso wertvoll und muss entsprechend vergütet werden (was sie nach dem DRG-System nicht wird)!

Ein weiterer Grund dafür, dass die Palliativmedizin in der Lage ist, ein wirkliches Gegengewicht zur einseitig naturwissenschaftorientierten Medizin zu bilden, ist in der breiten Unterstützung der Hospizbewegung in der deutschen Bevölkerung zu sehen. Ausgehend von vielen kleinen ehrenamtlichen Gruppen bildete sich ein Hospiznetzwerk, und nicht wenige Hospize und Palliativstationen verdanken ihre Existenz dem Einsatz ehrenamtlicher Helfer und Sterbebegleiter. Unter anderem aus dieser sichtbaren Unterstützung bezieht die Palliativmedizin auch eine demokratische Legitimation.

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Fazit

Eine der wichtigsten Aufgaben ist es heute, die Sprache ärztlichen (und pflegerischen) Handelns wiederzuentdecken. Mithilfe des palliativmedizinischen Ansatzes muss klar gemacht werden, dass die DRGs einen Teil, aber eben nur einen - wenn auch wesentlichen - Teil der ärztlichen Sprache wiedergeben. Auf die Frage nach dem Wichtigsten, das er heute in seiner Arbeit getan habe, antwortete der Leiter einer Palliativstation: „Es ist mir heute gelungen, einen alten Mann, der seit zwei Wochen bei uns ist und kaum etwas sagt, zum Lachen zu bringen. Aber das ist ja wohl eher etwas Selbstverständliches.”

Erst wenn die Ökonomen (und die Ärzte!) verstehen, dass dieser Leiter der Palliativstation sein Geld an diesem Tag genau für diese Handlung verdient hat, erst dann verstehen sie auch den ignorierten Teil der ärztlichen Sprache. Die Wiederentdeckung dessen, was Ärzte und Schwestern eigentlich machen, was den eigentlichen Wert ihres Arztseins und Schwesternseins ausmacht und die Artikulation dessen ist der erste Schritt auf dem Weg' ein einseitiges und bei konsequenter Anwendung ethisch nicht zu rechtfertigendes Finanzierungssystem in Zukunft zu verhindern. Letztlich muss dieser Weg aber in eine Philosophie der Medizin hineinmünden, die durch Reflektion aller wichtigen Aspekte entweder zu einem einheitlichen Konzept der modernen Medizin kommt oder die Vielfalt, so sie denn zum Wohle der Menschen beiträgt, erhalten hilft.

Medizin als „Heilkunst” hat sich in Vergangenheit und Gegenwart um ein Vielfaches reicher und vielfältiger präsentiert als es das (rein) naturwissenschaftlich geprägte Bild vom Menschen, von (Organ-)Krankheit und (Organ-)Heilung darstellt.

Es bleibt zu fürchten, dass über eine einseitige Finanzierung unseres Gesundheitswesens diese Vielfalt der Medizin und damit der Möglichkeit menschlicher Begegnungen verloren geht. Zu hoffen bleibt, dass die uralten Visionen des ärztlichen Berufsethos überlebt hat und einer solchen Einseitigkeit ärztlichen Handelns Einhalt gebieten können.

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Literatur

  • 1 Agich GJ, Forster H. Conflicts of interest and management in managed care.  Cambridge Quarterly of Healthcare Ethics. 2000;  9 189-204
  • 2 Angell M. The doctor as double agent.  Kennedy Institute of Ethics Journal. 1993;  3 279-286
  • 3 Bauer AW. Der Hippokratische Eid. Medizinhistorische Neuinterpretation eines (un)bekannten Textes im Kontext der Professionalisierung des griechischen Arztes.  Zeitschrift für medizinische Ethik. 1995;  41 141-148
  • 4 Beauchamp TL, Childress JF. Principles of biomedical ethics (2nd edition). New York: Oxford University Press 1983: 213
  • 5 Bundesärztekammer . Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung.  Deutsches Ärzteblatt. 1998;  95 2366
  • 6 Klinkhammer G. TOP III - Palliativmedizinische Versorgung in Deutschland: Eine Alternative zur aktiven Euthanasie.  Deutsches Ärzteblatt. 2003;  100 1484
  • 7 Dierksmeier C, Koch MV. Ganzheitliches Denken in der Medizin - Brauchen wir eine Medizinphilosophie?.  Wiener Med Wochenzeitung. 2002;  19/20 543-544
  • 8 Fritze J, Miebach J, Hüding W. Einführung der DRGs aus Sicht der privaten Krankenversicherung.  Z ärztliche Fortbild Qual sich. 2002;  96 505-513
  • 9 Held M, Leber W-D. Das Fallpauschalengesetz (FPG) aus Sicht der gesetzlichen Krankenversicherung.  Z ärztliche Fortbild Qual sich. 2002;  96 515-520
  • 10 Hibbert D, Hanratty B, May C. et al. . Negotiating palliative care expertise in the medical world.  Social Science and Medicine. 2003;  57 277-288
  • 11 Janssens R. Palliative care - concepts and ethics. Nijmegen: Nijmegen University Press 2001
  • 12 Kostka U. The anthropological concept of modern medicine in the perspective of theological ethics. In: Thomasma D, Weisstub DN, Hervé C (eds). Personhood and Health Care. Dordrecht: Kluwer Academic Publishers 2001
  • 13 Loewy EH. Health-care-systems and ethics: what can we learn?.  Health Care Anal. 1999;  7 309-320
  • 14 Morreim EH. The MD and the DRG.  Hastings Cent Rep. 1985;  15 30-38
  • 15 Neumann H, Hellwig A. Fallpauschalen im Krankenhaus: Das Ende der „Barmherzigkeit der Intransparenz”.  Deutsches Ärzteblatt. 2002;  99 3387
  • 16 Palmer G. Casemix funding of hospitals: objectives and objections.  Health Care Anal. 1996;  4 185-193
  • 17 Pellegrino ED. Ethical issues in managed care: a catholic christian perspective.  Christian Bioethics. 1997;  3 55-73
  • 18 Pellegrino ED. What the philosophy of medicine is.  Theoretical Medicine and Bioethics. 1998;  19 315-316
  • 19 Platz E, Bey T, Walter FG. International report: current state and development of health insurance and emergency medicine in Germany. The influence of health insurance laws on the practice of emergency medicine in a european country.  J Emerg Med. 2003;  25 203-210
  • 20 Roeder N, Klaschik E. DRGs in der Palliativmedizin: Ist die palliativmedizinische Begleitung Schwerstkranker pauschalierbar?.  Das Krankenhaus. 2002;  94 1000-1004
  • 21 Saunders C. Im Vorwort zu: The medical care of terminally Ill patients (Enck RE). Baltimore, Maryland: The Johns Hopkins University Press 1994
  • 22 Statisches Bundesamt .Pressemitteilung vom 24.4.2003: „11 % des BIP für Gesundheit - jeder zehnte arbeitet im Gesundheitswesen”. 
  • 23 Woodruff R. Palliative medicine: symptomatic and supportive care for patients with advanced cancer and AIDS (2nd ed). Melbourne: Asperula Pty Ltd 1996
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Anschrift des Verfassers

Jürgen Wilmsen-Neumann

Palliativstation SPES VIVA

Klinikum St. Georg

Krankenhaus St. Raphael

Bremer Str. 31

49179 Ostercappeln

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Literatur

  • 1 Agich GJ, Forster H. Conflicts of interest and management in managed care.  Cambridge Quarterly of Healthcare Ethics. 2000;  9 189-204
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Anschrift des Verfassers

Jürgen Wilmsen-Neumann

Palliativstation SPES VIVA

Klinikum St. Georg

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Bremer Str. 31

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