Der Klinikarzt 2005; 34(3): 55-60
DOI: 10.1055/s-2005-865189
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© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Erbliche Stoffwechselkrankheiten - Der lange Weg vom Genotyp zum Phänotyp

Inherited Metabolic Diseases - The Long Way from Genotype to PhenotypeJ. Zschocke1
  • 1Institut für Humangenetik, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg (Geschäftsführender Direktor: Prof. Dr. C.R. Bartram)
Weitere Informationen
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Anschrift des Verfassers

PD Dr. Dr. Johannes Zschocke

Institut für Humangenetik, Universitätsklinikum Heidelberg

Im Neuenheimer Feld 366

69120 Heidelberg

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
11. März 2005 (online)

Inhaltsübersicht #

Zusammenfassung

Erbliche Stoffwechselkrankheiten sind zwar traditionell eine Domäne der Pädiatrie, häufiger finden sie sich aber auch in der Erwachsenenmedizin. Zum einen liegt dies am deutlich gestiegenen Wissen rund um diese Erkrankungen und den besseren diagnostischen Methoden, andererseits haben viele in der Kindheit diagnostizierte und früh behandelte Patienten inzwischen das Erwachsenenalter erreicht. Der vorliegende Artikel erläutert das komplexe Zusammenspiel von genetischen und nichtgenetischen Faktoren an typischen Beispielen. Dabei wird deutlich, dass schon bei den scheinbar „einfachen” monogen erblichen Stoffwechselerkrankungen die Grenzen zwischen „monogen” und „multifaktoriell” oder zwischen Krankheit und Risikofaktor für eine Krankheit verschwimmen. Die molekular orientierte Medizin wird auch bei den Stoffwechselstörungen komplexer, individueller und stellt höhere Anforderungen an die behandelnden Ärzte, erlaubt aber auch eine verbesserte Diagnostik und Therapie.

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Summary

Although patients with inherited metabolic diseases are traditionally a domain of the pediatrician, they are being encountered with increasing frequency in the field of adult medicine. This is due in part to the appreciable increase in our knowledge of these diseases and improvements in diagnostic methods, and in part to the fact that many patients diagnosed in childhood and receiving early treatment survive to adulthood. The present article explains the complex inter-relationship of genetic and nongenetic factors in typical examples. It can clearly be recognized that, already in the case of the apparently simple monogenic inherited metabolic diseases, the boundaries between monogenic and „multifactorial”, or between disease and risk factors for a particular disease, are blurred. Molecular-based medicine is becoming more complex and more individual, also in the case of metabolic diseases, and makes greater demands on the care-providing physician, but also permits better diagnosis and management.

Angeborene Stoffwechselkrankheiten sind eine besondere diagnostische und therapeutische Herausforderung. Die einzelnen Defekte sind zwar im Einzelnen selten, haben jedoch als Gruppe (mit einer Inzidenz von etwa 1:500 Neugeborenen) eine erhebliche Bedeutung. Meist werden sie bereits im Kindesalter symptomatisch, gelegentlich treten aber erst im Erwachsenenalter klinische Auffälligkeiten auf, die nicht selten ätiologisch ungeklärt bleiben. Zum besseren Verständnis des klinischen Bildes, der Diagnostik und der Therapie erblicher Stoffwechselkrankheiten ist es hilfreich, die verschiedlichen Ebenen des pathogenetischen Wegs vom Genotyp zum Phänotyp differenziert zu betrachten.

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Mutationen, Genotypen und molekulare Diagnostik

Die meisten erblichen Stoffwechselstörungen beruhen auf Störungen einzelner enzymatischer Reaktionen und werden durch Mutationen in einzelnen Genen (monogen) verursacht. In der Regel werden sie autosomal-rezessiv vererbt - sie treten also nur dann auf, wenn jeweils auf beiden Kopien des entsprechenden Gens krankheitsauslösende Mutationen vorliegen. In der Regel findet sich eine Vielzahl unterschiedlicher Mutationen, die meist mit üblichen PCR-Methoden (PCR = „polymerase chain reaction”) gut nachzuweisen sind. Jedoch können deren funktionelle Auswirkungen sehr unterschiedlich sein, weshalb sie nicht immer aus dem vorliegenden Befund abzuleiten sind.

Ob eine neu identifizierte genetische Variante tatsächlich eine Krankheitsbedeutung hat, ist oft nicht sicher abzuleiten. Molekulargenetische Befunde sollten daher mit Vorsicht interpretiert werden (4). Ein fehlender Mutationsnachweis schließt eine Erkrankung in aller Regel nicht aus, da auch eine sehr aufwändige Diagnostik meist nicht alle Mutationen erfasst.

Bei der Betrachtung der genetischen Grundlagen von autosomal-rezessiv erblichen Stoffwechselerkrankungen muss immer der Genotyp berücksichtigt werden, also die Kombination der jeweils vorliegenden Mutationen, da sich unterschiedliche genetische Varianten (Allele) gegenseitig beeinflussen können (speziell in Homo-Oligomeren aus mehreren Untereinheiten).

Aufwändige genetische Analysen sollten möglichst nur in spezialisierten Praxen und Instituten von Humangenetikern durchgeführt werden, die sich mit der betreffenden Krankheit exzellent auskennen. Angesichts der hohen Kosten der molekularen Diagnostik ist eine strenge Indikationsstellung notwendig [Tab. 1]. Auffällige Befunde sollen dem Patienten und seiner Familie im Rahmen einer genetischen Beratung durch einen Humangenetiker erläutert werden.

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Phänotypebenen

Der Begriff des Phänotyps erblicher Stoffwechselkrankheiten kann sich auf klinische, metabolische und enzymatische Merkmalsausprägungen beziehen. Eine klare Abgrenzung ist für den Arzt - sowohl in der Betrachtung des diagnostischen Vorgehens als auch in der Bewertung therapeutischer Maßnahmen - von erheblicher Bedeutung.

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Klinischer Phänotyp

Wichtigster Parameter für den Patienten, seine Familie und seinen Arzt ist das klinische Krankheitsbild, das die Beeinträchtigung des Patienten kennzeichnet. Dabei lassen sich erbliche Stoffwechselstörungen bezüglich Krankheitsdynamik und auslösender Faktoren verschiedenen Gruppen zuordnen, aus denen sich unmittelbare diagnostische und therapeutische Implikationen ergeben können [7] [8].

Bei manchen Erkrankungen steht eine chronische Organschädigung durch eine Anreicherung schädigender Metabolite im Mittelpunkt. Andere Erkrankungen sind durch eine akuttoxische Organschädigung bei bestimmten Stoffwechsellagen gekennzeichnet, während bei einer weiteren Gruppe eine ungenügende Bereitstellung chemischer Energieträger die Symptome verursacht. Nicht selten finden sich Mischformen mit fluktuierendem Verlauf, chronischer Schädigung, akuten Exazerbationen und einer mehr oder weniger ausgeprägten Störung der zellulären Energieversorgung. Die Kenntnis der typischen Krankheitsgruppen und ihrer auslösenden Faktoren erlaubt es auch in der Notfallsituation, rasch eine klinische Verdachtsdiagnose zu stellen und diagnostisches Vorgehen und Notfalltherapie zu fokussieren [13].

Auch der eigentliche Krankheitsbegriff bezieht sich auf den klinischen Phänotyp und bedarf einer differenzierten Betrachtung. So erleidet bei der Phenylketonurie (PKU) eine mit Eiweißrestriktion und Supplementierung unter anderem von bestimmten Aminosäuren optimal behandelte Person keine funktionelle Beeinträchtigung - sie unterscheidet sich „klinisch” nicht von einer gesunden Person, ist also nicht im eigentlichen Sinne „krank”. Zwar lässt sich ein klinischer Phänotyp auch anhand der notwendigen Behandlungsanstrengungen definieren. Manche betroffene Personen sagen jedoch, sie seien nicht krank, sie hielten vielmehr eine Diät ein, um nicht krank zu werden. In dieser Betrachtungsweise verhält sich die Phenylketonurie wie ein Risikofaktor für eine Erkrankung, wobei die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Problemen bei fehlender Behandlung natürlich sehr viel höher ist als bei den typischen „multifaktoriellen” Erkrankungen.

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Metabolischer Phänotyp

Der metabolische Phänotyp wird durch die messbaren Konzentrationen von Schlüsselmetaboliten bestimmt. Die meisten Stoffwechselerkrankungen sind durch ungünstige Auswirkungen akkumulierender Substrate oder durch einen Mangel eines notwendigen Reaktionsproduktes gekennzeichnet. Die Konzentrationen wichtiger Metabolite werden in Körperflüssigkeiten (meist Urin, Blut oder Liquor) bestimmt [3].

Häufig lässt sich ein Kausalzusammenhang zwischen der Konzentration dieser Substanzen und klinischen Symptomen ableiten. Biochemische Untersuchungen sind von zentraler Bedeutung in der Diagnostik von Stoffwechselkrankheiten [Tab. 2], wobei berücksichtigt werden muss, dass Auffälligkeiten von externen Faktoren wie beispielsweise der Stoffwechsellage oder therapeutischen Maßnahmen abhängen können.

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Enzymatischer Phänotyp

Der Begriff des enzymatischen Phänotyps bezeichnet die gemessene Aktivität des Enzyms, dessen Mangel einer Stoffwechselerkrankung zugrunde liegt. Externe Faktoren bzw. therapeutische Interventionen beeinflussen die Enzymaktivität meist nur in geringem Maße. Daher ist der enzymatische Phänotyp der beste Marker für die primäre Erkrankungsschwere im pathogenetischen Sinne.

Allerdings lassen sich viele Enzyme des Intermediärstoffwechsels nur in bestimmten Organen (z.B. der Leber) nachweisen, sodass für die enzymatische Charakterisierung invasive Gewebeentnahmen notwendig sein können. Enzymanalysen sind daher Spezialuntersuchungen, die in der Regel nur von einzelnen Labors durchgeführt werden und oft sehr aufwändig und teuer sind. Dennoch ist die Enzymanalyse in vielen Fällen die Methode der Wahl zur Bestätigung einer Diagnose und zur Abschätzung der Erkrankungsschwere bei Verdacht auf eine bestimmte Stoffwechselerkrankung. Sie ist darin meist auch der molekulargenetischen Diagnostik überlegen [Tab. 2].

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Der Weg vom Genozum Phänotyp

Bei den meisten erblichen Stoffwechselstörungen kann sich das klinische Bild zwischen Personen mit der gleichen Erkrankung stark unterscheiden. Diese Variabilität wird nicht nur von genetischen sondern wesentlich auch von exogenen Faktoren beeinflusst [Abb. 1]. Es besteht also kein starrer Kausalzusammenhang zwischen Genotyp und Phänotyp.

Zahlreiche genetische und nichtgenetische Faktoren, die zum Teil krankheitsspezifisch sind und vielfach zur erfolgreichen Behandlung eingesetzt werden, bestimmen zum einen das klinische Bild, aber auch die Konzentration von Schlüsselmetaboliten und sogar die enzymatische Restaktivität [1] [9]. Überspitzt lassen sich auch die erblichen Stoffwechselkrankheiten als multifaktorielle Erkrankungen mit monogenem Erbgang charakterisieren.

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Die Bedeutung von Mutationen

Die wichtigste Determinante für unterschiedliche Schweregrade von erblichen Stoffwechselstörungen - hier definiert als Restfunktion des entsprechenden Enzyms - sind Art und Kombination der zugrunde liegenden Mutationen. Für die Beurteilung der funktionellen Auswirkung einer Mutation müssen zahlreiche Aspekte von Transkription, Translation und Proteinprozessierung in Betracht gezogen werden ([Abb. 2]; [4]).

Am häufigsten finden sich bei den meisten Erkrankungen Missensemutationen in den kodierenden Exons, die zum Austausch einer einzelnen Aminosäure im Protein führen. Dabei ist der krankheitsauslösende Effekt nur in einem Teil der Fälle auf eine primäre Störung der katalytischen Funktion zurückzuführen. Häufiger finden sich eine gestörte Faltung und Oligomerisierung des Proteins, das dann oft sehr rasch abgebaut wird [12]. Faktoren der Proteinprozessierung wie zelluläre Hilfsproteine (Chaperone) und andere Umstände (z.B. Temperatur) spielen dabei eine wichtige Rolle. Die Abhängigkeit der Proteinprozessierung von genetischen und externen Faktoren kann nicht nur eine inter- und intraindividuelle Variabilität des „Schweregrades” einer Erkrankung bei gleichem Genotyp erklären, sondern öffnet auch Wege zum Verständnis neuer Therapiemöglichkeiten.

Bei der so genannten Compound-Heterozygotie mit zwei unterschiedlichen Mutationen auf beiden Genkopien wird eine gegebenenfalls vorhandene Restaktivität meist durch die „mildere” der beiden Mutationen determiniert. Dies lässt sich gut am Beispiel der Phenylketonurie (PKU) illustrieren ([Abb. 3], [Tab. 3]). Personen mit Compound-Heterozygotie (oder Homozyogtie) für Nullmutationen im PAH-Gen („schwere PKU-Mutationen”) sind nicht in der Lage, funktionsfähiges PAH-Protein zu produzieren und zeigen das Krankheitsbild der klassischen Phenylketonurie.

Im Gegensatz dazu führen die so genannten „MHP-Mutationen” nur zu einer mäßigen bis geringen Einschränkung der Enzymaktivität. Auch bei Compound-Heterozygotie mit Nullmutationen bewirken sie nur eine leichte, nicht diätpflichtige Erhöhung der Phenylalaninwerte im Blut - eine milde Hyperphenylalaninämie (MHP) also. Analog zur Dominanz des Wildtyp-Allels über das Krankheits-Allel bei autosomal-rezessiven Erkrankungen dominieren auch die milden Mutationen über die schweren Mutationen.

Die pathophysiologische „Krankheitsschwere” ergibt sich also nicht aus dem arithmetischen Mittel der funktionellen Restaktivitäten beider Allele, sondern wird wesentlich durch das Allel mit der höheren Enzymaktivität bedingt. Personen mit mindestens einem „milden” Allel zeigen eine „milde” Form der Erkrankung, Personen mit mindestens einem Wildtyp-Allel sind klinisch gesunde Überträger der Erkrankung.

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Epigenetische Phänomene

Sekundäre, epigenetische Modifikationen des DNA-Doppelstrangs, welche die primäre DNA-Sequenz nicht verändern, spielen eine zentrale Rolle bei der Kontrolle der Genexpression im Rahmen der Zelldifferenzierung, der Inaktivierung des zweiten X-Chromosoms von Frauen sowie der „Prägung” von Genen, die entweder nur auf dem väterlich oder dem mütterlich ererbten Chromosom exprimiert werden („genomic imprinting”). Bei erblichen Stoffwechselstörungen finden sich epigenetische Faktoren der Phänotypausprägung speziell bei Frauen mit X-chromosomal rezessiven Erkrankungen, bei denen eine variable Transkription von mutiertem bzw. normalem Allel durch die zufällige, klonale X-chromosomale Inaktivierung verursacht wird.

Während Knaben mit Hemizygotie für eine schwere Mutation typischerweise schwer erkrankt sind, kann der klinische Phänotyp bei heterozygoten Mädchen mit einer X-chromosomal erblichen Stoffwechselerkrankung (z.B. dem häufigsten Harnstoffzyklusdefekt Ornithin-Transcarbamylasemangel) auch innerhalb derselben Familie (also bei gleichem Genotyp) von schwerer neonataler Manifestation bis zur völligen Symptomlosigkeit variieren - je nachdem, ob das mutierte oder das normale Allel mehrheitlich exprimiert wird [10].

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Beeinflussung des Phänotyps durch Therapiemaßnahmen

Die meisten Stoffwechselstörungen verursachen Symptome entweder durch die Akkumulation von Substraten oder den Mangel von Produkten der Enzymreaktion. Sie sind daher oft durch eine Reduktion der Substrate bzw. Substitution der Produkte zu behandeln. In der Regel richtet sich die Therapie also primär auf den biochemischen Phänotyp. Viele Stoffwechselstörungen lassen sich beispielsweise durch eine modifizierte Ernährung mit beschränkter Substrataufnahme ausgezeichnet behandeln, wie erstmals in den 1950er Jahren bei der Phenylketonurie gezeigt wurde [2]. Bei vielen anderen Erkrankungen müssen belastende Stoffwechsellagen vermieden werden, die zur Akkumulation schädlicher Substrate oder zum Fehlen notwendiger Enzymprodukte führen können.

Wie oben angedeutet, zeigt sich hier ein Übergang von primär therapeutischen zu primär prophylaktischen Maßnahmen, also der unterschiedlichen Bewertung einer Stoffwechselstörung als Erkrankung oder als Risikofaktor für eine Erkrankung. Klassisches Beispiel für eine pharmakologische Modifikation eines Stoffwechselweges ist die Behandlung der Tyrosinämie Typ I (Fumarylacetoacetasemangel) mit dem ursprünglich als Herbizid entwickelten NTBC (Nitrotrifluoromethylbenzoylcyclohexandion). Diese Substanz blockiert das im Tyrosinabbau früher involvierte Enzym 4-Hydroxyphenylpyruvatdioxygenase und verhindert so die Akkumulation von Fumarylacetoacetat bzw. seinen hochtoxischen Metaboliten ([Abb. 4]; [5]).

Bei anderen Erkrankungen wie den Harnstoffzyklusdefekten können schädliche Metabolite medikamentös oder apparativ entfernt werden. Manche therapeutische Interventionen zielen primär auf eine verbesserte Enzymaktivität (also den enzymatischen Phänotyp) - entweder durch die Gabe eines Kofaktors, eine pharmakologische Stimulierung eines Enzyms oder eine Enzymersatztherapie. Letztere wird zum Beispiel bei den lysosomalen Stoffwechselerkrankungen wie dem Morbus Fabry eingesetzt.

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Monogen versus multifaktoriell

Eine wachsende Zahl genetischer Enzymvarianten hat eine wesentliche Bedeutung für multifaktorielle oder exogene Erkrankungen. Beispielsweise können autosomal-dominant vererbte heterozygote Mutationen der Glukokinase einen „maturity onset diabetes of the young”, also einen früh manifesten Typ-2-Diabetes, verursachen [11]. Eine Homozygotie für schwere Mutationen im Glukokinase-Gen dagegen bedingt einen schweren neonatalen Diabetes mellitus [6]. Der milde MTHFR-Mangel (MTHFR = Methyltetrafolatreduktase) aufgrund der thermolabilen Variante 677C>T zeigt sich nur durch variabel erhöhte Homocysteinspiegel im Blut. Eine Krankheitsbedeutung erlangt der milde Mangel erst im Zusammenhang mit anderen Risikofaktoren wie einem Folsäuremangel.

Dagegen verursacht der vollständige MTHFR-Mangel eine schwere epileptische Enzephalopathie. Die pharmakogenetische Bedeutung solcher Enzymvarianten für interindividuelle Unterschiede beim Stoffwechsel von Arzneimitteln ist erst in Ansätzen erkannt. Mit dem Fortschreiten des Humangenomprojektes und der genaueren Charakterisierung der genetischen Grundlagen auch so genannter komplexer Erkrankungen wird sich wahrscheinlich zeigen, dass die Ausprägung zahlreicher „multifaktorieller” Erkrankungen wesentlich durch Varianten in einzelnen Genen mitbestimmt wird.

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Schlussbemerkung

Diagnose und Therapie erblicher Stoffwechselstörungen sind eine Herausforderung für den Arzt. Sie bedürfen einer genauen Kenntnis der klinischen und diagnostischen Merkmale unterschiedlicher Stoffwechselwege und der Bandbreite phänotypischer Befunde bei den einzelnen Erkrankungen [13]. Die kollegiale Zusammenarbeit von Spezialisten verschiedener Fachrichtungen einschließlich Labormedizin und Humangenetik ist dabei unerlässlich. Den betroffenen Patienten müssen die genetischen und metabolischen Zusammenhänge ausführlich und verständlich erläutert werden, nicht zuletzt, um durch Verhaltensmodifikation eine Verbesserung der Gesundheit zu erreichen.

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Abb. 1 Enzymatische, metabolische und klinische Phänotypen von Stoffwechselkrankheiten werden durch zahlreiche Faktoren beeinflusst. Wenn möglich, sollte die Stoffwechseldiagnostik möglichst nah am klinischen Phänotyp angesiedelt sein: Enzymanalysen sind beispielsweise oft nützlicher als Mutationsanalysen. Externe Faktoren, welche die Konzentration von Schlüsselmetaboliten beeinflussen (z.B. Fasten, Substrataufnahme) müssen berücksichtigt werden; gelegentlich sind spezifische Funktionstests notwendig, um diagnostisch richtungsweisende Befunde zu erheben

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Abb. 2 Die Biosynthese eines funktionierenden Enzyms beinhaltet zahlreiche Prozesse, wobei über die hier dargestellten Aspekte hinaus häufig auch die intrazelluläre Kompartmentalisierung eine wichtige Rolle spielt. Mutationen bei Stoffwechselkrankheiten führen häufig dazu, dass kein oder kein stabiles Protein ausgebildet wird. Auch bei Missensemutationen ist häufig nicht primär die Enzymaktivität, sondern die Proteinstabilität betroffen. Bei manchen Krankheiten kann die Enzymfunktion durch Stabilisierung des mutierten Proteins, zum Beispiel mittels der Gabe von Kofaktoren, verbessert werden

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Abb. 3 Die enzymatische Restaktivität wird bei Stoffwechselkrankheiten in der Regel durch die „mildere” von zwei compound heterozygot vorliegenden Mutationen bestimmt, also durch die Mutation, die eine höhere Restaktivität des Proteins zulässt. In dem abgebildeten Fall besteht effektiv eine „funktionelle Hemizygotie” für die mildere Mutation, da ausschließlich diese auf Proteinebene vorliegt, während die Nullmutation auf Proteinebene nicht erscheint

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Abb. 4 Durch Gabe von NTBC wird die Tyrosinämie Typ I (Fumarylacetoacetasemangel) effektiv in eine Tyrosinämie Typ III (4-Hydroxyphenylpyruvatdioxygenasemangel) umgewandelt. Dies verhindert die Akkumulation hochtoxischer Metabolite wie Fumarylacetoacetat und Succinylacetoacetat

Tab. 1 Indikationen für eine molekulargenetische Diagnostik
  • Primärdiagnostik oder Diagnosesicherung bei Krankheiten, die sich klinisch, biochemisch oder enzymatisch nicht oder nicht sicher bzw. nur mit höherem Aufwand erfassen lassen (z.B. bei organspezifischer Expression, Störungen von Membran-, Struktur- und Rezeptorproteinen) sowie bei Krankheiten mit einzelnen häufigen Mutationen. Eine Mutationsanalyse ist zunächst nicht notwendig, wenn sich die Diagnose bereits klinisch sicher stellen lässt

  • Zum Erhalt von klinisch relevanten Informationen zu Verlauf und Prognose bei Krankheiten mit guter Korrelation von Genotyp und Phänotyp

  • Pränataldiagnostik

  • Analysen anderer Familienangehöriger

Tab. 2 Metabolische Basisdiagnostik

Folgende Laboruntersuchungen sollten frühzeitig bei allen Patienten durchgeführt werden, bei denen eine erbliche Stoffwechselerkrankung differenzialdiagnostisch infrage kommt:

Glukose im Blut

Hypoglykämie ist eine Manifestationsform zahlreicher Erkrankungen speziell des Kohlenhydrat- und Energiestoffwechsels; manche Krankheiten gehen häufig auch mit Hyperglykämien einher.

Säuren-Basen-Status

Viele Stoffwechselkrankheiten verursachen Störungen des Säuren-Basen-Status, sowohl Azidosen als auch Alkalosen.

Ketone im Urin (Ketostix)

Eine Ketonurie ist ein physiologischer Zustand bei längeren Nüchternperioden, kann aber postprandial auch auf eine angeborene Stoffwechselerkrankung hinweisen. Das Fehlen von Ketonkörpern während des Fastens spricht für eine Störung der Fettsäurenoxidation. Ketone (im Urin) werden meist mit unspezifischen Tests gemessen, und Erhöhungen können auch durch andere Substanzen verursacht sein.

Ammoniak

Ammoniak (NH3) ist sehr neurotoxisch, und Hyperammonämien haben eine hohe, aber gegebenenfalls vermeidbare Mortalität und Morbidität. Bei allen Patienten mit ungeklärter Enzephalopathie muss notfallmäßig die NH3-Konzentration im Blut bestimmt werden. Dies sollte in allen Krankenhäusern zu jeder Tageszeit möglich sein, da sich unmittelbare therapeutische Konsequenzen ergeben können.

Laktat

Erhöhte Laktatkonzentration sind eine häufige Folge von Hypoxie oder schweren Allgemeinerkrankungen und können eine metabolische Azidose verursachen. Eine primäre Stoffwechselerkrankung sollte in Betracht gezogen werden, wenn keine überzeugende sekundäre Ursache wie Schock, Asphyxie oder Herzinsuffizienz erkenntlich ist.

Tab. 3 Zusammenhang zwischen Genotyp und Phänotyp beim Phenylalanin-Hydroxylasemangel

Mutationen

Null-Mutation

mittelschwere Mutation

milde Mutation

MHP-Mutation

Wildtyp

Null-Mutation

klassische PKU

mittelschwere PKU

milde PKU

MHP

Überträger

mittelschwere Mutation

 

mittelschwere (milde) PKU

milde PKU

MHP

Überträger

milde Mutation

 

 

milde PKU (MHP)

MHP

Überträger

MHP-Mutation

 

 

 

MHP

Überträger

PKU = Phenylketonurie; MHP = milde Hyperphenylalaninämie

Bei Compound-Heterozygotie determiniert die mildere der beiden Mutationen (bzw. bei Überträgern durch den Wildtyp) den Schweregrad der Erkrankung („klassische”, „mittelschwere” oder „milde Phenylketonurie” sowie „milde Hyperphenylalaninämie” und „Überträger”)

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Literatur

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Anschrift des Verfassers

PD Dr. Dr. Johannes Zschocke

Institut für Humangenetik, Universitätsklinikum Heidelberg

Im Neuenheimer Feld 366

69120 Heidelberg

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Institut für Humangenetik, Universitätsklinikum Heidelberg

Im Neuenheimer Feld 366

69120 Heidelberg

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Abb. 1 Enzymatische, metabolische und klinische Phänotypen von Stoffwechselkrankheiten werden durch zahlreiche Faktoren beeinflusst. Wenn möglich, sollte die Stoffwechseldiagnostik möglichst nah am klinischen Phänotyp angesiedelt sein: Enzymanalysen sind beispielsweise oft nützlicher als Mutationsanalysen. Externe Faktoren, welche die Konzentration von Schlüsselmetaboliten beeinflussen (z.B. Fasten, Substrataufnahme) müssen berücksichtigt werden; gelegentlich sind spezifische Funktionstests notwendig, um diagnostisch richtungsweisende Befunde zu erheben

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Abb. 2 Die Biosynthese eines funktionierenden Enzyms beinhaltet zahlreiche Prozesse, wobei über die hier dargestellten Aspekte hinaus häufig auch die intrazelluläre Kompartmentalisierung eine wichtige Rolle spielt. Mutationen bei Stoffwechselkrankheiten führen häufig dazu, dass kein oder kein stabiles Protein ausgebildet wird. Auch bei Missensemutationen ist häufig nicht primär die Enzymaktivität, sondern die Proteinstabilität betroffen. Bei manchen Krankheiten kann die Enzymfunktion durch Stabilisierung des mutierten Proteins, zum Beispiel mittels der Gabe von Kofaktoren, verbessert werden

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Abb. 3 Die enzymatische Restaktivität wird bei Stoffwechselkrankheiten in der Regel durch die „mildere” von zwei compound heterozygot vorliegenden Mutationen bestimmt, also durch die Mutation, die eine höhere Restaktivität des Proteins zulässt. In dem abgebildeten Fall besteht effektiv eine „funktionelle Hemizygotie” für die mildere Mutation, da ausschließlich diese auf Proteinebene vorliegt, während die Nullmutation auf Proteinebene nicht erscheint

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Abb. 4 Durch Gabe von NTBC wird die Tyrosinämie Typ I (Fumarylacetoacetasemangel) effektiv in eine Tyrosinämie Typ III (4-Hydroxyphenylpyruvatdioxygenasemangel) umgewandelt. Dies verhindert die Akkumulation hochtoxischer Metabolite wie Fumarylacetoacetat und Succinylacetoacetat