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DOI: 10.1055/s-2005-866811
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Die Zukunft der Angsttherapien - Der sechste Sinn
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
24. März 2005 (online)
Wussten Sie schon, dass Sie einen sechsten Sinn haben? Er befindet sich ungefähr zwei Zentimeter von Ihrem Nasenloch entfernt. Es handelt sich um ein Organ, das im frühen 18. Jahrhundert von dem holländischen Arzt Ruysch entdeckt wurde, aber dessen Funktion lange unbekannt blieb. In den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts beschrieben Wissenschaftler dieses Sinnesorgan, das das Vomeronasale Organ (VNO) genannt wird, als ein funktionsloses Gebilde - ein evolutionäres Relikt.
Im Jahre 1959 entdeckte der deutsche Chemiker Adolph Butenandt bestimmte biochemische Stoffe, die Pheromone. Diese Substanzen dienen den Insekten als eine Art chemische E-mail, mit denen sie ihre Artgenossen vor Gefahren warnen, auf Nahrungsfunde aufmerksam machen, ihre Gebiete markieren oder sexuelle Bereitschaft signalisieren wollen.
Erst im Jahre 1975 wurde erkannt, dass das VNO das sensorische Organ für die Pheromone bei Säugetieren ist. Lange dachte man, dass dieses Organ nur bei Tieren vorkommt. Erst in den 90-er Jahren entdeckten der amerikanische Anatom David Berliner und seine Kollegen das VNO als ein funktionierendes, aktives Organ der Menschen. Die Bindung eines Vomeropherins an die Rezeptoren im VNO wird zum Hypothalamus und zum limbischen System übertragen. So können Vomeropherine vitale Körperfunktionen beeinflussen, wie das hormonale System, Kampf- und Fluchtreaktionen, Stimmung, Sexualverhalten, Körpertemperatur und Appetit.
Als ich kürzlich für ein populärwissenschaftliches Buch über Ängste und Angsterkrankungen recherchierte, wollte ich das Werk mit einem Kapitel über die zukünftigen Entwicklungen in der Angstbehandlung abschließen („Das Angstbuch”, 2004, Rowohlt, Reinbek). Dabei stieß ich auf die Vomeropherine und las, dass man diese Stoffe in Form eines Nasensprays direkt einsprühen könne. Ehrlich gesagt, nahm ich die Spekulationen, dass die Vomeropherine als ein zukünftige Mittel gegen Angsterkrankungen, Depressionen, Verstimmungen während der Regelblutung, bulimischen Essanfällen, Aggressionsausbrüchen, Kleptomanie oder sogar bei Kaufrausch einmal Bedeutung erlangen könnten, nicht ganz ernst. Ich stellte mir vor, dass sich nicht nur Angstpatienten bei Panikattacken einen Hub in die Nase sprayen, sondern auch Männer die Sprühdose heimlich zu einem Rendezvous mitnehmen, um die Angebetete einzunebeln, Hausfrauen das Aerosol zum Shopping mitnehmen, um Kauforgien zu verhindern, die Polizei diese Substanz bei Massenschlägereien versprüht, und dass schließlich Diätpläne plötzlich „out” sind und in Zukunft durch die kleine Sprühdose ersetzt werden. Später musste ich allerdings feststellen, dass die Entwicklung der Vomeropherine durchaus ernsthaft fortgesetzt wird. In der nahen Zukunft werden sicherlich klinische Studien zur Behandlung von Angstpatienten mit Vomeropherinen durchgeführt werden - und es wird vielleicht ein Nasenspray gegen Ängste entwickelt werden.
Bis zur Marktreife ist sicher noch ein langer Weg. Nur eine von zehntausend Substanzen, die in einem Tierversuch Erfolg versprechend erscheinen, kommt nachher auch auf den Markt. Der Artikel von Dirk Wedekind in diesem Heft beschäftigt sich mit zukünftigen Entwicklungen, die die Angstbehandlung beeinflussen werden. Zum Beispiel ist in den USA ein Medikament entwickelt worden, das auf einem völlig anderen Wirkprinzip basiert als bisherige Angstmedikamente: Es wirkt auf die Alpha-2-Delta-Untereinheit der spannungsabhängigen Kalziumkanäle. Pregabalin ist in den USA für die Behandlung der generalisierten Angststörung bereits zugelassen. Aber auch zahlreiche andere viel versprechende Linien werden in der Erforschung neuer Angstmedikamente verfolgt. Was wir brauchen, sind Medikamente, die sehr rasch wirken, nicht abhängig machen und keine Nebenwirkungen wie Abhängigkeit, Reaktionszeitverminderung, Müdigkeit, Gewichtszunahme, Übelkeit oder sexuelle Dysfunktionen haben.
Der Artikel von Martin E. Keck in diesem Heft beschreibt, wie Modelle zur Entstehung von Angst und Panik im Tierexperiment umgesetzt werden können. Es wird im Besonderen die Relevanz von genetischen Faktoren in der Pathogenese, aber auch für sinnvolle therapeutische Interventionsmöglichkeiten vorgestellt und die wissenschaftliche Spannbreite vom Tiermodell bis zu humangenetischen Untersuchungen erläutert.
Die Panikstörung ist eine Angststörung, die sich sehr gut experimentell untersuchen lässt. Dazu werden bei freiwilligen Versuchspersonen kurz dauernde Panikattacken simuliert. Andreas Ströhle berichtet in seinem Artikel über die Grundlagenforschung zur experimentellen Untersuchung von Panikattacken. Hierdurch können nicht nur physiologische und neurobiologische Grundlagen von Angst und Panik erforscht, sondern auch psycho- und pharmakotherapeutische Strategien geprüft werden.
Diese Ausgabe der psycho neuro soll einen Einblick in die Aussichten und Möglichkeiten neuer Angsttherapien geben - von der Grundlagenforschung bis zur Entwicklung neuer Medikamente. Eine spannende Zukunft beginnt.
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