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DOI: 10.1055/s-2005-866844
Jochen Sachse - zu seinem Tode
Jochen Sachse - In Memory ofPublication History
Publication Date:
15 June 2005 (online)
Unser Jochen Sachse ist tot. Sein Leben währte vom 7.11.1931 bis zum 6.1.2005. Diese bestürzende Tatsache müssen wir zur Kenntnis nehmen, so unglaublich sie uns auch erscheinen mag. Wir alle, die Jochen Sachse z. T. ja seit Jahrzehnten kannten, erlebten, wie er an Jahren zunahm, aber nicht alterte. Er blieb in all der Zeit der ranke Zeitgenosse, rastlos fragende Kollege und Kamerad mit einem Hang zum Sarkasmus und zu bildnerischer Betätigung, der uns immer wieder neue Ausblicke auf die Welt im Allgemeinen und die Medizin im Besonderen eröffnete.
Er hat sein Medizinstudium 1957 in seiner Geburtsstadt Halle abgeschlossen und in den folgenden Jahren seine Pflichtassistenz an den dortigen Kliniken geleistet. Die Facharztweiterbildung erfuhr er an der Universitätsklinik für Neurologie und Psychiatrie Halle bei dem von ihm überaus geschätzten Helmut Rennert, dessen „Lehrbuch der Neurologie und Psychiatrie” er später durch ein Kapitel „Physiotherapeutische Maßnahmen in der Neurologie” ergänzte. Dort in Halle hat Jochen Sachse ziemlich rasch spezifische Funktionsbereiche besetzt, wie Neuroradiologie, Physiotherapie und EEG. Von den beiden erstgenannten Bereichen sollte er sich nie wieder trennen. Mit dem Eintritt in die Neurologie 1960 hat er schon bald und dann eigentlich für sein weiteres Leben den Tastsinn zu seinem sensorischen Favoriten erklärt. Die Tatsache, dass J. Sachse Neurologe war, hat seine Aufmerksamkeit wohl sehr für das funktionelle Denken in der Manuellen Medizin (MM) sensibilisiert und ihm geholfen, die Brücke zwischen Nerven- und Bewegungssystem zu schlagen, von der MM heute lebt. Angeregt durch seinen Vetter H. D. Wolff hat er ab 1958 über 7 Jahre an einem Kurssystem der FAC teilgenommen, das unter dessen und Karel Lewits Leitung im Erzgebirge gewissermaßen als private Lehrveranstaltung abgehalten wurde. Hier hat J. Sachse frühzeitig die Kontakte zur Prager Schule hergestellt, die dann der MM in der DDR ihr eigenes Gepräge gegeben haben. Die engen Beziehungen zu Karel Lewit und seinem Umkreis mit V. Janda, Vele und Jirout, die 1966 durch einen Studienaufenthalt in Prag vertieft wurden, hatten prägende Wirkung auf Jochen Sachses funktionelles Denken und auf die Gestaltung des von ihm an die Verhältnisse in der DDR adaptierten Weiterbildungsprogramms für MM. Der Siegeszug, den dieses Programm damals hier nahm, ist aus heutiger Sicht fast nicht mehr vorstellbar: flächendeckend wurde ein einheitliches Lehrgebäude angeboten, das innerhalb weniger Jahre MM in fast allen Kreisen der DDR wenn auch mit Einschränkungen der Mangelgesellschaft, so doch verfügbar machte. Dazu bedurfte es der Curricula, der Heranbildung von Lehrern, der Kurs- und Prüfungsorganisation. Das alles musste neben der eigentlichen Institutsarbeit ablaufen. Inzwischen war J. Sachse 1969 aus gesundheitlichen Gründen zur Krausschen Klinik an die Charité gewechselt, hatte dort 1972 zusätzlich den Facharzt für Physiotherapie erworben, und war 1975 endgültig aus dem klinischen Bereich ausgeschert, um als Chefarzt an dem Institut für Physiotherapie in Berlin-Friedrichshain ausschließlich ambulant zu arbeiten.
Die Lehre in der Kursarbeit verlief damals noch in archaischer Weise: hören, sehen, aufschreiben, rekapitulieren. Das Ganze ereignete sich in einer familiär anmutenden Atmosphäre. Bücher gab es nicht, Lehrmittel kamen erst später zögerlich auf. Dazu war alles im Fluss. Wenn Karel Lewit wieder in den Vereinigten Staaten gewesen war, rollte die nächste Welle methodischer Varianten auf uns zu. Es war das Verdienst unseres Schulleiters, als der Jochen Sachse von Anbeginn an wirkte, das Repertoir an Techniken, die in unserer Schule gelehrt wurden, in dynamischer Stabilität zu halten. Er führte die Gruppe der manualmedizinisch tätigen Ärzte in der „Gesellschaft für Physiotherapie der DDR” zunächst mit Günther Metz in eine „Arbeitsgemeinschaft MTh.” und später in eine eigene „Sektion Manuelle Therapie” dieser Gesellschaft, in der sie fast 90 % der Mitglieder stellte. Er ist mutig auch dem Widerstand in der eigenen Lehrerschaft begegnet, als in den 70er-Jahren die Bedeutung der Muskulatur in der MM zunehmend evident wurde.
1988 zwang ihn seine angeschlagene Gesundheit zur Aufgabe seiner Leitungsfunktion im Institut. Er wirkte aber als Schulleiter auch nach der Wiedervereinigung und der Gründung der ÄMM und deren Aufnahme in die DGMM 1991 weiter, bis 1998 Frau Karla Schildt-Rudloff, seine bewährte Koautorin in Buch- und Lehrtexten, in diese Funktion eintrat. An seinem Werk, den Kurscurricula, Lehrmitteln und seinen schriftlichen Werken hat er ständig weitergearbeitet.
Die Zahl seiner Veröffentlichungen ist beträchtlich und verrät eine frühe Festlegung auf wissenschaftliche Arbeit an der Nahtstelle von Neurologie und Orthopädie. Bereits 1969 hat er seine fundamentale Arbeit zur „Hypermobilität des Bewegungssystems als potenzieller Krankheitsfaktor” veröffentlicht, die 1976 durch einen gestuften Test zur Beurteilung des Bewegungstyps ergänzt und 1984 durch den Aspekt der zentralen Koordinationsstörung erweitert wurde. 1973 kam die Erstauflage der „Manuellen Untersuchung und Mobilisationsbehandlung der Extremitätengelenke” heraus, ein Buch, das als echtes Taschenbuch in den Kitteln von Physiotherapeuten und Ärzten zu Hause ist, und dessen 7. Auflage er noch zum Ende des vergangenen Jahres erleben durfte. Mit Karla Schildt-Rudloff zusammen hat er 1989 die ÄMM-eigene Arbeitsanleitung „Wirbelsäule. Manuelle Untersuchung und Mobilisationsbehandlung” veröffentlicht, ein Werk, das an Präzision der Ausformulierung motorischer Abläufe auf diesem Gebiet kaum zu überbieten sein dürfte. Er hat über Ländergrenzen hinweg mit Wissenschaftlern wie seinem Lehrer K. Lewit gearbeitet, mit Vladimir Janda, mit Meinhard Berger in Innsbruck zur Mobilisationswirkung von Blickfolgebewegungen. Er hat im Detail geforscht, z. B. am Kapselmuster der Schulter, aber auch grundlegende Untersuchungen initiiert, die dann in der Form von Promotionsarbeiten an die Öffentlichkeit traten, so die Untersuchungen der motorischen Entwicklung von Kleinkindern durch Karla Schildt und die zur Untersuchung der normalen Beweglichkeit durch Jörg Hinzmann. Fast nebenbei trat er mit Büchern und zahlreichen Buchbeiträgen zu physiotherapeutischen Fragen an die Öffentlichkeit. Er war entscheidend an der Gestaltung des FIMM-Glossars beteiligt, das 1992/93 von der Bertelsmann-Stiftung ermöglicht worden war, und in der Expertenrunde als ein kompromissloser Sachkenner und Disputant geschätzt und gefürchtet. Besonders verdienstvoll war seine Mitwirkung bei der Herausgabe fremdsprachiger Lehrbücher im Deutschen, so dem von Karel Lewit und dem Handbuch der Muskel-Triggerpunkte von Travell und Simons. Dankbar erinnern wir uns auch der zahlreichen Diareihen, die er mit der Akademie für Ärztliche Fortbildung herausgebracht hat, die z. T. hohen Gestaltungsansprüchen genügten, kleine Kunstwerke waren. Zu denken ist da z. B. an die Grafiken von Pfitzenreuter zur „Untersuchung eingeschränkter Beweglichkeit des Rumpfes”. Diesen künstlerischen Anspruch als ein Anspruch auf Maß, Proportion und Ästhetik hat er seiner Arbeit und seinem Leben angelegt.
Die Physiotherapeuten hat J. Sachse stets als Partner des Arztes wahrgenommen. Diese Haltung entsprang seiner Hochachtung, die er für diesen Berufsstand empfand. Folgerichtig war, dass er sich auch dessen Weiterbildung in Manueller Therapie mit eben demselben Engagement widmete, mit dem er für die der Ärzte wirkte. Das geschah in einer Intensität, die eine fast nahtlose Beziehung zwischen Ärzten und Physiotherapeuten in der ÄMM herstellte und die bis heute hielt. Es ist in seinem Sinn, wenn wir sie pflegen!
Wir wundern uns bei einem solchen Lebenswerk, dass öffentliche Ehrungen in seinem Leben eher die Ausnahme waren. Jochen Sachse ist 1993 zum Ehrenmitglied der ÄMM und auch der Purkinje-Gesellschaft der Tschechischen Republik ernannt worden. Er hatte keine Lobby im öffentlichen Leben, nur in der MM. Seine Arbeit, sein Wissensdurst und seine Familie, das waren die standsicheren Fundamente, die ihn stützten. Da war kein Raum und auch gar keine Neigung, Lobbyisten um sich zu scharen. Wir wollen ihn ehren, indem wir sein Werk fortsetzen.
Wir beklagen den Verlust einer großen Persönlichkeit, die den Mut und die Kraft hatte, ihre moralischen und ethischen Grundsätze auch wirklich zu leben. Die manuelle Medizin hat einen Lehrer verloren, der unsere Schule begründete und mit aller ihm eigenen Beharrlichkeit gegen Übergriffe jedweder Art, staatlicher oder anderer Gesellschaften, auch gegen Kleinmut unter uns verteidigte, und wie kaum ein anderer hat er die MM in Deutschland mitgeformt und mitbestimmt. Er hat im Osten Deutschlands akribisch ein Lehrgebäude für MM aufgebaut und gleichzeitig durch klinische Forschung Grundlagen der MM geschaffen. Und er hat das alles mit hohen ethischen Ansprüchen getan, die ihn eigentlich zeitlebens ökonomisch benachteiligt haben. Er sah sich stets als Werkzeug seiner Ideen, nie als deren Nutznießer, darin war er Preuße, wenn er auch sonst vom Preußentum nichts wissen wollte. Ich kenne keinen Menschen, der sich mit so viel Disziplin für seine selbst gestellten Aufgaben gegen die Zeit, gegen sich und gegen seine eigene Gesundheit durchgesetzt hätte wie Jochen Sachse. Selbst in allerletzter Zeit, als ihn die Auswirkung seiner tödlichen Erkrankung schlaflos machten, hat er die Nächte noch zur Korrespondenz genutzt.
Wir sind Jochen Sachse gegenüber von höchster Dankbarkeit erfüllt. Er hinterlässt uns verpflichtend sein Werk und gleichzeitig eine Riesenlücke in unserer Gemeinschaft, die sich nur sehr langsam schließen wird. Wir werden uns seiner immer mit größtem Respekt vor seiner Leistung und mit unendlich viel Sympathie für einen Lehrer und Freund erinnern, der uns nicht nur Wissen, sondern auch Haltung vermittelt hat.
Dr. Hermann Tlusteck, i. A. des Präsidiums der DGMM