Aktuelle Neurologie 2005; 32(5): 247-248
DOI: 10.1055/s-2005-866885
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Epilepsiediagnose schon nach dem ersten Anfall möglich!

Epilepsy Diagnosis already Possible after the First Seizure!G.  Krämer1
  • 1Schweizerisches Epilepsie-Zentrum, Zürich
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Publikationsdatum:
06. Juni 2005 (online)

In diesem Heft wird die deutschsprachige Übersetzung einer neuen Definition von epileptischen Anfällen und einer Epilepsie durch eine gemeinsame Arbeitsgruppe der Internationalen Liga gegen Epilepsie (International League Against Epilepsy; ILAE) und des Internationalen Büros für Epilepsie (International Bureau for Epilepsy; IBE) vorgestellt [1]. Eine Epilepsie liegt danach nicht mehr erst nach dem Auftreten von mindestens zwei unprovozierten epileptischen Anfällen vor, sondern bereits nach einem ersten Anfall, sofern „eine dauerhafte Veränderung im Gehirn nachweisbar ist, die die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Anfälle erhöht”. Dabei ist unerheblich, ob es sich um einen provozierten oder unprovozierten Anfall handelte.

Schaut man in den frühen Lehrbüchern der Epileptologie des 18. und 19. Jahrhunderts nach (z. B. Tissot, Reynolds, Jackson oder Gowers), findet man in der Regel keine klare Trennung zwischen Anfällen und Epilepsie. In einem in den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts unter Federführung von H. Gastaut vorgelegten „Wörterbuch der Epilepsie” einer Internationalen Expertengruppe wurde Epilepsie wie folgt definiert: „Eine chronische Krankheit verschiedener Ätiologien, durch wiederholte Anfälle gekennzeichnet, die auf einer übermäßigen Entladung zerebraler Neuren beruhen (epileptische Anfälle) und mit einer Vielzahl von klinischen Erscheinungen und Laboratoriumsbefunden verbunden sein können … Ein einzelner, isolierter oder sporadischer epileptischer Anfall und epileptische Gelegenheitsanfälle … bilden keine Epilepsie …” [2]. Auch eine Kommission zur Klassifikation und Terminologie der ILAE unterschied in den 80er-Jahren klar zwischen Anfällen [3] und Epilepsien bzw. Epilepsiesyndromen [4].

Schon 1843 machte aber beispielsweise Moritz Romberg in seinem bahnbrechenden „Lehrbuch der Nervenkrankheiten des Menschen” darauf aufmerksam, dass bei einer Epilepsie nicht nur die Anfälle von Bedeutung sind: Sein Kriterium für eine Epilepsie war: „Anfälle von Convulsionen mit Bewusstlosigkeit und Unempfindlichkeit, in deren Intervallen der Zustand des Menschen der Norm der Krankheit entspricht. Für das Bild der Epilepsie sind demnach die Züge des Intervalls nicht minder erforderlich, als die Züge des Paroxysmus” [5]. In einer 1853 erschienenen Schrift eines unbekannten praktischen Arztes, die sich im Wesentlichen auf das ein Jahr vorher erschienene, preisgekrönte Buch des französischen Psychiaters Théodore Herpin [6] bezog, hieß es bereits: „Die Epilepsie ist eine meistens auf Erblichkeit beruhende chronische Krankheit, aus einzelnen oder mehrfachen Anfällen bestehend, welche nach größtenteils noch unbekannten Gesetzen periodisch erscheinen, und deren Wesen auf einer plötzlich eintretenden aber rasch verschwindenden Unterbrechung sämtlicher oder einzelner Gehirnthätigkeiten beruht” [7].

In neuerer Zeit konnte in einer großen australischen Studie bei 300 konsekutiven Patienten gezeigt werden, dass es meist schon nach einem ersten epileptischen Anfall nicht nur möglich ist, eine Epilepsie zu diagnostizieren, sondern auch ein Epilepsiesyndrom. Die Sicherheit der Zuordnung stieg unter Zuhilfenahme von einem innerhalb von 24 Stunden abgeleiteten EEG (und einem Schlafentzugs-EEG bei unauffälligem Befund) sowie einem Magnetresonanztomogramm (MRT) von 47 % über 77 % (mit EEG) auf bis zu 81 % (EEG und MRT) [8]. Schließlich haben prospektive Studien z. B. nach einem ersten Anfall im höheren Lebensalter gezeigt, dass das Rezidivrisiko sehr hoch ist [9], weshalb in neueren Therapiestudien konsequenterweise auch Patienten mit einem ersten Anfall und enstprechenden Hinweisen auf eine beginnende Epilepsie aufgenommen wurden [10].

Insofern ist der Vorschlag nicht wirklich so neu. Außerdem hat es in den letzten Jahren auch bei anderen neurologischen Krankheiten vergleichbare Entwicklungen gegeben. So kann inzwischen unter bestimmten Voraussetzungen eine MS schon nach dem ersten Krankheitsschub (klinisch isoliert auftretendes Symptom) diagnostiziert werden [11]. Allerdings sollte die neue Definition mit der erforderlichen Sorgfalt angewandt werden. Neuropädiater und Neurologen sind gefordert, und es muss unbedingt verhindert werden, dass jetzt unkritisch von Nichtfachärzten nach jedem epileptischen Anfall vorschnell von einer Epilepsie gesprochen wird. Das Feststellen einer ausreichend wahrscheinlichen epileptogenen Veränderung des Gehirns bedarf einer sorgfältigen Befunderhebung und -evaluation, die im Zweifelsfall auch über die Ableitung eines Routine-Wach-EEGs und einer bildgebenden Diagnostik mit „Routine”-Magnetresonanztomographie hinausgehen muss.

Auch die Abkehr von dem häufig missverstandenen Konzept des provozierten oder Gelegenheitsanfalls ist sinnvoll. Oft wurden damit bislang fälschlicherweise „nur gelegentlich auftretende” Anfälle benannt und besondere Umstände können auch bei einer Epilepsie das Auftreten von Anfällen begünstigen.

Literatur

  • 1 Fisher R S, van Emde Boas W, Blume W. et al . Epileptische Anfälle und Epilepsie: von der Internationalen Liga gegen Epilepsie (International League Against Epilepsy; ILAE) und dem Internationalen Büro für Epilepsie (International Bureau for Epilepsy; IBE) vorgeschlagene Definitionen.  Akt Neurol. 2005;  32 249-252
  • 2 Gastaut H. in Collaboration with an International Group of Experts .Dictionary of Epilepsy. Part I: Definitions. Geneva; World Health Organization 1973 deutsch: Gastaut H, Kugler J. Wörterbuch der Epilepsie. Stuttgart, Hippokrates 1976 : 77
  • 3 Commission on Classification and Terminology of the International League Against Epilepsy . Proposal for revised clinical and electroencephalographic classification of epileptic seizures.  Epilepsia. 1981;  22 489-501
  • 4 Commission on Classification and Terminology of the International League Against Epilepsy . Proposal for revised classification of epilepsies and epileptic syndromes.  Epilepsia. 1989;  30 389-399
  • 5 Romberg M H. Lehrbuch der Nervenkrankheiten des Menschen, Ersten Bandes, zweite Abtheilung. Berlin; A. Duncker 1843
  • 6 Herpin T. Du Prognostic et du Traitement Curatif de l'Épilepsie. Ouvrage couronné par l'Institut. Paris, London, New York, Madrid; Baillière 1852 deutsch: Frank G. Dr. Th. Herpin's bewährte Heilmethode der Epilepsie - für Aerzte, wie für die beklagenswerthen Opfer dieser schrecklichen Krankheit. Quedlinburg und Leipzig, G. Basse 1854
  • 7 Landmann S. Heilung der Epilepsie. Resultate der neuesten Beobachtungen. Fürth; J. L. Schmid's Buchhandlung 1853
  • 8 King M, Newton M, Jackson G. et al . Epileptology of the first-seizure presentation: a clinical, electroencephalographic, and magnetic resonance imaging study of 300 consecutive patients.  Lancet. 1998;  352 1007-1011
  • 9 Hart Y M, Sander J WAS, Johnson A L, Shorvon S D. for the NGPSE . National General Practice Study of Epilepsy: recurrence after a first seizure.  Lancet. 1990;  336 1271-1274
  • 10 Rowan A J, Ramsay R E, Collins J F. et al . New onset geriatric epilepsy. A randomized study of gabapentin, lamotrigine, and carbamazepine.  Neurology. 2005;  64 1868-1873
  • 11 McDonald W I, Compston A, Edan G. et al . Recommended diagnostic criteria for multiple sclerosis: guidelines from the International Panel on the Diagnosis of Multiple Sclerosis.  Ann Neurol. 2001;  50 121-127

Dr. med. Günter KrämerMedizinischer Direktor 

Schweizerisches Epilepsie-Zentrum

Bleulerstraße 60

8008 Zürich · Schweiz

eMail: g.kraemer@swissepi.ch

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