PiD - Psychotherapie im Dialog 2005; 6(3): 318-323
DOI: 10.1055/s-2005-866962
Interview
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

„Seitdem ich hier bin, brauche ich keine Angst mehr vor mir zu haben …”

Norbert  Leygraf im Gespräch mit Wolfgang  Senf
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Publication Date:
08 September 2005 (online)

PiD: Prof. Leygraf, was ist das eigentlich, die „Forensische Psychiatrie”?

Norbert Leygraf: Forensische Psychiatrie beschäftigt sich insgesamt mit allem, was in dem Überschneidungsbereich von Psychiatrie und Justiz liegt. Es geht vor allem um strafrechtliche Probleme, aber auch um zivilrechtliche Fragen. Und dann gibt es den reinen Bereich der Begutachtung, wo es darum geht, jemanden zu untersuchen, ob er schuldfähig oder in seiner Schuldfähigkeit beeinträchtigt ist aufgrund einer krankhaften Störung. Hier geht es auch um die Frage der Gefährlichkeit, also ob jemand untergebracht werden muss oder ob jemand aus der Unterbringung entlassen werden kann. Neben der Begutachtungsseite gibt es auch die Behandlungsseite in der Forensischen Psychiatrie, das ist in der Regel eine stationäre Unterbringung und Behandlung im sog. Psychiatrischen Maßregelvollzug.

Sie sagen, gibt es auch. Steht das eher im Hintergrund oder macht das einen Großteil der Forensischen Psychiatrie aus?

Das ist zwar immer schon ein Großteil der praktischen forensischen Aufgabe gewesen, gleichzeitig aber ein ausgesprochen vernachlässigter Teil der wissenschaftlichen forensischen Psychiatrie. Die Universitätspsychiater haben sich früher immer nur um die Bedingungen gekümmert, unter denen man einem Täter einen psychiatrischen Ablass erteilen kann. Was aber nach der Verhandlung mit den Leuten passierte - oder eben nicht passierte - darüber haben sie sich keine Gedanken gemacht. Deshalb hat Forschung im Bereich des psychiatrischen Maßregelvollzugs und der Behandlung von psychisch kranken Straftätern noch keine lange Tradition.

War das eher so, dass man gar nicht daran dachte, dass jemand aus einer Krankheit heraus eine Straftat begeht? Ähnlich wie man früher dachte, dass Homosexualität eine Verfehlung ist, die bestraft werden muss, und erst später wurde es dann als Krankheit angesehen.

Homosexualität hielt man früher nicht nur für eine Straftat, sondern auch für eine Krankheit. Deswegen waren damals ca. 10 % der Patienten im Maßregelvollzug wegen homosexueller Verhaltensweisen unter Erwachsenen untergebracht. D. h. sie wurden als psychisch krank und als Verbrecher angesehen. Und als die Gesellschaft ihre Normvorstellung geändert hatte, da waren sie auf einmal weder psychisch krank noch Verbrecher. Man hat also früher schon bestimmte sexuelle Fehlverhaltensweisen als eine schuldfähigkeitsrelevante Störung angesehen. Nur hatte die Unterbringung im Maßregelvollzug primär immer einen Sicherungscharakter, und der Behandlungscharakter kam allenfalls an zweiter Stelle. Von daher waren das früher auch Lebensversicherungsanlagen. Eine eigentliche Behandlung ist erst ab Mitte der 80er-Jahre mit hineingekommen.

Welche konkreten Patienten sind Fälle für die Forensik?

Grob kann man sagen, dass etwa die Hälfte der Patienten psychiatrisch Kranke im engeren Sinne sind, etwa mit schizophrenen Psychosen.

Die aus der schizophrenen Erkrankung heraus dann Dinge tun, vor denen sie hinterher fassungslos davor stehen.

Richtig. Meist aufgrund von Wahnvorstellungen. Z. B. jemand ist davon überzeugt, dass er, um die Welt zu retten, einen Politiker töten muss.

Wie bei dem Attentat auf Lafontaine.

Ja, das war eine klassische Tat aus einem schizophrenen Wahnerleben heraus. Sehr viel häufiger ist es, dass solche Tötungsdelikte im Familienrahmen passieren, dass nahe Angehörige in einen Wahn mit einbezogen und dann getötet werden.

Dann gibt es im Maßregelvollzug ungefähr 10 % Patienten mit einer schweren geistigen Behinderung. Die restlichen 40 % sind Leute mit Persönlichkeitsstörungen oder sexuellen Fehlentwicklungen, was in der Regel im Maßregelvollzug noch verkompliziert wird z. B. durch eine zusätzliche Suchtproblematik oder eine mehr oder minder starke Lernbehinderung.

Welche Rolle spielt die Psychotherapie in der forensischen Behandlung?

Bei der Behandlung von Psychosekranken spielen neben der Medikation heutzutage auch im Maßregelvollzug psychoedukative Behandlungsverfahren, das Umgehenlernen mit der Krankheit, eine wichtige Rolle. Bei Persönlichkeitsstörungen und sexuellen Fehlentwicklungen hat man lange Zeit einen eher analytischen Ansatz verfolgt. Jedenfalls in der Theorie hat man psychodynamische Behandlungsmaßnahmen bevorzugt, ohne dass man das mit tatsächlicher psychoanalytischer Behandlung vergleichen könnte, weil das eher recht autodidaktisch ablief. Das war so bis Mitte, Ende der 80er-Jahre hinein.

Das klingt eher skeptisch. Was waren das für psychoanalytische Vorstellungen?

Dass zum Beispiel bei Sexualstraftätern die sexuelle Symptomatik stellvertretend ist für andere Konfliktbereiche, die dann über den Bereich der Sexualität gelöst werden sollen. Ich sage es auch deswegen skeptisch, weil psychoanalytische Behandlungsmaßnahmen entwickelt worden sind für ein bestimmtes Mittelstandsklientel, für Menschen, die gelernt haben über Gefühle zu reden, anstatt sie sofort auszuagieren, die fähig sind, in sich hineinzuhören. Das sind Dinge, die Maßregelvollzugspatienten nicht können. Abgesehen davon glaube ich, dass eine Behandlung, die sich beschränkt auf 45 Minuten Gespräch einmal die Woche bei diesen Patienten nichts bewegt. Das sind durch die Bank Patienten, die zum Ausagieren neigen, die dazu neigen, Frustrationen nicht lange mit sich herumzutragen. Sie können vor allen Dingen am Beispiel lernen, nicht durch reine Verbalisation. Das, was auf der forensischen Station im tatsächlichen Leben passiert, ist sehr viel heilsamer als das, was in einem einstündigen Gespräch in der Woche passiert.

Ist die psychotherapeutische Behandlung in der Forensik an der Borderline-Störung orientiert, an dem Problem mangelnder Impulskontrolle? Oder sind es noch andere Probleme bei diesen Patienten?

Reine Borderline-Persönlichkeitsstörungen findet man im Maßregelvollzug selten, weil Borderline-Störungen vor allem Frauen betreffen und Frauen eher autoaggressiv als fremdaggressiv reagieren. Aber Impulskontrollstörungen haben wir sehr oft im Maßregelvollzug, da arbeitet man mittlerweile in einigen Kliniken recht strukturiert nach den in der Psychiatrie gängigen Behandlungsmethoden. Das sind mehr kognitiv-behaviorale Methoden, etwa nach Linehan. Man versucht, verbesserte Gefühlsdifferenzierung und adäquatere Reaktionen auf Gefühlswallungen zu erreichen. Ein zweiter wesentlicher Bereich bei den Persönlichkeitsauffälligen im Maßregelvollzug ist die Problematik von Dissozialität, und insbesondere die mangelnde Fähigkeit dieser Menschen, durch Negativerfahrung zu lernen. Hinzu kommt, dass vor allem Sexualstraftäter oft nicht in der Lage sind, mit anderen mitzuleiden, so etwas wie Empathie zu entwickeln, das ist das zentrale Problem.

Gibt es hier typische Profile der Patienten, die sich im Maßregelvollzug befinden?

Bei den Persönlichkeitsgestörten unter diesen Patienten ist das Profil ein Mensch, der schon relativ früh in der Schulzeit durch dissoziale Verhaltensweisen auffällt, der ständig von zu Hause wegläuft, in ein Heim kommt, dann vom Heim im Jugendstrafvollzug und später im Maßregelvollzug landet.

Ist das durchgängig so?

Etwa 40 % der Patienten im Maßregelvollzug haben vorher Heimunterbringung hinter sich, und das sind überwiegend die persönlichkeitsgestörten Patienten. Bei den schizophrenen Patienten hat man dagegen relativ viele normal sozialisierte Menschen, die nur über die Erkrankung straffällig werden.

Aber bei den Persönlichkeitsauffälligen sind das durchaus Störungen, die sich schon früh in der Biografie gezeigt haben, wo früh staatliche Sanktionen in deren Leben eingegriffen haben, und wo im Prinzip im Elternhaus schon relativ viel dissoziale und auch kriminelle Verhaltensweisen vorhanden sind. Der Gedanke, man könne diese Menschen so weit behandeln, dass sie dann als Pastorentöchter durch das Leben gehen, ist natürlich unsinnig. Man muss bei solchen Patienten relativ rasch überlegen, welches Lebensumfeld können wir ihnen einmal bieten, wohin wir sie entlassen können.

Das klingt nicht optimistisch bezüglich einer Veränderbarkeit. Das ist ja die Vorstellung des psychoanalytischen Ansatzes: diese Menschen so verändern, dass sie Persönlichkeiten werden, die nicht mehr dissozial sind und nicht mehr straffällig werden müssen. Lassen sich diese Menschen aber doch irgendwo heilen von ihrer Krankheit „Straftäter” sein zu müssen?

Schwierige Frage. Dahinter steckt ja immer noch dieses Kriminalitätskonzept von Alexander, welches auf die meisten persönlichkeitsgestörten Patienten im Maßregelvollzug nicht passt. Sondern das sind durchweg Störungen, die sich von früher Kindheit an in eine bestimmte Richtung entwickelt haben, wo das Hauptmanko eben diese Empathiestörung ist. Das wird in der Therapie zwar versucht anzugehen, z. B. gibt es Opfer-Empathie-Module, wo die Patienten Briefe an ihre Opfer schreiben müssen, die sie dann aus Sicht der Opfer lesen müssen und dann wieder einen Antwortbrief schreiben müssen. Dadurch lernen die Patienten zwar kognitiv, wie sich die Opfer so fühlen mögen, aber sie fühlen es dann trotzdem nicht mit. Wie man Menschen tatsächlich Mit-Leiden beibringen soll, die das grundsätzlich nicht können, ist mir bislang ein Rätsel. Und das ist ein Kernproblem bei der Behandlung. Man sollte sich also eher darauf beschränken, den Leuten beizubringen, mit ihren Handikaps einigermaßen leben zu können und nicht mehr straffällig zu werden.

Das heißt zu lernen, mit der fehlenden Empathie oder Empathiestörung umzugehen?

Ja, indem man ihnen beibringt, dass es sich auch für sie selber lohnt, keine Straftaten mehr zu begehen.

Haben Sie Überlegungen, woher diese Empathiestörung kommt?

Es gibt Untersuchungen von Frau Prof. Herpertz aus Rostock, die diese Störung schon bei relativ jungen Kindern experimentell anhand des sog. Startle-Reflexes hat nachweisen können. Das ist etwas, was sich sehr früh ausprägt. Ein Teil wird sicherlich auch genetisch vorbedingt sein. Bei einer ganzen Reihe von Patienten, die ich begutachtet habe, hatte ich aber doch den Eindruck, dass es nicht nur die Genetik ist, sondern tatsächlich auch das Maß an Empfindungen, das uns selbst in ganz jungen Lebensjahren entgegengebracht wird.

Also eine erworbene Empathiestörung?

Unsere Fähigkeit mit-zu-leiden kann man fördern, man kann sie offensichtlich auch stoppen.

Trifft das die Vorstellung, dass Straftäter das tun, was sie selber erlitten haben.

Ganz global trifft es sicherlich in vielen Fällen zu. Gerade in ganz jungen Jahren haben viele Täter Situationen von absoluter Hilflosigkeit und Ausgeliefert-Sein erlebt und sind deshalb ständig bemüht, diese Situationen zu vermeiden, indem sie selber die Herrschaft über diese Situation ergreifen. Das, was heutzutage en vogue ist, dass nämlich jeder sexuelle Missbraucher früher selber sexuell missbraucht worden ist, das wage ich allerdings zu bezweifeln.

Heißt Störung der Empathiefähigkeit, dass diese Menschen sozusagen nicht in der Lage sind, sich mit den Opfern, die sie vielleicht grausam umgebracht haben, in irgendeiner Weise zu identifizieren - womöglich sogar mit einem Kind - und dass sie sich auch nicht mit dem Leiden der Hinterbliebenen identifizieren können?

Diese Menschen haben oft überhaupt kein Gespür für den Schrecken, den sie angerichtet haben. Ein Täter hat mir mal seine Taten als eine Art göttliche Fügung beschrieben, weil auf diese Art und Weise nun alle Welt wisse, dass er in Behandlung müsse. Die Opfer mussten also deshalb sterben, um ihn in eine Behandlung zu bringen. Als ich dann nachfragte, wie sich das aus Sicht der Opfer anhören muss, reagierte er voller Unverständnis.

Das heißt, ein Nachvollzug des Leidens der Opfer ist nicht zu finden. Das erinnert mich an die Alexithymie-Diskussion.

Ja, in die Richtung geht das. Wobei man unterteilen muss zwischen der Fähigkeit zu spüren, was ich in anderen Menschen auslöse oder bewirke - das ist ja das Grundhandwerkszeug eines jeden Betrügers - und der Fähigkeit, wirklich emotional mitzuleiden. Gerade pädophile Straftäter haben ja eine enorme Fähigkeit, Kinder dahin zu bringen, wo sie sie hinhaben wollen, weil sie genau wissen, was sie machen müssen. Sie können sich sehr gut steuernd in das Kind hineindenken, aber nicht mitleiden.

Sie können nicht nachempfinden, was sie anrichten. Das ist praktisch wie ausgestanzt.

Das ist ausgestanzt, und das mag damit zu tun haben, was sie in ganz frühen Lebensjahren an Gefühlszuwendungen eben nicht erfahren haben.

Dass heißt, man könnte von gestörten Identifikations- und Introjektionsprozessen sprechen. Gibt es denn empirische Belege, was da objektiv war in den Biografien?

Nein. Es gibt allenfalls recht globale empirische Belege über Rückfallstraftäter, dass diese z. B. häufiger aus Broken-home-Situationen kommen. Aber genauere Dinge weiß man nicht.

Was empfehlen Sie therapeutisch für diese Patienten? Haben Sie persönlich bestimmte therapeutische Schwerpunkte?

Hier am Institut haben wir lediglich eine ambulante Nachbetreuung von Maßregelvollzugspatienten. Da geht es mehr um Alltagsbegleitung, medikamentöse Behandlung, Krisenintervention und Ähnliches. Ansonsten denke ich, dass man im Maßregelvollzug eher auf verhaltensbezogene Therapiemaßnahmen zurückgreifen muss. Was natürlich nicht heißt, dass man analytisches Denken beiseite legen sollte, bei der Überlegung woher kommt das eigentlich. Die Gefahr bei vielen der neuen kognitiv-behavioralen Verfahren ist im Übrigen, dass die therapeutische Beziehung vernachlässigt wird. Ich glaube, dass auch solche Verfahren nur dann funktionieren, wenn sie auf einer vertrauensvollen therapeutischen Beziehung aufbauen. Vieles, was in den letzten Jahren in die Forensik importiert worden ist, stammt aus kanadischen Behandlungsmodulen, die primär im Gefängnis entwickelt wurden. Das sind alles Behandlungsmodule, die relativ schnell erlernbar sind, womit man Sozialarbeiter beschäftigen kann. Diese Behandlungsmodule sind auf einen Durchlauf von vier bis sechs Wochen ausgerichtet, und das kann man auf unsere Patienten nicht übertragen. Zumal Behandlung sich bei diesen Patienten nicht in Wochen und Monaten rechnet, sondern in Jahren bis Jahrzehnten.

Was ich verstanden habe ist, dass es nicht nur um eine Disziplinierung oder um edukative Maßnahmen gehen kann, sondern darum, wie diese Menschen lernen, mit ihrem Empathiedefekt umzugehen? So wie jemand mit einer Krebserkrankung lernen muss, damit umzugehen oder lernt mit seinem Diabetes umzugehen oder einer anderen chronischen Krankheit. Wäre das das Modell?

Das wäre das Modell bezüglich der Empathieproblematik. Ansonsten wird tatsächlich im Alltagsleben gelernt. Deshalb ist der Umgang des Personals, nämlich des Stationspersonals, das 24 Stunden mit dem Patienten zu tun hat, zentral wichtig. Auch der Umgang des Stationspersonals untereinander, also das, was die Patienten hier miterleben. Das ist eins der wesentlichen Lernfelder im Maßregelvollzug. Maßregelbehandlung läuft nicht über ein oder zwei Jahre, sondern die durchschnittliche Verweildauer liegt bei sieben Jahren. Die meisten Patienten bleiben fast zehn Jahre oder länger, sodass da auch sehr viel Zeit ist, am Modell der Station zu lernen.

Sie betonen den Umgang des Personals untereinander als Modell für diese Patienten. Das heißt dann ja auch, dass die, die im Maßregelvollzug therapeutisch arbeiten, aus der noch bestehenden Stigmatisierung herausgenommen werden. Machen Psychiater nicht auch gerne einen großen Bogen um die dicken Mauern der Forensik? Man sieht das ja auch daran, wie die Bevölkerung reagiert, wenn Kliniken eingerichtet werden sollen.

Es sieht weniger die dicken Mauern, die sind größtenteils verschwunden. Dafür sind nun dünne Plastikwände gekommen, die auch nicht besser aussehen, aber ein gewisses Maß an äußerer Sicherheit muss einfach da sein. Nein, es war tatsächlich immer eine Negativauslese, nicht nur bei den Patienten, sondern auch bei den dort Tätigen, sodass z. B. die Stationsmitarbeiter oft straf- oder zwangsversetzt waren. Auch die Ärzte haben sich nicht darum geschlagen, dort tätig zu werden. Das hat sich in den letzten Jahren gebessert, was mit ein Effekt davon ist, dass sich Maßregelvollzug verselbstständigt hat. Das heißt: Früher waren das die Disziplinierstationen in der Allgemeinen Psychiatrie, wo nicht nur die Straftäter, sondern auch die sonst unliebsamen Patienten und das problematische Personal hinkamen. Seit es eigene Maßregelabteilungen und Maßregelkliniken gibt, haben auch die Mitarbeiter ein besseres Selbstkonzept entwickelt und stehen hinter ihrer tatsächlichen Arbeit.

Gibt es denn für Sie spezielle Anforderungen und Kompetenzen für Psychotherapie im Maßregelvollzug? Was würden Sie an Voraussetzungen erwarten, wenn Sie ein Ausbildungsinstitut hätten.

Ganz wesentlich ist die Fähigkeit, nicht nur therapeutisch zu denken, sondern auch gleichzeitig immer Gefährlichkeitseinschätzung zu betreiben. Das ist die Doppelgleisigkeit, die man im Maßregelvollzug hat. Man ist nie nur für den Patienten verantwortlich, sondern auch dafür, dass er keinen Schaden anrichtet.

Man ist sowohl Anwalt des Patienten, als auch Anwalt für die gefährdete Umwelt.

Ja. Das bringt die Notwendigkeit mit sich, sich mit einem Patienten sehr intensiv auseinander zu setzen, ohne ständig daran zu denken, dass er schon vier Frauen umgebracht hat. Denn wenn Sie ständig daran denken, können Sie ihm nicht offen begegnen. Aber wenn es dann um die Frage geht, ob er denn Ausgang bekommt, da muss die gesamte Gefährlichkeit, die gesamte Vorgeschichte präsent sein. Das ist eine der Besonderheiten im Maßregelvollzug, die sich durch alle Berufsgruppen durchzieht, dass man immer für beide Teile Verantwortung hat. Das führt zu einer Grundsatzdiskussion, die es im Maßregelvollzug wie im Strafvollzug immer wieder gibt: die Schweigepflicht. Eigentlich bestehen Therapeuten darauf, dass sie über das, was in der Therapie passiert, nach außen nichts bekannt geben zu müssen. Bei Analytikern ist es ja ganz streng, dass sie da abstinent sein wollen, das geht aber im Maßregelvollzug nicht.

Betrachten wir nun einmal den Aspekt der Gegenübertragung, z. B. der Patient hat vier Frauen umgebracht. Ist das denn für Therapeuten auszuhalten? Oder wer kann das überhaupt? Was gibt es da für Hilfsmöglichkeiten für die Therapeuten?

Mittlerweile gibt es, wie in der Allgemeinen Psychiatrie und Psychotherapie, für den Maßregelvollzug externe Balint-Gruppen, externe Supervisionen etc. Man muss wirklich die Fähigkeit haben, bestimmte Dinge eine Zeit lang auszublenden.

Man braucht eine gute Verdrängungs- und Verleugnungsstrategie.

Ja, die aber sofort aufgegeben werden muss, wenn es um die Frage von Gefährlichkeitseinschätzungen geht.

Gibt es eine Begabung, das zu können, diesen Drahtseilakt.

Begabung weiß ich nicht. Was man braucht, ist sicher eine gewisse Erfahrung und ein Kontrollsystem bei sicherheitsrelevanten Entscheidungen.

Sie würden sagen, dass das etwas ist, was man auch lernen kann?

Das kann man lernen, wie man vieles andere berufsbegleitend lernt. Das Problem bei der Tätigkeit im Maßregelvollzug ist, dass sie gesellschaftlich immer noch nicht sonderlich angesehen ist, sodass man auch nicht immer die besten Therapeuten dazu bewegen kann, hier zu arbeiten. Es ist ja ein sozialpsychologisches Gesetz, dass sich die am besten ausgebildeten Therapeuten um die am wenigsten bedürftigen Patienten drängeln.

Was ich so heraushöre ist, dass die Arbeit mit diesen schwer empathiegestörten Patienten, die dann schlimme Straftaten begehen, auch eine enorme Belastung für die Therapeuten darstellt. Vielleicht vergleichbar der psychotherapeutischen Arbeit mit Psychotikern, wo man in Bereiche kommen kann, die sehr dramatisch sein können. Bei diesen Patienten kommt bestimmt noch das eigene Vorurteil hinzu - also mit einem Mörder sich hinzusetzen, das stelle ich mir doch schwierig vor.

Das ist das eine, was schwierig ist. Das andere ist, dass der Therapeut, der mit Psychosekranken arbeitet, sicherlich mit ganz schrecklichen Dingen im Erleben der Patienten konfrontiert ist. Aber er hat den unschätzbaren Vorteil, dass er relativ rasch Besserungen erzielt und sieht, wie dieser Mensch wieder gesundet. Diesen Vorteil hat man jedenfalls bei den persönlichkeitsgestörten Patienten in der Forensik nicht. Wenn überhaupt Veränderung, dann nur sehr langsam und in sehr begrenztem Maße. Man muss hier seine Behandlungsziele sehr genau definieren. Wenn man z. B. bei jedem Patienten als Behandlungsziel die Entlassung aus dem Maßregelvollzug anstrebt, dann wird man unglücklich dabei. Behandlungsziel kann auch sein, jemanden so weit zu bringen, dass er sich mit der Schrecklichkeit seiner Taten und seiner eigenen Gefährlichkeit so arrangiert, dass er erkennt, warum er sein Leben lang eingesperrt bleiben wird. Es gibt in den Niederlanden sog. Long-Stay-Units. Das ist der euphemistische Begriff für Bewahrabteilung. Dort kommen Patienten hin, die an zwei unterschiedlichen Kliniken erfolglos behandelt worden sind, und wo man denkt, die können nicht entlassen werden. Da hat mir ein Patient gesagt: „Seitdem ich hier bin, brauche ich keine Angst mehr vor mir zu haben”. Auch das kann Ziel von Therapie sein, jemanden so weit zu bringen.

Das ist eine wichtige Frage, wo liegt die Zielsetzung, wo sind die Beschränkungen in der Zielsetzung. Heilung, wie z. B. bei den psychotischen Patienten und Normalisierung des Lebens bis zum nächsten psychotischen Einbruch, das ist ja bei diesen Patienten oft nicht zu verantworten. Das heißt, man macht eine Behandlung, damit Patienten akzeptieren lernen, dass sie eingesperrt bleiben.

Ja. Man muss es ein bisschen abstufen. Es gibt Patienten, bei denen man durchaus ein späteres Leben in Eigenständigkeit vor Augen haben kann, und sie daraufhin behandelt. Es gibt eine ganze Reihe von Patienten, bei denen man von vorneherein sagen muss, dass sie ihr weiteres Leben in strukturierten Einrichtungen verbringen. Das muss dann nicht die Forensik sein, das können auch betreute Wohnheime oder Ähnliches sein.

Und dann gibt es eine Patientengruppe, bei der das Ziel der Entlassung in ganz weiter Ferne liegt. Solchen Patienten wird man glaube ich nicht gerecht, und auch sich selber nicht, wenn man da zum Schein weiter so tut, als würde man auf eine Entlassung hinarbeiten. Das führt dazu, dass man den Patienten sagt: Ihr müsst nur ordentlich mitarbeiten, dann kriegt ihr eure Lockerungen, ihr müsst nur Therapie machen. Dann macht und macht der Patient irgendwas, ohne dass er weiß, was er eigentlich machen soll, weil der Therapeut es ja eigentlich auch nicht weiß. Nach zwei Jahren fragt der Patient, wann er denn nun endlich seine Lockerungen bekommt. Dann sagt man: Nein, noch geht's nicht, du bist noch nicht weit genug, du musst weiter Therapie machen.

Da ist es ehrlicher, dem Patienten zu sagen: Ob du hier jemals rauskommst, steht in den Sternen, nach unseren derzeitigen Behandlungsmöglichkeiten ist es eher unwahrscheinlich. Das heißt aber noch lange nicht, dass wir nicht schauen können, woher kam das eigentlich, dass du so geworden bist, wie du bist. Und wie kannst du dich ändern, dass du innerhalb dieses Kosmos Maßregelvollzug einigermaßen mit dem Leben klarkommst. Und möglicherweise ergeben sich Veränderungen, und dann sieht es nach zehn Jahren doch nicht so düster aus. Aber das weiß man nicht. Man weiß ja nie, wohin sich das Leben entwickelt. Aber es gehört zur Ehrlichkeit dazu, dann, wenn eine Entlassungsperspektive überhaupt nicht in Sicht ist, das offen mit dem Patienten zu besprechen. Außerdem bringt man sich selbst sonst auch nur in Misserfolge, weil man sich selber zuschreibt, dass der Patient noch nicht entlassen ist. Der Internist schreibt es sich ja auch nicht selber zu, wenn er ein Lungenkarzinom nicht mehr heilen kann.

Aber da gibt es doch noch eine interessante Perspektive: Die würde bedeuten, den Menschen im Maßregelvollzug zu helfen, besser mit sich selbst zurechtzukommen. Das ist ja eine Seite, die man bei den Straftätern nie so sieht, dass sie auch ein Leiden an sich selbst haben.

Es gibt persönlichkeitsgestörte oder sexuell deviante Straftäter, bei denen es schwer sichtbar ist, dass sie an sich selber leiden. Es gibt aber viele, bei denen das deutlich ist. Am plastischsten kann man das sehen in dem Film „Interview mit einer Bestie”, einem Film über Jürgen Bartsch, diesem mehrfachen sadistischen Kindermörder. Dieser ganze Film lebt von den Tonbandaufnahmen, die der damalige Gutachter während der Exploration gemacht hat. Da spürt man an der Stimme dieses Mannes, wie gequält er von seinen eigenen sexuellen Trieben ist, wie er unabhängig von einer Entlassung hofft, dass man ihm hilft, das loszuwerden. Auch das kann Ziel der Behandlung sein. In der somatischen Medizin würde man von Palliativmedizin sprechen.

Das sind ja eigentlich ganz neue Gedanken. Wo sehen Sie denn die Zukunft der Forensik und auch die der Psychotherapie in der Forensik?

Die Zukunft sieht aus rein praktischen Gründen düster aus. Wir haben eine Überfüllung im Maßregelvollzug auf ein unerträgliches Maß. Man hat die Einweisungen in den Maßregelvollzug in den letzten zehn Jahren verdoppelt, ohne dass wir die Plätze verdoppelt hätten. Und es hat sich ein gesellschaftliches Klima entwickelt, das keinerlei Rückfallgefahr mehr akzeptiert. Das heißt, man hat die Entlassungen massiv reduziert, weil jegliche Gefahr einer neuen Straftat irgendwie verhindert werden soll. Wenn dieses Klima sich weiter hält, ist keine Behandlung mehr möglich. Ansonsten denke ich, dass Psychotherapie als ein Bestandteil von Gesamtbehandlung im Maßregelvollzug sicherlich eine Zukunft hat neben medikamentösen Behandlungen, und zwar vor allem in Form von Teambehandlung. Teambehandlung ist das Wesentliche im Maßregelvollzug, da hilft keine Therapiemethode, wo ein Therapeut etwas ganz alleine mit einem Patienten macht. Außerdem entwickelt sich hier sehr viel mehr in Gruppentherapien als in Einzelbehandlungen.

Wäre das auch eine Möglichkeit für niedergelassene Therapeuten, sich da einzuklinken, therapeutische Kompetenzen in solchen Einrichtungen einzubringen oder geht das eher nicht?

Im Rahmen von Supervision durch externe Psychotherapeuten ist das sicherlich nicht schlecht, weil sie eine ganz andere Sichtweise einbringen als die reinen Forensikexperten. Außerdem besteht ein hoher Bedarf an kompetenten Therapeuten für die ambulante Nachbetreuung der Patienten. In der direkten Behandlung hat sich das aber als schwierig erwiesen, wenn ein Externer für Patienten im Maßregelvollzug in die Therapie mit eingebunden wird. Da gibt es Probleme bei der Informationsweitergabe von Station zu Therapeut, Probleme der Schweigepflicht etc. und man fördert nur die Spaltungsmechanismen der Patienten.

Für die Kernarbeit sollte sich also jemand dazu entschließen, seinen beruflichen Schwerpunkt innerhalb der Forensik zu finden. Wie ist der Zulauf bei Ihnen?

Von Psychologen recht viel, von Psychiatern leider relativ wenig.

Es bestehen also keine Nachwuchsprobleme?

Bei den Psychologen nicht so sehr, die schaffen es eher, sich mit einer solchen Spezialisierung zu arrangieren, als man das als Psychiater tut.

Warum sind die Psychiater so zurückhaltend? Sind das so alte Vorstellungen, dass man sich in die Forensik eher strafversetzt fühlt?

Möglicherweise ist das ein Punkt. Ein anderer Punkt ist, dass die Stellensituation eine ganz andere ist. Man kann sich als Psychiater derzeit seine Stelle aussuchen, das ist bei Psychologen weniger möglich. Die Stellen in den Kliniken sind gar nicht so wenig. Aber die Kliniken haben das Problem, diese Stellen mit Psychiatern zu besetzen, zumal die räumliche Lage vieler Kliniken recht unattraktiv ist.

Ich denke, dass auch der Status mit eine Rolle spielt. Wenn ich abends auf einer Party erscheine und sage „Ich bin forensischer Psychiater”, dann habe ich zwar Zuhörerschaft ob des Faszinosum der Grausamkeiten, aber es existiert eine ambivalente Haltung.

(Lacht). Ich war letzte Woche als Referent bei der Richter-Akademie in Trier. Da bin ich mit dem Taxi zum Bahnhof gefahren und der Taxifahrer meinte, er müsste mich unterhalten. Und er hat dann sehr die Juristen, die Richter und die Staatsanwälte gelobt, die würden sich immer so fleißig weiterbilden, die seien ja auch so wichtig und so weiter. Dann habe ich irgendwann mal gemeint, ich wäre gar kein Jurist, ich wäre Sachverständiger für Forensische Psychiatrie. Da sagte er nur, „Och, ist ja nicht so schlimm, das muss ja auch mal sein”.

Das ist ein guter Schlusssatz. Herr Leygraf, vielen Dank für das interessante Gespräch.