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DOI: 10.1055/s-2005-866975
„Wir müssen aus unserem Repertoire das nehmen, was gerade passt …”
Publication History
Publication Date:
08 September 2005 (online)
Gisela Braun, Dr. med. Fritz Boencke, Dr. med. Klaus Radau-Pfeil und Dr. med. Hanno Schönfelder sind in Göttingen niedergelassene FachärztInnen für Psychiatrie und Psychotherapie bzw. Nervenheilkunde.
PiD: Ist es für den niedergelassenen Psychiater angesichts schwieriger wirtschaftlicher Bedingungen noch möglich, Psychotherapie zu machen? Oder ist Psychotherapie in der psychiatrischen Praxis ein Zuschussgeschäft?
F. Boencke: Eine wesentliche Verbesserung ist seit dem zweiten Halbjahr 2004 eingetreten. Seither wurde betreffs der Richtlinienpsychotherapie die Gleichstellung der nur teilweise psychotherapeutisch tätigen Psychiater und Nervenärzte mit den ausschließlich psychotherapeutisch tätigen Kollegen erzielt. Das war vorher nicht so. Da war es schon ärgerlich, wenn ich mit meiner hoch qualifizierten, langen und teuren Ausbildung nur etwa halb so viel verdient habe wie ein Verhaltenstherapeut, der seine Zulassung über eine Nachqualifikation bekommen hat.
H. Schönfelder: In unserer Praxis hat sich nicht so viel verändert, weil wir einen erheblichen neurologischen Apparateanteil haben; dadurch teilt sich das stärker auf. Das hat allerdings dazu geführt, dass wir wegen höherer Unkosten auch für Personal mehr Privatpatienten für Psychotherapie angenommen haben. Das ist zwar ungerecht, war aber notwendig. Wenn das mit dem Punktwert jetzt anders aussieht, wird sich auch das wohl wieder ändern.
Eine Psychotherapiepraxis lässt sich einfach organisieren und ist auch nicht personalaufwändig. Eine psychiatrische oder nervenärztliche Praxis ist vergleichsweise aufwändig. Ist die Entlohnung für Psychotherapie unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten dennoch tragfähig?
G. Braun: Ich habe das ähnlich gemacht wie Herr Schönfelder. Ich habe einen Tag für Psychotherapie reserviert, und ich behandle, damit sich das rechnet, vorwiegend Privatpatienten. Der Hauptteil meiner Tätigkeit ist Psychiatrie. Ich habe mich vor 19 Jahren niedergelassen, als es schon viele Neurologen in Göttingen gab. Deshalb habe ich diesen Teil zwar nicht vernachlässigt, aber auch nicht ausgebaut.
Sie müssen also einen bestimmten Stundensatz erwirtschaften, und damit sich die Praxiskosten amortisieren, müssen Sie für Psychotherapie vorwiegend Privatpatienten nehmen?
H. Schönfelder: Ich hatte etwa ein Drittel Psychotherapie, ein Drittel Neurologie, ein Drittel reine Psychiatrie. Ich habe die Psychotherapie völlig abgetrennt von der psychiatrisch-neurologischen Praxis, indem ich an bestimmten Tagen in der Woche ausschließlich Psychotherapie machen konnte. In einer Gemeinschaftspraxis trägt sich das dadurch leichter, dass ein Partner mitarbeitet und in der Zeit, in der der eine Psychotherapie macht, die anderen Patienten neurologisch oder psychiatrisch versorgt. Das trägt sich dann auch. Wenn man eine gemischte nervenärztliche Praxis alleine macht, würde sich Psychotherapie, glaube ich, nicht tragen können. Wenn wir ausschließlich Psychotherapie machen wollten, könnten wir uns auch irgendwo ein Zimmer nehmen und uns da reinsetzen.
F. Boencke: Wir machen außer EEGs keine wesentlichen technischen Untersuchungen. Wenn man Personal für einen Doppler oder andere Untersuchungen bezahlen müsste, würde es natürlich schwierig, weil dann für das Personal, das man bezahlen muss, auch viel Leerlauf entsteht. Betreff der Psychotherapie kann es verführerisch sein, Patienten nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten auszusuchen, also Privatpatienten zu bevorzugen. Für die Behandlung ist das sicherlich nicht die beste Voraussetzung.
Offenbar lässt sich Psychotherapie nicht so ganz einfach in die psychiatrische Praxis implementieren, weil das besonderer struktureller Bedingungen bedarf. Am besten scheint das in Gemeinschaftspraxen und größeren Praxiseinheiten möglich zu sein. Diese gleichsam ausgegliederte Psychotherapie ist wohl in erster Linie Richtlinienpsychotherapie?
Alle: Ja.
K. Radau-Pfeil: Für Ultrakurztherapie können beispielsweise die probatorischen Sitzungen ausgeschöpft werden, indem sie halbiert werden. Da ist dann einige Flexibilität möglich. Das ist bei reinen Psychotherapeuten anders, weil die dafür nicht so ohne weiteres Zeiten freimachen können. Ich mache beispielsweise viele Kriseninterventionen bei Patienten, die von Hausärzten geschickt werden. Die sehe ich vielleicht eine halbe Stunde im Erstkontakt. Da kann man schon einiges besprechen.
Dann ist der eine Teil ihrer Tätigkeit die Durchführung von Psychotherapie, wenn die Indikation klar ist. Offenbar machen Sie in der normalen psychiatrischen Praxis aber auch eine psychotherapeutische Primärversorgung, unter Umständen ultrakurz.
G. Braun: Ja.
K. Radau-Pfeil: Ich halte so etwas allerdings für schwer realisierbar, wenn man die Leistungen nicht im Rahmen der Psychotherapieziffern abrechnen kann. Es gibt Berechnungen der nervenärztlichen Berufsverbände, wonach man wirtschaftlich nur mit durchschnittlich 1,7 Kontakten im Quartal arbeiten kann. Zumindest gilt das bei einer Kostenstruktur wie in unserer Praxis, zu der die gesamte neurologische Versorgung gehört - wir sind zwei Nervenärzte mit Psychotherapie-Zusatztitel. Das heißt: Wenn ich einen Patienten kurzzeitpsychotherapeutisch behandeln will und ihn drei oder vier Mal kommen lasse, dann gerate ich schon in einen Bereich, wo sich das wirtschaftlich wahrscheinlich nicht mehr trägt. Ich habe einen Vormittag für reine Richtlinienpsychotherapie reserviert. In der Zeit wird mir der Rücken freigehalten und mein Personal wird von meiner Kollegin eingesetzt. Ich begrenze mich da auch überwiegend auf Privatpatienten. Ich habe allerdings auch eine Patientin, die gesetzlich versichert ist, trotz des Wissens, dass ich dabei kaum etwas verdienen werde, aus reiner Neugierde und Interesse.
F. Boencke: Wir müssen mal klarstellen, dass die Einkommenssituation der rein somatisch-nervenärztlich und neurologisch tätigen Kollegen unter dem Strich letztendlich doch sehr viel besser ist als die der psychotherapeutisch Tätigen.
Im Grunde genommen machen Sie also eine Primärversorgung mit einer hohen Zugänglichkeit. Das geht in der üblichen Psychotherapiepraxis nicht, weil es dort Wartezeiten gibt und der Patient in die Anrufbeantworterschleife gerät. Wenn wir das richtig sehen, bieten Sie eine psychotherapeutische Kompetenz innerhalb der direkten Versorgung an: Der Patient kommt, und Sie sagen, Sie haben eine halbe Stunde Zeit. Dazu sind diese Leistungen im Grunde genommen zu schlecht vergütet.
G. Braun: Ja
Diese Primärversorgung ist ökonomisch nicht gerade das Highlight. Man könnte ja auch sagen, dass Sie für die Primärversorgung gerade mehr bekommen müssten.
K. Radau-Pfeil: Es sei denn, man macht wirklich nur ganz kurze Kontakte, sagen wir, maximal eine Viertelstunde pro Kontakt und vielleicht höchstens drei oder vier im Quartal.
H. Schönfelder: Ich würde dennoch sagen, dass es uns in unseren Praxen wirtschaftlich nicht viel schlechter geht als vor fünf Jahren.
Welche Psychotherapierichtungen sind in der psychiatrischen Praxis überwiegend vertreten?
H. Schönfelder: Also, ich glaube, in erster Linie ist es die psychodynamische Therapie, und zwar die psychodynamische Kurztherapie. Ich denke, dass die unter den ärztlichen Psychotherapeuten am meisten verbreitet ist. Entscheidend ist natürlich, was wir an Psychotherapie gelernt haben. Eben das macht jeder dann auch. Im Laufe der vielen Jahre, die man so etwas gemacht hat, fließen andere Richtungen von anderen Therapieformen mit ein. Da kommt es immer wieder mal vor, dass man sagt, hier muss ich Expositionstherapie oder etwas anderes machen, vielleicht auch mal wieder Gruppentherapie oder Rollenspiel. Und dann stellt sich natürlich auch noch die Frage, welche weiteren Methoden man gelernt hat, etwa stützende und imaginative Verfahren oder Hypnose, und das lässt man eventuell auch mit einfließen. Jedenfalls war das bei mir am Anfang so. Später habe ich überwiegend psychodynamische Therapie gemacht; das liegt mir einfach mehr.
F. Boencke: Ich glaube, man muss auch da wiederum unterscheiden, ob es um Psychotherapie innerhalb unserer Psychotherapiezeit geht oder um Psychotherapie mit psychiatrischen Patienten. Von der zeitlichen Aufteilung her würde ich sagen: Ich habe 50 % psychiatrische Patienten und 50 % Patienten, bei denen ich Psychotherapie mache. Da sind auch immer einige Analysen dabei, auch viele Kurztherapien oder Therapien bis 100 Stunden tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, vereinzelt auch Paartherapien …
G. Braun: … und Familientherapien.
F. Boencke: Das auch. Je nach Indikation mache ich vereinzelt auch EMDR oder imaginative Sachen, die ich relativ punktuell mit einbaue, also mal Fantasiereisen oder auch körpertherapeutische Sachen, aber eben sehr punktuell.
Ist Ihre Paar- und Familientherapie systemisch orientiert?
G. Braun: Systemisch. 1981 habe ich die Prüfung mit psychotischen Familien gemacht - damals habe ich im Landeskrankenhaus gearbeitet - mit Erstmanifestationen von Psychosen. Das hat mir immer viel Spaß gemacht. Selbst wenn sich so etwas nicht rechnen würde, beschert mir diese Arbeit doch viele gute Begegnungen. Das finde ich ganz wichtig, dass man auch auf diese Art Gewinn von der beruflichen Tätigkeit hat. Dann mache ich auch Gruppen mit manischen jungen Leuten. Die werden sonst nicht betreut; das ist einfach eine Lücke. Die profitieren davon nachgewiesenermaßen durchaus. Für diese Patienten gibt es sonst kaum therapeutische Angebote. Den Montagabend verbringe ich meine Arbeitszeit mit denen, und das hat sich immer gelohnt. Da habe ich jetzt nicht gerechnet, ob sich das wirtschaftlich lohnt. Das erhält mir aber die Freude an der Arbeit. Das Konto ist natürlich wichtig, aber das andere ist auch wichtig! Rein wirtschaftlich rechnet sich Familientherapie nicht.
Das Interessante ist auch, dass Sie aufgrund Ihrer Ausbildung und Erfahrung etwas in die Psychiatrie einbringen, was sich in der Versorgungs- und Finanzierungsstruktur so nicht findet. Sie arbeiten offensichtlich nicht streng schulenorientiert, sondern nutzen, was zum Psychotherapierepertoire gehört?
G. Braun: Ich denke, dass man einen Korb mit Sachen drin hat, die man im Laufe seines Lebens gesammelt hat. Ich kann mich dessen bedienen und sagen, so, jetzt sehe ich mir das an, und dafür nehme ich das oder das. Ich rühre nicht einmal kurz mit dem Löffel herum, sondern ich nehme etwas, das mir zur Verfügung steht, heraus, wenn es mir geeignet erscheint. Ich denke beispielsweise an eine Frau S. mit ihrem Baby, eine Flüchtlingsfrau. Sie klebt Bilder, weil sie kein Deutsch kann. Inzwischen hat sie eine viel bessere Beziehung zu ihrem Kind bekommen.
Sie machen die psychotherapeutische Versorgung der ersten Linie. Die Richtlinien sind offenbar nicht ganz an dem Bedarf der Versorgung der ersten Linie orientiert. Man muss sich das wohl erst mal ein bisschen zurechtbiegen, um es gebrauchen zu können.
H. Schönfelder: Macht das nicht jeder so in der Institutsambulanz oder die Psychologen mit ihrer Verhaltenstherapie? Die machen sicherlich auch oft Gesprächstherapie in Verbindung mit Verhaltenstherapie. Ich denke, wir verwenden zuerst einmal das, was wir können, und ich glaube, wir sehen immer danach, was der Patient in diesem Moment gerade braucht. Und dann versuchen wir, uns darauf einzustellen. Dann müssen wir aus unserem Repertoire, das sich im Laufe der Jahrzehnte angesammelt hat, aus dem Körbchen das herausnehmen, was gerade passt.
Wie sollte eine Ausbildung in Psychotherapie für den Psychiater, der diese Primärversorgung leistet, Ihres Erachtens aussehen? Was würden Sie in die Weiterbildungsrichtlinien schreiben, wenn Sie die Verfasser sein könnten?
G. Braun: Ich finde, er braucht ein solides organisches Wissen. Die erste Frage ist immer: organisch oder nicht. Die müssen Sie binnen kurzem entscheiden. Das finde ich mit das Schwerste an dem Beruf.
H. Schönfelder: Ebenso psychopharmakologisches Wissen! Das ist ständig gefragt. Psychologen schicken uns Patienten mit der Fragestellung, ob ein Patient Medikamente braucht, wie das mit der Suizidalität ist, oder ob der Patient auch in unserem psychiatrischen Fachbereich mitbehandelt werden muss.
K. Radau-Pfeil: Ich erlebe nicht ganz selten, dass ich Patienten die Empfehlung gebe, sich psychotherapeutisch behandeln zu lassen, gebe eine Überweisung mit und setze zugleich ein Medikament an. Dann kommen die Patienten nach vier oder sechs Wochen wieder und sind so gut stabilisiert, dass sie die Psychotherapie gar nicht mehr wahrnehmen wollen und es lieber bei psychiatrischen Kontakten so ein- oder zweimal monatlich belassen.
H. Schönfelder: Vielleicht brauchen wir etwas Neues, das es in der Ausbildung überhaupt noch nicht gibt. Mir gefällt von Grawe diese allgemeine Psychotherapie am besten, weil da sowohl die klärenden Methoden als auch die verhaltenstherapeutisch-systemischen Methoden mit enthalten sind. Wenn wir das hinkriegten, so etwas für die Praxis wirklich praktikabel zu machen, dann hätten wir etwas für unsere Ausbildung sehr Wichtiges. Ich denke, dass es genau das ist, was wir in der Praxis zum Teil auch schon machen, obwohl wir Grawe gar nicht gekannt haben. Aber das ist die Richtung, die uns am meisten weiterführen würde.
K. Radau-Pfeil: Ich habe eine psychodynamische Ausbildung in Verbindung mit einem imaginativen Verfahren, und ich vermisse für die eigene Arbeit eigentlich verhaltenstherapeutische Kenntnisse. Da hätte ich gerne noch eine Lücke gefüllt. Auch systemische Aspekte würde ich gerne besser beherrschen.
F. Boencke: Für meine Arbeit sind psychoanalytische und auch tiefenpsychologisch fundierte Sachen basal, auch für meine Identität als Psychiater und für mein therapeutisches Vorgehen neben allen organischen Abklärungen, die natürlich wichtig sind, ebenso wie Medikamente und ein pragmatisches Vorgehen. Wenn es aber darum geht, den Patienten in seinen Zusammenhängen zu begreifen, dann können Selbsterfahrung oder auch Psychoanalyse nicht schaden. Das heißt nicht, dass man dann auch psychoanalytisch arbeitet. Aber man erfasst die Art von Konfliktbewältigung von Patienten und auch die interaktionellen Seiten. Ich habe den Eindruck, dass viele Kollegen dafür wenig Gespür haben.
Sie sagen, dass Sie im Grunde genommen ein Modell bevorzugen würden, das relativ breit in seinen Anwendungsmöglichkeiten ist. Eine schulische Perspektive fokussiert immer. Offenbar sind die Anforderungen in Ihrem Primärversorgungsbereich doch komplexer als in einer ausgewiesenen Psychotherapiepraxis. Sie können Patienten ja nicht aussuchen, sondern müssen alle annehmen. Die Art von Integration à la Grawe wäre so etwas, was Sie sich für die Psychiatrie gut vorstellen könnten?
H. Schönfelder: Ich halte eine Lehranalyse und Selbsterfahrung für unbedingt notwendig, wenn man Psychotherapie macht. In der systemischen Therapie gibt es Leute, die meinen, man braucht das nicht. Im analytischen Bereich geht es ohne Lehranalyse überhaupt nicht. Wir müssen Übertragungs- und Gegenübertragungssituationen einschätzen können. Wenn wir das nicht können, können wir in der Praxis nicht arbeiten. Und das lernt man nur über Selbsterfahrung.
Wieweit ist die theoretische Orientierung wichtig für das praktische Handeln? Ist das für Sie eine wichtige Grundlage? Spielt das in Ihrer psychiatrischen Praxis eine Rolle? Oder stehen viel mehr pragmatische Aspekte im Vordergrund?
K. Radau-Pfeil: Ich denke schon, dass ich in meiner psychiatrischen Psychotherapie psychodynamische Aspekte regelhaft einfließen lasse. Auch bei Kurzkontakten schaue ich, wo ist da ein Konfliktfokus und konzentriere mich darauf. Da kann ich auch in einem Viertelstunden-, 20-Minuten- oder 30-Minuten-Kontakt viel bei den Patienten aufdecken oder auch klären und unterstützen. Ich möchte da nicht von Identität sprechen. Dafür habe ich zu viele Identitäten, die des Neurologen, die des Psychiaters, des Psychotherapeuten. Verankert bin ich aber schon in der psychodynamischen, tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie.
Dann wäre Ihres Erachtens für die psychiatrische und psychotherapeutische Primärversorgung ein breiteres Ausbildungsmodell erforderlich mit psychodynamischem Verständnis, mit systemischen Aspekten und mit verhaltenstherapeutischen Elementen?
G. Braun: Ja.
F. Boencke: Daran kommen wir nicht vorbei.
G. Braun: Ich habe zwei Jahre in der Ambulanz bei Herrn Dörner gearbeitet, weiß also, welche Patienten dahin gekommen sind. Das ist hier nicht grundsätzlich anders. Auch hier kommen Leute oder werden geschickt und haben nicht eine Demenz oder eine Schizophrenie, sondern haben eine Hyperthyreose oder sonst was. Und dafür muss ich ausgebildet seit, um das zu erkennen. Das ist ganz wichtig, dass man auch etwas von der Organmedizin versteht.
K. Radau-Pfeil: Und dann braucht man auch noch etwas von Sozialarbeit. In der Klinik hat man damit gelebt, dass der Sozialarbeiter bereitstand und die Verbindung zu ambulanten oder komplementären Versorgungssystemen hergestellt hat. Jetzt fragen mich die Patienten: Was muss ich machen, um eine ambulante Pflege zu bekommen, welche beruflichen Rehabilitationsmöglichkeiten gibt es, welche ambulanten Betreuungsformen, wenn ich in eine Wohngemeinschaft ziehen möchte? Auf welchen Sozialarbeiter soll ich zurückgreifen? Ich kann doch nicht alle zum sozialpsychiatrischen Dienst im Gesundheitsamt schicken!
F. Boencke: Ich freue mich jede Woche auf den Psychotherapievormittag. Das ist für mich ein Erholungstag, weil das die einzige Zeit ist, in der ich mich wirklich mal mit Muße, ohne Zeitdruck, ohne Notfallpatienten annehmen zu müssen, einer Patientin widmen und mich auf die Beziehung wirklich einlassen kann. Das ist eine Erholung gegenüber dem gestressten Psychiatrie- oder Neurologietag.
H. Schönfelder: Das war bei mir ähnlich. Ich fand das unbedingt notwendig, weil ich mich durch nichts habe stören lassen, keine Telefonate! Ich war in der Stunde nur für den Patienten da. Das war ganz anders in der psychiatrischen Sprechstunde mit den ganzen Turbulenzen, den ganzen Verschiebungen und Zeitverschiebungen und mit den vielen Zwischenanrufen von irgendwelchen Ämtern und anderen Anfragen. Das ist von der Arbeitsweise her sehr angenehm. Man muss sich ja sehr konzentrieren, wenn man Psychotherapie macht. Ich war dann auch kaputt anschließend. Aber das war eine andere „Kaputtheit” als nach der psychiatrischen Sprechstunde.
G. Braun: Ich kenne das auch gut.
H. Schönfelder: Das ist auch das, was mir Freude gemacht hat. Ich würde mir von heute aus rückblickend gesehen wünschen, mindestens zwei Methoden zu beherrschen, dass ich die psychoanalytische Seite und vielleicht die verhaltenstherapeutische Seite in erster Linie können möchte, dann vielleicht die systemische dazu. Das wäre das, was ich mir an Ausbildung wünschen würde.
F. Boencke: Ich würde nicht postulieren, dass jeder Psychiater einerseits Psychoanalytiker sein, andererseits verhaltenstherapeutisch ausgebildet sein müsste. Ich bin auch nicht verhaltenstherapeutisch ausgebildet. Ich glaube aber schon, einen Begriff von der Verhaltenstherapie so weit zu haben, um zu wissen, was da gemacht wird oder was man damit machen kann. Das scheint mir für die Ausbildung wichtig.
H. Schönfelder: Im Grunde genommen habe ich viel aus den Anträgen der Verhaltenstherapeuten gelernt, die jahrzehntelang über unsere Praxis mitgelaufen sind.
Haben Sie den Eindruck, dass es innerhalb Ihrer Berufsgruppe eine vernünftige Fortbildung gibt? Das ist eine Frage, die uns auch in Verbindung mit dem Programm unserer Zeitschrift beschäftigt. Wie ist die Fortbildung innerhalb der psychiatrischen Fachgruppe, gibt es eine ausreichend gute Psychotherapiefortbildung? Gibt es so etwas, dass man beispielsweise Paartherapie lernen kann oder mal ein Verhaltenstherapieseminar macht, eine Veranstaltung zu den Grundlagen einer Verhaltensanalyse oder zum tiefenpsychologischen Interview oder Übertragungsaspekten? Könnte sich in der Fortbildung etwas verbessern für Sie?
G. Braun: Ja, unbedingt.
H. Schönfelder: Ja! Da haben wir nur sehr wenige Angebote. Wir können nach Lindau fahren, oder wir können nach Langeoog fahren und uns etwas raussuchen. Das ist auch gut, aber ich vermisse im Grunde genommen auch ein Angebot vor Ort, wo man solche Dinge wie allgemeine Psychotherapie aufnehmen kann.
F. Boencke: Wenn man sich ansieht, was überwiegend angeboten wird, dann sind das halt Pharmafortbildungen, die pharmakologisch orientiert sind, allenfalls sozialpsychiatrisch, auch mal was zur Allgemeinmedizin oder über ärztliche Apparategemeinschaften. Aber psychotherapeutische Angebote von der Industrie gefördert sind selten.
G. Braun: Mir fällt spontan auch nichts ein.
Fehlt das?
G. Braun: Das fehlt. Die Angebote richten sich eher an Allgemeinärzte.
H. Schönfelder: Von Fortbildungen vor Ort weiß ich auch wenig. Aber ich habe mir die verschiedenen Methoden einfach mal angeschaut. Ich bin zum Beispiel in Wien gewesen und habe Herrn Frankl mal über Psychotherapie gehört. Das fand ich ganz faszinierend, auch wenn ich das in der Praxis nicht anwende. Oder ich habe mal in das Psychodrama oder die Gestalttherapie reingerochen. Auch mit dem katathymen Bilderleben habe ich mich beschäftigt, sogar relativ intensiv, weil ich früher bei Herrn Leuner in der Klinik gewesen bin. Ich kann mir mindestens ein wenig vorstellen, was die machen, was nicht heißt, dass ich deren Methodik unbedingt in der Praxis anwenden kann.
Gibt es Kooperation und Austausch? Überweist man sich Patienten wechselseitig?
H. Schönfelder: In unserer Praxis geht es überwiegend um Überweisungen an Verhaltenstherapeuten, an psychologische Praxen hier in Göttingen, mit denen wir jahrelang zusammenarbeiten. Ich glaube, das sind immer Leute, die man auch ein bisschen kennt. Ich arbeite auch mit den Institutsambulanzen ganz gerne zusammen, mit der Psychotherapie und Psychosomatik der Uniklinik, mit Tiefenbrunn und dem LKH Rosdorf.
Zwischen den beiden Berufsgruppen „Psychosomatische Medizin” und „Psychiatrie” gibt es wenig Verbindungen?
F. Boencke: Ich habe zwei Supervisionsgruppen. Was ich vermisse und was es auch nicht gibt, ist Supervision für psychiatrische Fälle. Die Nervenärzte arbeiten entweder überwiegend neurologisch und eben auch apparativ, und dann ist da viel Durchlauf, und es fehlt die Zeit, um sich psychotherapeutisch zu engagieren. Oder sie arbeiten voll und ganz psychotherapeutisch. Viele Nervenarztsitze hier in Göttingen sind mit Psychoanalytikern besetzt.
K. Radau-Pfeil: Der überwiegend psychiatrisch tätige Psychiater scheint langsam unterzugehen oder aus der Szenerie zu verschwinden und damit auch die Grundversorgung für Psychosekranke oder für die akut depressiv Erkrankten.
G. Braun: Es wachsen nur sehr wenige Psychiater nach.
Vielleicht können wir jetzt auf die Patientengruppen zu sprechen kommen, die auch psychotherapeutisch versorgt werden. Sie behandeln beispielsweise eine Gruppe mit jungen Manikern oder eine Familie mit einem psychosekranken Mitglied. Versorgen Sie beispielsweise auch chronisch schizophrene Patienten psychotherapeutisch?
G. Braun: Nein, chronisch Erkrankte nicht; in Gruppen einzelne und Angehörigenarbeit.
H. Schönfelder: Mit der psychotherapeutischen Versorgung von Psychosekranken habe ich persönlich Schwierigkeiten.
K. Radau-Pfeil: Kurze stützende Gespräche, das ja, schon.
G. Braun: Ja das schon, wir geben den Patienten nicht nur Spritzen.
K. Radau-Pfeil: Psychiatrische Gespräche, in die aber psychotherapeutische Kenntnisse mit einfließen, würde ich sagen.
F. Boencke: Ich denke an einen Patienten mit einer drogeninduzierten Psychose, der in Afrika dekompensiert und dann voll durchgeknallt zurückgebracht worden ist, der dann zunächst in der Universitätspsychiatrie medikamentös versorgt wurde, dann ist er zu mir gekommen, durchaus auch mit Gesprächsbedarf, die Lebensperspektive muss geklärt werden, dann war er noch drei Monate in Tiefenbrunn, ist dann wiedergekommen, und ich habe die ambulante Psychotherapie weitergemacht. Da trennt sich sozusagen die Spreu vom Weizen in dem Sinne, dass man schaut, welche psychotherapeutischen Möglichkeiten es gibt oder ob es da mehr um eine supportive Geschichte geht.
H. Schönfelder: Es geht um die schweren Fälle. Psychosekranke würde ich in erster Linie psychopharmakologisch behandeln. Ich trau' mich da psychotherapeutisch nicht ran, das ist mir zu schwierig, da fehlt mir auch die Erfahrung. Diese Patienten würde ich weiterüberweisen.
K. Radau-Pfeil: Ich betreue ein Heim der Wiedereingliederungshilfe im Harz mit 80 schwer psychisch und hirnorganisch Kranken. Die sehe ich einmal pro Woche. Da fungiere ich als Multiplikator. Ich betreue und supervidiere die Mitarbeiter. Darin sehe ich auch eine Form von Psychotherapie dieser Patientengruppe, eine indirekte Psychotherapie.
Würden Sie sagen, dass Sie dadurch, dass zu Ihrer Grundprofessionalisierung Psychotherapie gehört, auch die schweren Fälle im Grunde besser behandeln, auch dann, wenn Sie sie nur pharmakotherapeutisch behandeln oder wenn Sie als Personalberater in Erscheinung treten? Brauchen Sie also für diese Arbeit auch eine solide, breite Ausbildung in der Psychotherapie, und brauchen Sie Fortbildung in Psychotherapie?
Alle: Ja, unbedingt.
H. Schönfelder: Ohne geht es nicht. Ich glaube, wir können ohne gar nicht behandeln. Dann könnte ich mich ja auch wie früher hinsetzen und sagen, ich verordne meine Medikamente und frage die Symptome ab, und das ist es dann. Da fehlt dann Entscheidendes, das heute unbedingt notwendig ist. Das entspricht dem Anspruch heute nicht mehr. Auch die Patienten erwarten mehr. Manche Patienten sagen zwar, ich will nur ein Medikament, dann geht es mir wieder gut und mehr will ich nicht. Andere wissen aber auch gut Bescheid über Psychotherapie. Die Studenten hier wissen sehr genau Bescheid; die lesen im Internet nach und kommen dann mit ganz gezielten Anliegen. Dann kann man das Entsprechende auch in die Wege leiten, aber dazu brauche ich Wissen darüber und entsprechende Erfahrungen. Oder der Aufbau einer positiven Beziehung: Wir müssen ja erst einmal miteinander ins Gespräch kommen, in irgendeiner Form muss der Patient sich angenommen fühlen und das Gefühl haben, dass ich ihn verstehe. Dann kann es therapeutisch losgehen. Aber es geht ja nichts los, wenn ich jetzt nur irgendwie in nüchterner biologischer Orientierung Symptome abfrage.
Welche Bedeutung hat bei Ihnen die Psychotherapie mit psychiatrisch kranken Patienten im höheren Lebensalter?
G. Braun: Oh, ich habe fünf alte Damen!
Zusammen?
G. Braun: Nein, jeweils alleine. Die eine findet diese Gespräche so schön! Sie hat alle ihre Schwestern verloren, zwei sind dement gewesen, da gab es immer einen Gesprächsansatz. Sie bringt mir zu jeder zweiten Sitzung eine kleine Packung Kekse mit, in eine Serviette schluderig eingewickelt, weil sie findet, das gehört sich so. Sie sieht inzwischen nicht mehr so gut. Die Gespräche sind enorm bereichernd, für beide Teile.
Wie alt sind die Damen?
G. Braun: Meine älteste ist 92. Sie kommt nur noch selten, aber sie kommt immer noch. Sie wird inzwischen blind. Sie hat vier Söhne, die sich gut kümmern. Sie war Schneiderin und entsprechend ganz akkurat in allem. Sie hält auf sich, und das braucht sie. Eine andere hat ihre Söhne verloren, das ist eine besondere Geschichte, ganz beeindruckend. Die will ich immer dazu kriegen, dass sie das mal aufschreibt. Das lohnt die Mühe, die profitieren davon, wirklich! Das ist auch wichtig, dass man in einer Gesellschaft, die älter wird, so etwas hineinbringt.
K. Radau-Pfeil: Ich habe etliche ältere Damen, die regelmäßig zu psychiatrischen Gesprächen kommen, so in vier- bis sechswöchentlichen Abständen. Viele sind mit der Pflege ihres Mannes belastet, haben Verlusterlebnisse zu verkraften, Trennung und Scheidung der Kinder, oder den drogenabhängigen Enkel. Da gibt es vielerlei Gründe, die zu Dekompensationen führen.
Überwiegen bei den Patienten im höheren Lebensalter die Frauen? Sie sprechen vorwiegend von Patientinnen. Möglicherweise gibt es in der Generation noch Vorurteile gegenüber der Psychiatrie und Psychotherapie - vielleicht bei den Männern stärker als bei den Frauen?
F. Boencke: Ich denke, dass grundsätzlich, auch im jüngeren Lebensalter, mehr Frauen kommen. Im höheren Lebensalter gibt es für Frauen ganz spezifische Konfliktkonstellationen, die zum Psychiater führen: Da wird erst die Schwiegermutter gepflegt, dann der Schwiegervater, dann der Ehemann, und wenn der irgendwann mal stirbt, sind sie voll uneingestandener Wut und fühlen sich so verlassen, dass sie depressiv dekompensieren.
K. Radau-Pfeil: Es kommen auch Demenzpatienten in unsere Praxis. Nicht selten kommen sie einmal im Quartal, weil die Hausärzte die Medikamente nicht tragen wollen, und haben so wenigstens einmal im Quartal Kontakt zum Nervenarzt.
F. Boencke: Ich glaube, ein wichtiger Aspekt der Versorgung psychiatrischer Patienten in der Praxis ist auch, dass man sich mit diesen Patienten für lange Zeit festlegt. Wenn man beispielsweise einmal angefangen hat, einen chronisch Schizophrenen alle zwei Wochen zu betreuen, dann geht das über Jahre. Da stellt sich dann auch die Frage, wie gehe ich mit meinen eigenen Ressourcen um. Wenn ich sehr viele solcher Patienten annehme, sind irgendwann die Kanäle verstopft. Dann kann kein neuer Patient kommen, dann schmort man im eigenen Saft.
H. Schönfelder: Ich möchte noch einmal auf die alten Patienten zurückkommen. Ein wichtiger Aspekt ist, dass die gerne in die Praxis kommen auch deshalb, weil sie im Wartezimmer zusammensitzen und Kontakt haben und dann über ihre Krankheiten reden können und über ihre Situation. Die sitzen da gerne und warten und sind nicht darauf erpicht, gleich dranzukommen, sondern warten wirklich gerne. Da geht es um Kontakt- und Beziehungsaufnahme. Und das suchen sie auch beim Therapeuten. Es gibt viele ältere Damen, die dann auch immer wiederkommen und immer wieder den Kontakt suchen, und das aus ihrer einsamen Lage zu Hause heraus. Manche gehen auch in verschiedene Praxen. Zu uns kommen sie, glaube ich, besonders gerne, weil sie sich besonders gut verstanden fühlen, weil sie über sich reden können.
Das klingt so, als sei eine wichtige Funktion des niedergelassenen Psychiaters auch, solche Patienten durch sehr schwere Lebensphasen hindurch zu begleiten?
Alle: Ja, auch mit.
K. Radau-Pfeil: Ich denke, ein Großteil der Älteren kommt zunächst mal zum Neurologen beispielsweise wegen Schwindel oder Kopfschmerzen. Langfristig geht es darum, jemanden mit einer psychosomatischen Störung zu begleiten. Es sind über Jahrzehnte bestehende psychosomatische Beschwerden, die den Weg in die Praxis bahnen.
F. Boencke: Wenn man fragt, was die Psychotherapie in der psychiatrischen Praxis möglicherweise bedroht, dann finde ich nicht nur die finanziellen Aspekte wichtig. Was ich eigentlich noch bedrohlicher finde in den letzten beiden Jahren, dass es zunehmend Fragestellungen gibt, Patienten, die kommen, um Psychotherapie zu machen, bei denen es aber um ganz andere Dinge geht, um arbeitsrechtliche Fragestellungen, Hartz IV, Rentenbegehren, um Kündigungen, um Arbeitslosigkeit, Krankwerden an Arbeitslosigkeit, wo klar ist, dass das Problem tatsächlich die Arbeitssituation oder der Sozialabbau ist. Dann auch die vielen traumatisierten Kriegsflüchtlinge, denen mit Medikamenten nur wenig geholfen werden kann. Wo man sich als Psychiater schon gefordert sieht und gerne auch behandelt, aber wo die sprachlichen Voraussetzungen fehlen, oder die halt immer wiederkommen müssen und immer wiederkommen, das will man denen auch nicht verwehren, denn wenn sie nicht kommen, dann kriegen sie von den Ausländerbehörden reingebrezelt, dass sie nicht beim Arzt waren. Fragestellungen, die man eigentlich nicht lösen kann, sind häufiger geworden.
Von den ganzen strukturellen Problemen und den Finanzierungsfragen abgesehen: Wie ist das, hat ein Psychiater, der so arbeitet, mit einer guten psychotherapeutischen Kompetenz, manchmal Probleme, weil er denkt, was die Psychiater in ihrer Praxis machen, ist ja gar keine richtige Psychotherapie? Mit den alten Damen wird nur geredet, mit anderen wird so und so umgegangen … Ist das ein Problem, wie selbstbewusst man seine anspruchsvolle Arbeit auch gegen den Strich der Psychotherapierichtlinien bürstet, vielleicht auch ein Selbstachtungsproblem oder ein Problem gegenüber den Analytikern, die da sitzen, und die Verhaltenstherapeuten sitzen da und machen Richtlinienpsychotherapie? Die können das alles so wunderbar und sitzen in ihrer Praxis und die Patienten kommen auf Bestellung … Wie ist das für einen Psychiater an der Front, der Primärversorgung macht, viel psychotherapeutische Kompetenz hat, fragt der sich häufiger, ob er eigentlich richtige Psychotherapie macht?
H. Schönfelder: Wenn wir uns selbst bewerten und uns das fragen, dann kann das schon schwierig sein. Am Anfang, wenn man sich gerade niedergelassen hat und anfängt, ist man ja doch noch relativ unsicher. Dann lernt man so eine Methode, macht zum Beispiel eine analytische Ausbildung, und dann sitzt man in der Praxis und denkt, machst du das denn jetzt richtig, bist du gut genug dazu, kannst du das überhaupt, was wäre, du würdest das irgendwo präsentieren, was du machst, was würden die dann sagen? Solche Fragen stellt man sich dann natürlich. Ich glaube, wenn man über Jahrzehnte so etwas macht, wird man im Laufe der Zeit sicherer, und man fragt sich nicht sosehr mehr, ob diese Methode nun ganz schulmäßig richtig ist, weil man dann manchmal Dinge macht, die man früher nicht getan hat. Ich habe beispielsweise einen Dozenten aus Polen, der kam sehr depressiv zu mir, und es stellte sich heraus, dass er hier in Göttingen - er war für ein halbes Jahr hier - völlig alleine war; sein deutscher Professor hier war in Amerika, und er hatte überhaupt keinen Menschen als Kontaktperson. Da habe ich etwas gemacht, was ich noch nie gemacht hatte, ich habe den zu mir nach Hause eingeladen und ihm gesagt, er solle doch kommen, meine Frau würde sich bestimmt freuen und so weiter. Dann haben wir den zu Hause bei uns gehabt, und der war ganz glücklich. Wir haben den zwei oder drei Mal zu uns eingeladen, der war von Stund' an wieder ein anderer Mensch. Da war nichts mehr mit Depression. Vorher gehen einem viele Fragen durch den Kopf, und dann habe ich in dem Moment gesagt, jetzt mache ich das; und das war eine richtige Entscheidung. Am Anfang hätte ich das nicht gemacht, ich hätte mir bestimmt gesagt, das darfst du doch nicht machen.
Das dürften Sie nie im kasuistischen Seminar erzählen.
H. Schönfelder: Zum Beispiel. Diese Frage, ob das eigentlich schulmäßig richtig ist, oder mache ich das falsch, die tritt im Laufe der Zeit ein bisschen zurück.
Besteht denn die Gefahr, dass man sich mit solcher schulengebundenen Kritik identifiziert und die zur Selbstkritik macht? Oder wird das eigene Tun durchaus selbstbewusst vertreten, auch offensiv?
H. Schönfelder: Ich glaube, wenn wir uns näher kommen in diesem Gespräch, fällt das leichter. Wir haben zu wenig Kontakt miteinander, darum hat man immer Vorbehalte, was denken die über uns. Vielleicht kann das behoben werden, wenn man mehr miteinander redet.
Sie verwenden psychotherapeutische Kompetenz in Feldern, wo man nicht primär Psychotherapie macht, aber wo das hilfreich ist. Warum tragen niedergelassene Psychiater das nicht viel offensiver nach außen und sagen, das ist eigentlich eine sehr breite, relevante Versorgung, die besser honoriert werden müsste, die viel mehr Fortbildung haben müsste, die auch im Fokus der Gesellschaften mehr hervorgehoben werden müsste?
G. Braun: Ich würde schon vertreten, was ich mache. Ich habe genug Fehler gemacht, um zu wissen, dass ich das, was ich jetzt mache, auch nach außen vertreten kann. In den interdisziplinären Zirkeln, in denen ich arbeite, tue ich das auch.
F. Boencke: Ich glaube auch, dass Psychiatrie und Psychotherapie - obwohl zu einem Facharzt gehörig - vielleicht doch verschiedene Wurzeln haben. Die psychotherapeutischen Wurzeln kommen, würde ich meinen, nicht unbedingt aus der Psychiatrie. Man muss ja auch fragen, ein bisschen ketzerisch, ob in diesem ganzen Facharztwirrwarr mit seinen Konkurrenzen die psychiatrische Ausbildung wirklich kompetente Psychotherapeuten entlässt. Die meisten Kollegen waren nie auf einer psychotherapeutischen Station.
Was erwarten Sie für die Zukunft, wie das gehen wird mit der Psychiatrie und der Psychotherapie? Was ist Ihre Zukunftsvorstellung, ihre Prognose oder Vision?
G. Braun: Ich sehe das so, dass Psychiater sehr viel Ähnlichkeit mit Hausärzten haben, die auch die Familien kennen, die selektieren müssen. Und wenn man die Geschichte der Hausärzte anguckt, gibt es immer so Wellenbewegungen. Ich glaube, dass es mit unserem Beruf auch so gehen wird. Im Moment gibt es nicht viel Nachwuchs. Das wird sich ändern, das wird so nicht bleiben, weil irgendwann diese Patienten betreut werden müssen. Man kann diesen Berufsstand nicht einfach zerschlagen. Ich arbeite jetzt über 30 Jahre, habe noch gelernt, dass man mit einem Psychotiker nicht spricht, weil das nichts bringt. Ich hatte einen Oberarzt, der mir sehr viel beigebracht hat über Stupor zum Beispiel, ein wunderbarer Lehrer, der hat mit Patienten gar nicht gesprochen, der hat mir seine Beobachtungen mitgeteilt und mir gutes Handwerkszeug vermittelt. Heute bin ich meilenweit davon weg. Da hat es Entwicklungen gegeben. Ich glaube, der Beruf ist momentan nicht attraktiv, genauso wenig, wie der Beruf des Hausarztes im Moment attraktiv ist. Die Hausärzte werden momentan beworben; vielleicht wird auch der Psychiater eines Tages beworben. Im Osten kriegt man schon ganze Häuser angeboten, wenn man sich jetzt da niederlässt.
H. Schönfelder: Ich erwarte nicht, dass der Psychiater wegfällt. Das ist nicht möglich, der wird gebraucht. Ich denke, das ist eine ganz eigene Fachrichtung. Ich glaube auch nicht, dass wir uns zurückentwickeln, so wie früher diese alten Psychiater, die zum Teil sehr rigoros mit ihren Patienten umgegangen sind und eigentlich wenig von Psychotherapie verstanden haben. Ich denke, das ist nicht die Linie, die wir erwarten. Ich denke schon, dass wir richtig liegen, wenn wir damit rechnen, dass wir auch in Zukunft in der psychiatrischen Praxis psychotherapeutisch arbeiten. Das geht gar nicht anders. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich das umkehrt. Ich rechne eher damit, dass das ausgebaut wird und dass manches mit solchen Neuentwicklungen wie etwa von Grawe vielleicht besser zu machen ist, dass das die Zukunft ist.
Liegt die Zukunft auch in dem „Psychotherapie in der psychiatrischen Praxis am Mittwochnachmittag-Modell” oder wo anders?
H. Schönfelder: Das ist eine gute Sache, ein sehr schönes Modell, dass wir immer die ersten sind, die entscheiden müssen, ob ich den jetzt psychotherapeutisch behandeln kann, oder ob ich einen Patienten woanders hin überweisen muss, wird er stationär behandelt, kommt er zum Psychologen, zu irgendeinem anderen, braucht der etwas, was ich nicht kann oder kann ich es selber versuchen? Auch die Erstbegegnung ist immer Psychotherapie!
Es gibt offenbar zwei Arten von Psychotherapie in der psychiatrischen Praxis: Das eine könnte man nennen „die Psychotherapeutisierung psychiatrischen Handelns”, und das andere könnte man vielleicht nennen „Psychotherapie als eine Fachmethode für die Behandlung bestimmter Patienten”?
K. Radau-Pfeil: Ich habe vor einem Dreivierteljahr eine Praxis übernommen und hatte vorher als Vertreter Erfahrungen gesammelt. Ich bin zunächst mal angetreten mit dem Elan aus der Klinik, akut kranke Patienten auch intensiv zu betreuen und die durch Krisen hindurch zu begleiten. Ich habe als Weiterbildungsassistent in der Praxis und jetzt als Selbstständiger ganz schnell gelernt, dass das in den meisten Fällen kaum geht. In der Regel, wenn ich spüre, ein Patient braucht eine intensivere Betreuung, verweise ich den an einen niedergelassenen Psychotherapeuten oder schicke ihn in die Klinik, weil eine psychotherapeutisch fundierte Akutbehandlung in den ersten Wochen einer Krise von der Praxisstruktur her, so wie sie bei mir ist, nicht möglich ist. Ich habe einen Terminplan, der drei Wochen im Voraus dicht ist. Vielleicht ist das Folge meiner Unerfahrenheit als niedergelassener Arzt. Wir haben jetzt betont, wie viel Psychotherapie wir einbringen; ich muss sagen, als Berufsanfänger bin ich erst mal enttäuscht, wie wenig intensive Begleitung rein vom Organisatorischen her und vom Kostenfaktor her tatsächlich möglich ist, auch wenn ich den Schritt in die Praxis nicht bereue.
G. Braun: Wenn man die Apparateuntersuchungen macht, muss man anders arbeiten, weil man dafür Arbeitskräfte braucht, und das habe ich nicht gemacht. Und deswegen ist meine Art der Praxis anders als die der Kollegen. Wir arbeiten jetzt halt mehr psychiatrisch und psychotherapeutisch mit einem kleinen neurologischen Anteil. Diese Apparate muss …
… müssen sich amortisieren?
G. Braun: Ja ja, klar.
K. Radau-Pfeil: Ich bin gerne Neurologe, von daher kompensiere ich das wieder.
Das führt wieder zu der strukturellen Frage. Wenn man das mal mit dem HNO-Arzt vergleicht: Das ist ein sowohl konservatives wie operatives Fach. Könnte man das mit der Psychiatrie vergleichen? Sie machen im Grunde genommen eine Primärversorgung, und dann machen Sie auch Operationen. Sie haben dafür einen Nachmittag, wo Sie sich dafür sozusagen einen Raum geschaffen haben, um speziell diese Patienten zu operieren, also psychotherapeutisch zu arbeiten. Wäre das das Modell?
F. Boencke: Und man delegiert Operationen, auch im Verhaltenstherapiebereich.
Und manche HNO-Ärzte haben drei Nachmittage für Operationen.
F. Boencke: Ich möchte an einer Stelle ein bisschen warnen. Die Frage ist ja auch, ob wir hier nicht romantische Außenseiter sind. Wenn man jetzt die Psychiatrie ansieht, dann ist das vor allem biologische Psychiatrie, die boomt, dann sind das die Konzepte der Angstambulanz mit allen Vor-, aber auch Nachteilen, wo dann eben gesagt wird, hier, das muss pragmatisch gehen, dann gibt es ein Medikament, und dann gibt es vielleicht ein bisschen Verhaltenstherapie, und geheilt ist die Angststörung - scheinbar - oder auch: zehn Stunden Psychotherapie. Wenn bis dann nichts passiert, dann lassen wir das. Diese pragmatische und scheinbar effektive Psychiatrie ist doch wahrscheinlich das, was kommen wird.
In die Richtung entwickelt sich die Psychiatrie?
F. Boencke: Da sehe ich die Richtung! Ich denke, da geht sie hin. Das werden wir hier nicht aufhalten können. Das andere ist, das wäre zu wünschen, dass wir einen Facharzt für Psychiatrie und echte Psychotherapie hätten, mit einer entsprechenden Ausbildung. Man sagt zwar, Psychiatrie und Psychotherapie. Das wäre zumindest vom Optischen her fifty-fifty. Das ist es natürlich nicht, das werden die Psychiater auch nie tolerieren, dass das fifty-fifty wird. Obwohl das tatsächlich zu wünschen wäre, ja, halbe, halbe.
Der durchschnittliche Psychiater oder die durchschnittliche Psychiaterin mit einer ganz normalen Ausbildung scheinen sich eher zurückzuziehen aus der Psychotherapie.
F. Boencke: Na ja, die Behandlung von Angststörungen beispielsweise entwickelt sich sehr stark in Richtung biologische, psychopharmakologische Behandlung. Das scheint auch politisch gewollt zu sein, die möglichst kurze, pragmatische Mindestversorgung.
G. Braun: Aber die Patienten stimmen auch mit den Füßen ab. Vieles dient wirklich nur der Profilierung in so einer Universitätsstadt. Ich weiß nicht, was es schon alles für Ambulanzen hier gab, alles Mögliche, Angst, Tinnitus … Als das mit dem Tinnitus losging, dann gab es plötzlich eine Tinnitusgruppe. Die gibt es nicht mehr. Das sind immer so Dinge, die kommen und gehen. Wir bleiben aber hier, noch.
F. Boencke: Ja, gut. Aber die Frage ist doch, ob wir hier ein kleiner Zipfel sind. Wenn wir die Entwicklung in der Psychiatrie insgesamt begucken, geht die doch in eine ganz andere Richtung, und auch die politische Entwicklung befördert nicht die Versorgung psychisch Kranker.
Vor etwa 30 Jahren gab es eine Generation von Psychiatern, die sich auf die Fahnen geschrieben hatte, die Psychotherapie in die Psychiatrie zu tragen. Kehren wir heute also auf einem höheren Niveau wieder in eine Zeit zurück, in der erneut nur die Biologie vorne ansteht, so wie vor 30 oder 35 Jahren die halbe psychiatrische Welt per Immunelektrophorese nach irgendeinem schizophrenogenen Globulin im Liquor geforscht hat?
H. Schönfelder: Das ist jetzt, glaube ich, auch wieder so eine Welle. Da steht jetzt so viel Psychopharmakologie im Vordergrund, und die ganzen Hypothesen, die Symptome auf bestimmte Hirnzentren zu beziehen, die ganzen bildgebenden Verfahren … Das ist nur eine bestimmte Richtung, die, das glaube ich, zwar bleiben wird, aber die ihre Bedeutung nicht mehr so wird ausdehnen können. Ich denke, wenn man mit Langzeittherapien arbeitet, dann weiß man, dass darüber auch die meisten Wirkungen zu erzielen sind, das sollte man nicht vergessen. Darum glaube ich, dass auch die Psychotherapie in der Psychiatrie weiter eine ganz große Rolle spielen wird. Und ich denke noch eines, dass wir vielleicht sehr viel mehr kooperieren müssen in Zukunft, dass wir uns nicht mehr sosehr als einzelne Psychiater sehen können, sondern dass wir zusammenarbeiten müssen, ob das nun mit den praktischen Ärzten ist, mit Institutionen, ob das sich auf Notfälle bezieht oder andere, dass wir uns mit verschiedenen Richtungen zusammensetzen und was Gemeinsames tun müssen. Ich glaube, das ist die Zukunft. Ich glaube, es geht um solche Netzwerke.
G. Braun: Im Kleinen gibt es jetzt die Qualitätszirkel, die gibt es ja auch interdisziplinär. Eines der übergeordneten Themen ist beispielsweise Schlaf. Da läuft das schon ein bisschen so. Da gibt's das in ganz kleinen Ansätzen. Das könnte man auch versuchen mehr auszubauen, einfach dass das bewusster wird.
Es gibt viele Psychotherapie-Fallseminare oder Balint-Gruppen für Allgemeinmediziner. Warum gibt es so wenige psychiatrische Fallseminare, in denen die Problemfälle besprochen werden können?
F. Boencke: Oder verknüpfende Aspekte wie beispielsweise Fragen zur Psychodynamik der Medikamentenverordnung.
Genau.
H. Schönfelder: Obwohl das nicht unbedingt zur Psychotherapie gehört, erzähl' ich zum Schluss noch kurz von einer Patientin, die ich sehr lange betreut habe und die jetzt noch weiterbetreut wird. Das ist eine Patientin mit einem Anfallsleiden und einer leichten Intelligenzminderung. Die bringt in ihrer Tasche immer etwa zehn Hasen mit in die Praxis, also nicht lebende, sondern Stoffhasen.
K. Radau-Pfeil: So Handpuppen.
H. Schönfelder: Diese Hasen haben Namen bekommen, u. a. von der Dame, die bei uns im EEG arbeitet, ein anderer trägt meinen Vornamen Hanno. Ich weiß nicht, ob inzwischen dein Name jetzt auch da steht?
K. Radau-Pfeil: Nein, mein Name ist noch nicht auf einem Hasen.
H. Schönfelder: Da gibt es immer so ein Ritual in der Praxis. Wenn die Patientin ins Sprechzimmer kommt, dann packt sie ihre Hasen aus, dann müssen wir jeden Hasen einzeln begrüßen, persönlich per Handschlag, und dann müssen wir einen Hasen mit zur neurologischen Untersuchung nehmen, jedes Mal einen anderen, dem dann die Reflexe geklopft werden und so weiter. Und das endet auch wieder so, dass das Ritual der Verabschiedung abgewickelt wird, und beim Rausgehen ist es bei uns beiden im Laufe der Jahrzehnte dazu gekommen, dass wir uns kurz in die Arme nehmen. Damit möchte ich ausdrücken, dass das auch ein psychotherapeutisches Element ist, etwas, was wir ja sonst überhaupt nicht tun und was verboten ist, zumindest in den Analysen, das hat hier eine ganz wichtige Funktion. Ich denke, die Patientin fühlt sich zugehörig, sie fühlt sich angenommen und hat keine Angst. Irgendwo ist da etwas, was uns verbindet. Sie weiß genau, da gehöre ich hin, der mag mich, da kann ich hingehen. Vielleicht gehört das ja nicht hierher, ich weiß es nicht.
K. Radau-Pfeil: Die Hasen gehören zum festen Patientenstamm, umarmt habe ich sie zwar noch nicht, aber …
G. Braun: … in zehn Jahren.
Korrespondenzadressen:
Dr. med. Fritz BoenckeFacharzt für Psychiatrie, Psychoanalyse, Psychotherapie
Bühlstraße 28 A
37073 Göttingen
Gisela BraunFachärztin für Neurologie, Psychiatrie, Psychotherapie
Bühlstraße 28 A
37073 Göttingen
Dr. med. Klaus Radau-PfeilFacharzt für Neurologie, Psychiatrie, Psychotherapie
Nikolausberger Weg 36
37073 Göttingen
Dr. med. Hanno SchönfelderNervenarzt/Psychotherapie/Psychoanalyse
Steinbreite 12
37085 Göttingen